3

Als sie um die Ecke bog, wäre sie fast in seine Beine gelaufen, so leise ging er. Sie sah an seinem langen Silbergewand hinauf bis zu seinem Gesicht, weit oben in der Luft.

»Giller! Hast du mich erschreckt!«

Seine Hände steckten jeweils im anderen Ärmel. »Tut mir leid, Rachel. Ich wollte dir keine Angst einjagen.« Er blickte rechts und links den Flur hinunter, dann hockte er sich hin. »Was tust du gerade?«

»Ich muß etwas erledigen«, verriet sie ihm mit einem tiefen Seufzer. »Prinzessin Violet hat gesagt, ich soll die Köche für sie ausschimpfen, dann soll ich zu den Waschfrauen gehen und ihnen sagen, daß sie einen Soßenfleck auf einem ihrer Kleider entdeckt hat und daß ihr das nie passieren würde, also müssen sie es getan haben, und sollte sie jemals herausfinden, daß sie das noch einmal tun, läßt sie ihnen die Köpfe abschlagen. Ich will ihnen das nicht sagen, weil sie nett sind.« Sie berührte die hübsche Silberborte am Ärmel von Gillers Umhang. »Aber sie hat gesagt, wenn ich es nicht tue, kriege ich mächtigen Ärger.«

Giller nickte. »Nun, tu einfach, was sie gesagt hat. Ich bin sicher, die Waschfrauen wissen, daß du dir das nicht ausgedacht hast.«

Rachel blickte in seine großen, dunklen Augen. »Jeder weiß, daß sie sich ständig ihre Kleider selber mit Soße bekleckert.«

Giller lachte stumm. »Du hast recht. Ich habe es selbst schon gesehen. Aber es bringt kein Glück, schlafende Hunde zu wecken.« Sie verstand nicht, was er meinte, und verzog das Gesicht. »Das bedeutet, du bekommst Ärger, wenn du Prinzessin Violet darauf aufmerksam machst, also ist es am besten, du hältst den Mund.«

Rachel nickte. Sie wußte, das stimmte. Giller blickte wieder den Flur hinauf und hinunter, aber es war niemand sonst in der Nähe.

Er beugte sich vor und flüsterte: »Tut mir leid, daß ich nicht mit dir sprechen und mich erkundigen konnte. Hast du deine Kummerpuppe gefunden?«

Sie nickte und mußte lächeln. »Vielen Dank, Giller. Sie ist wunderbar. Ich bin noch zweimal rausgeschmissen worden, seit du sie mir gegeben hast. Sie hat mir gesagt, ich darf nicht mit dir sprechen, es sei denn, du sagst, es wäre sicher. Also habe ich einfach gewartet. Wir haben geredet und geredet, und ich fühle mich schon viel besser.«

»Da bin ich aber froh, Kind.« Er strahlte.

»Ich habe sie Sara genannt. Eine Puppe braucht einen Namen, weißt du.«

»Tatsächlich?« Er zog eine Braue hoch. »Das wußte ich gar nicht. Nun, Sara ist ein hübscher Name für sie.«

Rachel strahlte. Sie war froh, daß Giller der Name ihrer Puppe gefiel. Sie legte ihm einen Arm um den Hals und sagte in sein Ohr: »Sara hat mir auch ihren Kummer erzählt«, flüsterte sie. »Ich hab’ ihr versprochen, dir zu helfen. Ich wußte gar nicht, daß du auch fortlaufen willst. Wann können wir fort, Giller? Prinzessin Violet macht mir solche angst.«

Sie umarmte ihn, und er strich ihr mit seiner großen Hand über den Rükken. »Bald, Kind. Aber zuerst müssen wir einiges vorbereiten, damit wir nicht erwischt werden. Wir wollen doch nicht, daß uns jemand folgt, findet und zurückbringt, oder?«

Rachel schüttelte, an seine Schulter gelehnt, den Kopf. Dann hörte sie Schritte. Giller hatte sie schon gehört. Er erhob sich und sah sich um.

»Rachel, es wäre sehr schlecht, wenn man uns miteinander sprechen sieht. Jemand könnte … das mit der Puppe herausfinden. Mit Sara.«

»Ich gehe jetzt besser«, sagte sie hastig.

»Keine Zeit. Drück dich an die Wand und zeige mir, wie tapfer und still du sein kannst.«

Sie tat, was er gesagt hatte, und er stellte sich vor sie und versteckte sie hinter seinem Umhang. Rachel hörte das Klirren von Rüstungen. Nur irgendwelche Wachen, dachte sie. Dann hörte sie das leise Kläffen. Der Hund der Königin! Es mußte die Königin mit ihrer Garde sein! Wenn die Königin herausfand, daß sie sich hinter dem Umhang des Zauberers versteckte, säßen sie schön in der Klemme. Vielleicht fand sie auch das mit der Puppe heraus. Sie biß die Zähne zusammen und drückte sich noch tiefer in die dunklen Falten. Der Umhang bewegte sich leicht, als Giller sich verbeugte.

»Majestät«, meinte Giller, als er sich wieder aufrichtete.

»Giller!« fauchte sie mit ihrer fiesen Stimme. »Was schleichst du hier oben herum?«

»Herumschleichen, Majestät? Meines Wissens stehe ich in Euren Diensten, um dafür zu sorgen, daß niemand hier herumschleicht. Ich habe lediglich das magische Siegel an der Juwelenkammer überprüft, um mich zu vergewissern, daß sich niemand daran zu schaffen gemacht hat.« Rachel hörte, wie der kleine Köter den Saum von Gillers Umhang beschnüffelte. »Wenn es Euer Wunsch ist, Majestät, überlasse ich die Dinge dem Schicksal, und stelle keine Nachforschungen an, wenn mich etwas besorgt.« Der kleine Köter kam um den Umhang herumgelaufen, sie konnte sein Schnaufen hören. Wenn er doch bloß verschwände! »Wir alle werden abends zu Bett gehen und in einem schlichten Gebet die guten Seelen darum bitten, daß sich mit Vater Rahls Eintreffen alles zum Besten wendet. Und sollte etwas nicht in Ordnung sein, nun, dann können wir einfach sagen, wir wollten nicht, daß hier irgend jemand herumschleicht, also haben wir nicht nachgesehen. Vielleicht hat er Verständnis dafür.«

Der kleine Köter fing an zu knurren.

»Reg dich nicht unnötig auf, Giller, ich habe doch nur gefragt.« Rachel sah, wie sich die kleine schwarze Schnauze unter den Saum schob. »Mein Kleiner, was hast du da gefunden? Was ist denn, mein Kleiner?«

Der Köter knurrte und bellte einmal kurz. Giller trat ein Stück zurück und drückte Rachel an die Wand. Das Mädchen versuchte, an Sara zu denken, und wünschte sich, sie wäre in diesem Augenblick bei ihr.

»Was gibt’s, mein Süßer? Was riechst du da?«

»Ich fürchte, Majestät, ich habe mich auch in den Ställen herumgetrieben. Sicherlich riecht Euer Hund das.« Gillers Hand fuhr dicht neben ihrem Kopf unter den Umhang.

»In den Ställen?« Die Fiesheit war noch nicht ganz aus ihrer Stimme gewichen. »Was in aller Welt könnte dich in die Ställe geführt haben?« Rachel hörte, wie ihre Stimme lauter wurde. Die Königin hatte sich vorgebeugt, um ihren Hund aufzuheben. »Was machst du da, Schatz? Was soll das?«

Rachel nuckelte am Saum ihres Kleides, um sich nicht durch ihr Zittern zu verraten. Giller nahm die Hand aus dem Umhang. Rachel sah, daß er irgend etwas zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Der Köter schob seinen Kopf unter den Umhang und begann zu kläffen. Giller öffnete die Finger, und glitzernder Staub rieselte auf den Kopf des Hundes. Der Hund fing an zu niesen. Dann sah Rachel, wie die Hand der Königin ihn fortzog.

»Na, na, mein kleiner Schatz. Wird ja alles wieder gut. Armes, kleines Ding.« Rachel hörte, wie sie die Schnauze des Köters küßte, ständig tat sie das. Schließlich fing auch sie an zu niesen. »Wie sagtest du gerade, Giller? Was hat ein Zauberer in den Ställen zu suchen?«

»Wie ich gerade sagte, Majestät.« Auch Gillers Stimme konnte ganz schön gemein klingen, doch der der Königin gegenüber fand Rachel sie fast komisch. »Angenommen, Ihr wärt ein Mörder und wolltet Euch in das Schloß einer Königin schleichen, um ihr einen dicken, fetten Pfeil in den Wanst zu jagen, was meint Ihr, würdet Ihr einfach am hellichten Tag durch das Haupttor spaziert kommen? Oder würdet Ihr mit Eurem Langbogen eher auf einem Karren fahren, versteckt vielleicht unter einem Heuhaufen oder ein paar Säcken? Um Euch dann nachts aus den Ställen zu schleichen?«

»Nun … ich … na ja, meinst du es gibt … hast du irgendwas gefunden?«

»Aber da Ihr nicht wollt, daß ich in den Ställen herumschleiche, werde ich das wohl auch von meiner Liste streichen! Wenn Ihr nichts dagegen habt, möchte ich dann aber von jetzt an in der Öffentlichkeit in deutlicher Entfernung von Euch stehen. Ich möchte nicht im Weg sein, wenn irgendwelche Untertanen aus der Ferne ihre Liebe zur Königin bezeugen wollen.«

»Zauberer Giller« — jetzt wurde ihre Stimme richtig nett, ganz so, als spräche sie zu ihrem Hund — »bitte verzeih. Ich war in letzter Zeit ein wenig gereizt, schließlich trifft Vater Rahl schon bald ein. Ich möchte nur, daß alles bestens läuft, dann werden wir alles erreichen, was wir wollen. Ich weiß, dir liegt nur mein Wohlergehen am Herzen. Bitte laß dich dabei nicht stören und vergiß die vorübergehende Torheit einer Dame.«

»Wie Ihr wünscht, Majestät.« Er verbeugte sich.

Die Königin eilte niesend weiter, den Flur entlang. Doch dann hörte Rachel, wie ihr trampelnder Schritt und kurz darauf das Klirren der Rüstungen abrupt verstummte.

»Übrigens, Zauberer Giller«, rief sie zurück. »Habe ich dir das schon gesagt? Ein Bote war hier. Vater Rahl wird früher kommen als erwartet. Viel früher. Und zwar schon morgen. Natürlich erwartet er das Kästchen, um das Bündnis zu besiegeln. Bitte kümmere dich darum.«

Gillers Bein zuckte so stark, daß er Rachel fast umgestoßen hätte. »Selbstverständlich, Majestät.« Er verbeugte sich ein zweites Mal.

Giller wartete, bis die Königin verschwunden war, dann packte er Rachel mit seinen großen Händen und klemmte sie sich unter den Arm. Seine Wangen waren nicht rot wie sonst, sondern blaß. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, und sie wußte sofort, daß sie still sein mußte. Wieder sah er sich verstohlen in dem Flur um.

»Morgen!« murmelte er vor sich hin. »Verflucht seien die Seelen. Ich bin noch nicht soweit.«

»Was ist denn, Giller?«

»Rachel«, flüsterte er und schob ihr die dicke Hakennase ganz dicht vors Gesicht. »Befindet sich die Prinzessin im Augenblick in ihrem Zimmer?«

»Nein«, antwortete Rachel flüsternd. »Sie ist ausgegangen, um einen Stoff für ein neues Kleid auszusuchen. Für Vater Rahls Besuch.«

»Weißt du, wo die Prinzessin ihren Schlüssel für die Juwelenkammer aufbewahrt?«

»Ja. Wenn sie ihn nicht bei sich hat, bewahrt sie ihn im Schreibtisch auf. In der Schublade an der Fensterseite.«

Er machte sich auf den Weg zu Prinzessin Violets Zimmer. Auf den Teppichen waren seine Schritte so leise, daß Rachel sie nicht hören konnte. »Wir ändern den Plan, Kind. Wirst du tapfer sein? Für mich und für Sara?«

Sie nickte. Dann schlang sie ihm die Arme um den Hals, um sich festzuhalten. Er rannte fast. Er lief an sämtlichen Holztüren mit den Spitzbögen vorbei, bis er zu der größten kam, einer Doppeltür hinten in einem kleinen Gang, eingefaßt von Steinschnitzereien. Das Zimmer der Prinzessin. Dort drückte er Rachel fest an sich.

»Also«, flüsterte er. »Du gehst hinein und holst den Schlüssel. Ich bleibe draußen und passe auf.«

Er setzte sie ab. »Beeil dich, los«, sagte er und schloß die Tür hinter ihr.

Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen das Sonnenlicht herein. Niemand war im Zimmer. Keine der Dienerinnen machte sauber. Das Feuer war heruntergebrannt. Die Diener hatten noch kein neues für heute abend angezündet. Das riesige Himmelbett der Prinzessin war bereits gemacht. Rachel mochte den Bettbezug mit all den hübschen Blumen. Sie hatte sich immer gefragt, wozu die Prinzessin so ein großes Bett brauchte. Es reichte für zehn. Bei ihr zu Hause schliefen sechs Mädchen zusammen in einem Bett, das halb so groß war wie dieses, und das Bettzeug war weiß. Wie sich das Bett der Prinzessin wohl anfühlte? Nie hatte sie auch nur darauf gesessen.

Giller hatte gesagt, sie sollte sich beeilen, also durchquerte sie das Zimmer, lief über das Fell zu der polierten Kommode mit dem hübschen Astlochmuster im Holz. Sie steckte die Finger durch den goldenen Griff und zog die Lade auf. Es machte sie nervös, obwohl sie es früher schon getan hatte, wenn die Prinzessin sie nach dem Schlüssel geschickt hatte. Aber noch nie hatte sie es ohne Anordnung der Prinzessin getan. Der große Schlüssel für die Juwelenkammer lag in dem roten Samtetui, gleich neben dem kleinen Schlüssel für ihren Schlafkasten. Sie steckte den Schlüssel in die Tasche, schob die Lade zu und vergewisserte sich, ob sie ganz geschlossen war.

Sie wollte gerade zur Tür, als ihr Blick in die Ecke fiel, wo ihr Schlafkasten stand. Giller wollte, daß sie sich beeilte, trotzdem lief sie zu dem Kasten. Sie mußte einfach nachsehen. Sie kletterte hinein in das dunkle Innere und krabbelte in die hinterste Ecke, wo zusammengeschoben die Decke lag. Vorsichtig zog sie die Decke zurück.

Sara schaute sie an. Die Puppe war genau da, wo sie sie liegengelassen hatte.

»Ich muß schnell wieder weg«, flüsterte sie hastig. »Ich komme nachher wieder.«

Rachel küßte die Puppe auf den Kopf, deckte sie wieder mit der Decke zu und versteckte sie in der Ecke, damit niemand sie fand. Es konnte Ärger bedeuten, Sara ins Schloß zu bringen, aber der Gedanke, sie in der Launenfichte allein zu lassen, war unerträglich. Sie wußte, wie einsam und unheimlich es in der Launenfichte werden konnte.

Als sie fertig war, rannte sie zur Tür, zog sie einen Spaltbreit auf und blickte in Gillers Gesicht. Er nickte ihr zu und gab ihr ein Zeichen mit der Hand. Die Luft war rein.

»Der Schlüssel?«

Sie zog ihn aus der Tasche, wo sie ihren magischen Feuerstab aufbewahrte, und zeigte ihn ihm. Er lächelte und nannte sie ein gutes Mädchen. So hatte sie noch nie jemand genannt, jedenfalls schon lange nicht mehr. Er hob sie hoch und eilte durch den Flur zur engen Dienstbotentreppe. Selbst auf dem Steinboden konnte sie seine Schritte kaum hören. Unten angekommen, setzte er sie ab.

»Rachel«, sagte er und ging neben ihr in die Hocke, »hör gut zu, es ist sehr wichtig. Das ist kein Spiel. Wir müssen aus dem Schloß fliehen, sonst schlägt man uns beiden die Köpfe ab, genau wie Sara dir erzählt hat. Aber wir müssen schlau sein, sonst werden wir geschnappt. Wenn wir zu schnell weglaufen, ohne zuerst die richtigen Dinge zu tun, wird man uns auf die Schliche kommen. Und wenn wir zu langsam sind, nun ja, wir sollten einfach nicht zu langsam sein.«

Sie war den Tränen nahe. »Giller, ich habe Angst davor, daß man mir den Kopf abschlägt. Alle sagen, es tut furchtbar weh.«

Giller drückte sie fest an sich. »Ich weiß, Kind. Ich habe auch Angst.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern, richtete sie auf und sah ihr in die Augen. »Aber wenn du mir vertraust und genau tust, was ich dir sage und mutig genug bist, können wir von hier fliehen. Dann gehen wir irgendwohin, wo niemand einem den Kopf abschlägt oder einen in einen Kasten sperrt und wo du deine Puppe haben darfst und sie dir niemand wegnimmt. Einverstanden?«

Die Tränen verschwanden. »Das wäre wunderschön, Giller.«

»Aber du mußt tapfer sein und genau tun, was ich dir sage. Einiges wird sehr schwer werden.«

»Ich verspreche es dir.«

»Und ich verspreche dir, Rachel, ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Wir beide, du und ich, stecken zusammen in dieser Sache, aber auch eine Menge anderer Menschen verlassen sich auf uns. Wenn wir alles richtig machen, dann wird vielen unschuldigen Menschen vielleicht nicht der Kopf abgeschlagen.«

Sie bekam große Augen. »Oh, das wäre toll, Giller. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man Menschen den Kopf abschlägt. Es macht mir eine Höllenangst.«

»Also gut. Als erstes mußt du die Köche ausschimpfen, wie man es dir aufgetragen hat. Und wenn du unten in der Küche bist, besorgst du einen großen Laib Brot, den größten, den du finden kannst. Wie du das machst, ist mir egal. Stiehl ihn, wenn es nicht anders geht. Besorg ihn einfach. Dann bringst du ihn hoch in die Juwelenkammer. Nimm den Schlüssel und warte drinnen auf mich. Ich muß mich um ein paar andere Dinge kümmern. Später erzähle ich dir mehr. Schaffst du das?«

»Klar«, nickte sie. »Das ist leicht.«

»Also, dann los.«

Sie trat durch die Tür auf den Flur im ersten Stock, während Giller geräuschlos die Treppe hinauf verschwand. Die Stufen zur Küche befanden sich am anderen Ende der großen Freitreppe in der Mitte, die die Königin benutzte. Rachel ging gerne mit der Prinzessin zusammen die große Treppe hinauf, denn sie war mit Teppich ausgelegt und nicht so kalt wie die Steinstufen, die sie benutzte, wenn sie ihre Botengänge machte. Der Flur öffnete sich in der Mitte, wo die große Freitreppe in einem großen Raum mit weißen und schwarzen Marmorquadraten auf dem Boden endete. Sie fühlten sich kalt an unter den Füßen.

Sie überlegte gerade, wie sie einen großen Laib Brot beschaffen könnte, ohne ihn zu klauen, als sie sah, wie Prinzessin Violet den großen Raum durchquerte und zur großen Treppe ging. Die königliche Näherin und zwei ihrer Gehilfen folgten ihr, in der Hand Ballen hübschen rosa Stoffs. Rachel sah sich rasch nach einem Versteck um, doch die Prinzessin hatte sie bereits gesehen.

»Oh, gut, Rachel«, sagte die Prinzessin. »Komm her.«

Rachel ging und machte einen Knicks. »Ja, Prinzessin Violet?«

»Was tust du hier?«

»Meine Botengänge. Ich war gerade auf dem Weg in die Küche.«

»Nun … das ist nicht mehr nötig.«

»Aber Prinzessin Violet, das muß ich doch!«

Die Prinzessin machte ein argwöhnisches Gesicht. »Wieso? Ich sagte gerade, es ist nicht mehr nötig.«

Rachel biß sich auf die Lippe. Der Argwohn der Prinzessin machte ihr angst. Sie versuchte zu überlegen, was Giller antworten würde. »Nun, wenn Ihr nicht wollt, werde ich nicht gehen«, sagte sie. »Aber Euer Mittagessen war einfach fürchterlich, und ich möchte wirklich nicht mit ansehen müssen, wie Ihr noch ein so grauenhaftes Mahl zu Euch nehmt. Ihr habt bestimmt Hunger auf etwas Gutes. Aber wenn Ihr nicht wollt, dann lasse ich es.«

Die Prinzessin ließ sich das einen Augenblick lang durch den Kopf gehen. »Geh nur. Wenn ich es mir genau überlege, war es tatsächlich grauenhaft. Sag ihnen aber auch, wie wütend ich bin!«

»Ja, Prinzessin Violet.« Sie machte einen Knicks. Dann machte sie kehrt und wollte gehen.

»Ich gehe zum Anprobieren.« Rachel drehte sich zu ihr um. »Anschließend will ich in die Juwelenkammer und einige Dinge ausprobieren, die zu meinem Kleid passen könnten. Wenn du mit den Köchen fertig bist, hole den Schlüssel und warte in der Juwelenkammer auf mich.«

Rachels Kehle war wie zugeschnürt. »Aber Prinzessin, wollt Ihr nicht lieber bis morgen warten, wenn das Kleid fertig ist, und dann sehen, wie hübsch die Juwelen zusammen mit dem Kleid aussehen?«

Prinzessin Violet machte ein überraschtes Gesicht. »Ja, tatsächlich. Es wäre gut, den Schmuck zusammen mit dem Kleid zu sehen.« Sie überlegte noch einmal einen Augenblick lang, dann ging sie die Treppe hinauf. »Gut, daß du daran gedacht hast.«

Rachel atmete auf und lief zur Dienstbotentreppe. Die Prinzessin rief ihr etwas hinterher.

»Ich habe es mir anders überlegt, Rachel. Ich brauche noch etwas für das Abendessen heute, ich muß also sowieso in die Juwelenkammer. Warte in ein paar Minuten dort auf mich.«

»Aber Prinzessin…«

»Kein Aber. Wenn du den Köchen meine Nachricht mitgeteilt hast, holst du den Schlüssel und wartest in der Juwelenkammer auf mich. Ich komme, sobald ich mit dem Anprobieren fertig bin.«

Die Prinzessin stieg die Freitreppe hinauf und war verschwunden.

Was sollte sie jetzt machen? Giller wartete ebenfalls in der Juwelenkammer auf sie. Ihr Atem ging schwer, als müßte sie gleich anfangen zu weinen. Was sollte sie bloß machen?

Sie würde tun, was Giller verlangt hatte, was sonst. Sie würde tapfer sein. Damit man diesen Leuten nicht die Köpfe abschlug. Sie unterdrückte ihre Tränen und ging die Stufen zur Küche hinunter. Wozu Giller wohl den großen Laib Brot brauchte?

»Was denkst du?« flüsterte er. »Irgendwelche Ideen?«

Kahlan lag dicht neben ihm auf dem Boden und blickte besorgt über die Klippe auf das Geschehen unten.

»Keine Ahnung«, antwortete sie flüsternd. »Ich habe noch nie so viele kurzschwänzige Gars auf einem Fleck gesehen.«

»Was sie wohl verbrennen?«

»Sie verbrennen nichts. Der Rauch kommt aus dem Boden. Der Ort heißt Feuerquelle. Dort, wo der Rauch aus der Erde steigt, das sind Schlote. Aus den anderen Öffnungen kocht Wasser von unten herauf. Dort drüben sind noch mehr, dort kocht noch etwas anderes hoch, eine stinkende gelbe Flüssigkeit und dicker Schlamm. Wegen der Dämpfe wagt sich kein Mensch an diesen Ort. Ich weiß wirklich nicht, was die Gars hier wollen.«

»Sieh doch, dort drüben, fast ganz hinten, wo die Hügel aufsteigen, wo sich der größte Schlot befindet. Obendrauf liegt etwas Eiförmiges, um das der Dampf nach oben steigt. Ständig steigen sie hinauf, sehen danach und fassen es an.«

Sie schüttelte den Kopf. »Deine Augen sind besser als meine. Ich kann nicht erkennen, was es ist, nicht einmal, daß es rund ist.«

Richard hörte und spürte das Grollen im Boden, dem manchmal ein starker Rauchschwall folgte, der donnernd aus den Öffnungen entwich. Der entsetzliche, atemberaubende Schwefelgestank wehte bis in ihr Versteck zwischen den verkrüppelten Stämmen des hohen Felskamms empor.

»Ich denke, das sollten wir uns mal genauer ansehen«, sagte er leise, halb zu sich selbst, während er die Bewegungen der Gars unten verfolgte.

Kahlan sah ihn überrascht an. »Das wäre mehr als tollkühn«, zischte sie. »Es wäre schlicht und einfach dumm. Ein Gar alleine ist schlimm genug, oder hast du das schon vergessen? Da unten müssen Dutzende sein.«

»Schon möglich«, räumte er widerwillig ein. »Was ist das da hinter ihnen, etwas oberhalb, an der Bergflanke? Eine Höhle?«

Ihr Blick suchte den finsteren Schlund. »Ja. Sie wird Shadrins Höhle genannt. Manche behaupten, sie reiche ganz durch den Berg hindurch, bis in das Tal auf der anderen Seite. Aber ich wüßte niemanden, der es genau weiß oder auch nur herausfinden möchte.«

Er sah, wie die Gars ein Tier zerfleischten und sich darum stritten. »Was ist ein Shadrin?«

»Der Shadrin ist ein Raubtier, das angeblich in den Höhlen lebt. Einige meinen, es sei nur ein Mythos, andere schwören, es gäbe ihn wirklich. Aber so genau wissen will das keiner.«

Er sah sie an, während sie die Gars beobachtete. »Und was glaubst du?«

Kahlan zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. In den Midlands gibt es viele Orte, an denen angeblich Raubtiere leben. Ich war an vielen und habe nie welche gesehen. Viele dieser Geschichten sind eben nur Geschichten. Aber nicht alle.«

Richard war froh, daß sie überhaupt etwas sagte. Soviel hatte sie seit Tagen nicht gesprochen. Das seltsame Verhalten der Gars schien ihre Neugier geweckt und sie fürs erste aus ihrer Zurückgezogenheit gerissen zu haben. Aber sie konnten unmöglich hier liegenbleiben und sich unterhalten. Sie vergeudeten ihre Zeit. Außerdem würden die Blutmücken der Gars sie finden, wenn sie zu lange blieben. Sie krochen zurück, fort von der Klippe. Kahlan hüllte sich einmal mehr in Schweigen.

Als sie die Gars hinter sich gelassen hatten, gingen sie weiter die Straße nach Tamarang entlang, zur Grenze des Landes der Wilden, dem Land, das von Königin Milena regiert wurde. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie an eine Gabelung kamen. Richard nahm an, sie würden rechts gehen, doch Kahlan meinte, Tamarang läge im Osten. Gars und Feuerquelle waren links von ihnen gewesen. Kahlan bog auf die linke Straße ein.

»Was machst du?« Seitdem sie Agaden verlassen hatten, mußte er sie wie ein Habicht im Auge behalten. Er konnte ihr nicht mehr trauen. Sie wollte sterben, und das würde sie auch schaffen, wenn er nicht gut aufpaßte.

Sie drehte sich um und sah ihn mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck an, den sie schon seit Tagen beibehielt. »Das ist eine sogenannte verkehrte Gabelung. Weiter oben, wo man wegen der Steigung und dem dichten Wald nicht viel erkennen kann, kreuzen sich die beiden Straßen und wechseln die Richtungen. Wegen der dichtstehenden Bäume ist der Stand der Sonne und die Richtung, in der man geht, nur schwer auszumachen. Wenn wir hier die rechte Gabelung nehmen, landen wir bei den Gars. Diese hier, die linke, führt nach Tamarang.«

Er machte ein ungläubiges Gesicht. »Wieso sollte sich jemand die Mühe machen, eine solche Straße zu bauen?«

»Das ist nur ein kleiner Trick, mit dem die alten Herrscher Tamarangs die Eindringlinge aus der Wildnis verwirrt haben. Dadurch gewannen die Verteidiger manchmal Zeit, um sich, wenn nötig, zurückzuziehen und zu sammeln und um dann von neuem gegen die Eindringlinge vorzugehen.«

Einen Augenblick lang betrachtete er ihr Gesicht und versuchte abzuschätzen, ob sie die Wahrheit sagte. Es brachte ihn fast um den Verstand, wenn er nicht wußte, ob Kahlan ihm die Wahrheit sagte.

»Du bist meine Führerin«, sagte er endlich. »Du bestimmst den Weg.«

Sie drehte sich wortlos um und ging weiter. Richard wußte nicht, wie lange er das noch ertragen konnte. Sie sprach nur wenn nötig, hörte nicht zu, wenn er sich unterhalten wollte, und zog sich jedesmal zurück, wenn er ihr zu nahe kam. Sie tat, als wäre seine Berührung Gift, dabei hatte sie doch eher Angst, sie könnte ihn berühren. Er hatte gehofft, ihre Reaktion auf die Entdeckung der Gars wäre ein Signal für eine Veränderung gewesen, doch er hatte sich geirrt. Schnell hatte sie sich wieder in sich selbst zurückgezogen.

Sie war wie eine Gefangene auf einem Zwangsmarsch, und er war gegen seinen Willen ihr Aufpasser. Er behielt ihr Messer im Gürtel. Er wußte, was passieren würde, wenn er es ihr zurückgab. Mit jedem Schritt entfernte sie sich mehr von ihm. Er war drauf und dran, sie zu verlieren, hatte aber nicht die geringste Idee, was er dagegen tun könnte.

Wenn sie nachts ihre Wachen übernehmen sollte, damit er etwas schlafen konnte, mußte er sie an Händen und Füßen fesseln, damit sie sich nicht hinter seinem Rücken umbrachte. Sie ließ es widerstandslos über sich ergehen. Er litt große Qualen. Selbst dann mußte er noch beim Schlafen ein Auge offenhalten. Er schlief zu ihren Füßen, damit sie ihn wecken konnte, falls sie etwas sah oder hörte. Die Anspannung hatte ihn todmüde gemacht.

Wären sie doch bloß nie zu Shota gegangen! Die Vorstellung, Zedd könnte sich gegen ihn stellen, war undenkbar, der Gedanke, Kahlan könnte es tun, unerträglich.

Richard packte etwas zu essen aus. Er versuchte, fröhlich zu klingen, in der Hoffnung, sie aufzuheitern. »Hier, möchtest du etwas von dem Trokkenfisch?« Er grinste. »Schmeckt wirklich scheußlich.«

Nicht einmal sein Scherz brachte sie zum Lachen. »Nein danke. Ich bin nicht hungrig.«

Richard machte gute Miene zum bösen Spiel und gab sich alle Mühe, seinen Ärger nicht durchklingen zu lassen. »Kahlan, du hast seit Tagen kaum etwas gegessen. Du mußt etwas zu dir nehmen.«

»Ich habe gesagt, ich will nichts.«

»Komm schon, für mich, ja?« versuchte er sie zu überreden.

»Was wirst du als nächstes tun? Willst du mich festhalten und es mir in den Mund stopfen?«

Ihre Gelassenheit machte ihn noch wütender, doch er verbarg das, so gut es ging, hinter seinem Ton. »Wenn es sein muß.«

Sie wirbelte herum. Ihre Brust hob und senkte sich. »Richard! Bitte! Laß mich einfach gehen. Ich will nicht bei dir sein! Laß mich einfach gehen!« Zum ersten Mal seit Agaden hatte sie ihre Gefühle gezeigt.

Jetzt war es an ihm, seine Gefühle zu verbergen. »Nein.«

Sie funkelte ihn mit Feuer in ihren grünen Augen an. »Du kannst unmöglich jeden Augenblick auf mich aufpassen. Früher oder später…«

»Jede einzelne Minute … wenn es sein muß.«

Sie standen sich gegenüber und sahen sich wütend an. Dann war alles Gefühl aus ihrem Gesicht gewichen. Sie drehte sich um und ging weiter.

Sie waren nur wenige Minuten stehengeblieben, doch für das Monster, das ihnen folgte, hatte es gereicht, einen weiteren Fehler zu machen. Einen Augenblick lang hatte seine Wachsamkeit nachgelassen und es war zu nahe gekommen; nahe genug, daß Richard seine wilden, gelben Augen erkennen konnte, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Seit dem zweiten Tag nach Agaden wurden sie verfolgt. Die Jahre allein im Wald hatten ihn aufmerksam dafür gemacht, ob er verfolgt oder ob ihm nachspioniert wurde. Dieses Spiel hatten er und die anderen Waldführer gelegentlich in den Wäldern Kernlands gespielt, um herauszufinden, wie weit sie sich gegenseitig folgen konnten, ohne entdeckt zu werden. Was immer ihnen jetzt folgte, es beherrschte das Spiel gut. Aber nicht so gut wie Richard. Dreimal hatte er bislang die gelben Augen gesehen, die sonst wohl kaum einer entdeckt hätte.

Samuel konnte es nicht sein. Das Gelb war anders, dunkler, die Augen standen dichter beieinander, und es war gerissener. Ein Herzhund konnte es ebenfalls nicht sein, der hätte längst angegriffen. Was immer es war, es beobachtete sie nur.

Richard war sicher, Kahlan hatte es nicht gesehen. Sie war zu tief in ihren eigenen trüben Gedanken versunken. Früher oder später würde sich das Wesen zu erkennen geben. Richard war vorbereitet. Aber im Augenblick hatte er mit Kahlan alle Hände voll zu tun, noch mehr Ärger konnte er nicht gebrauchen. Er drehte sich also nicht um, zeigte nicht, daß er Verdacht geschöpft hatte, ging nicht im Kreis, wie er und die anderen Waldführer das Manöver genannt hatten, sondern behielt die Augen im Blick, wann immer sie sich zeigten, ohne einen direkten Kontakt zu erzwingen. Er war ziemlich sicher, ihr Verfolger ahnte nicht, daß er Bescheid wußte. Im Augenblick wollte er es auch dabei belassen.

Kahlan ging mit hängenden Schultern voran, und er überlegte, was er in ein paar Tagen tun sollte, wenn sie Tamarang erreicht hatten. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie war drauf und dran, diesen zähen Kampf zu gewinnen, ganz einfach deshalb, weil es so nicht weitergehen konnte. Sie konnte immer wieder scheitern, brauchte nur ein einziges Mal Erfolg zu haben. Er dagegen mußte jedesmal gewinnen. Ein winziger Fehler, und sie konnte sich das Leben nehmen. Er hatte keine Chance. Er würde verlieren. Was konnte er dagegen machen?

Rachel saß auf dem kleinen Hocker vor dem hohen, mit Samt bezogenen, mit Knöpfen und vergoldeten Schnitzereien verzierten Sessel, wartete und schlug die Knie zusammen. Beeil dich, Giller, sagte sie sich immer wieder, beeil dich, bevor die Prinzessin kommt. Sie hob den Kopf und betrachtete das Kästchen der Königin. Hoffentlich ließ Prinzessin Violet diesmal die Finger von dem Kästchen, wenn sie kam, um den Schmuck anzuprobieren. Rachel konnte es nicht ausstehen, wenn sie das tat, es machte ihr angst.

Die Tür öffnete sich einen Spaltweit. Giller schob seinen Kopf herein.

»Beeil dich, Giller«, zischte sie.

Er trat ganz durch die Tür. Dann steckte er den Kopf wieder nach draußen, blickte den Flur entlang nach beiden Seiten und schloß die Tür. Er sah sie an.

»Hast du das Brot?«

Sie nickte. »Hier ist es.« Sie zog das Bündel unter ihrem Stuhl hervor und legte es auf den Schemel. »Ich hab’ das Brot in ein Handtuch gewikkelt, damit es niemand sieht.«

»Gutes Mädchen.« Er lächelte, drehte sich um und kehrte ihr den Rükken zu.

Sie strahlte ihn an, dann machte sie ein besorgtes Gesicht. »Ich mußte es stehlen. Ich habe noch nie etwas gestohlen.«

»Ich versichere dir, Rachel, es ist für einen guten Zweck.« Er betrachtete das Kästchen.

»Giller, Prinzessin Violet kommt hierher.«

Er machte große Augen und drehte sich um. »Wann?«

»Nach der Anprobe für ihr neues Kleid, hat sie gesagt. Sie ist ziemlich kleinlich, es kann also ein Weilchen dauern, vielleicht aber auch nicht. Sie probiert gerne Schmuck an und betrachtet sich dann im Spiegel.«

»Verflucht seien die Seelen«, zischte Giller, »nichts ist jemals einfach.« Er machte kehrt und nahm das Kästchen der Königin von seinem Marmorpodest.

»Giller! Das darfst du nicht anfassen! Das gehört der Königin!«

Er wirkte ein bißchen böse, als er sie ansah. »Nein! Tut es nicht. Warte nur, ich werde es dir erklären.«

Er stellte das Kästchen auf den Schemel neben das Brot. Dann griff er unter seinen Umhang und holte ein weiteres Kästchen hervor. »Wie gefällt es dir?« Er hielt ihr das Kästchen mit einem schiefen Lächeln hin.

»Es sieht ganz genauso aus!«

»Gut.« Er stellte es auf das Podest, wo das echte gestanden hatte, dann setzte er sich neben sie und den Schemel auf den Boden. »Jetzt hör mir zu, Rachel. Wir haben nicht viel Zeit, und du mußt alles genau verstehen.«

Ihm war anzusehen, wie ernst er es meinte. Sie nickte. »Mach ich, Giller.«

Er legte die Hand über das Kästchen. »Dieses Kästchen besitzt magische Kräfte, und es gehört nicht der Königin.«

Sie runzelte die Stirn. »Nein? Wem denn?«

»Das zu erklären fehlt mir im Augenblick die Zeit. Vielleicht, wenn wir von hier fort sind. Das Wichtigste ist, die Königin ist ein schlechter Mensch.« Rachel nickte. Das wußte sie schon. »Sie schlägt Leuten den Kopf ab, nur weil ihr gerade danach ist. Sie hat Macht.

Macht bedeutet, daß sie tun kann, was sie will. Dieses Kästchen besitzt magische Kräfte und verhilft ihr so zu dieser Macht. Deswegen hat sie es gestohlen.«

»Ich verstehe. Genau wie die Prinzessin mich einfach schlagen, mein Haar schief schneiden und mich auslachen kann.«

Er nickte. »Richtig. Sehr gut, Rachel. Weiter. Es gibt einen Mann, der noch gemeiner ist als die Königin. Sein Name ist Darken Rahl.«

»Vater Rahl?« Sie war verwirrt. »Alle sagen, er sei nett. Die Prinzessin meint, er sei der netteste Mensch auf der ganzen Welt.«

»Die Prinzessin behauptet auch, ihr Kleid nie mit Soße zu bekleckern.« Er zog eine Braue hoch.

»Das ist gelogen.«

Giller legte ihr ganz sachte die Hände auf die Schultern. »Jetzt hör ganz genau zu. Darken Rahl, Vater Rahl, ist der gemeinste Mensch, den es je gegeben hat. Er tut mehr Menschen weh, als die Königin sich träumen lassen würde. Er tötet sogar Kinder. Weißt du, was das bedeutet, jemanden zu töten?«

Sie wurde traurig und bekam Angst. »Es bedeutet, daß man ihm den Kopf abschlägt oder so, ihn totmacht.«

»Ja. Und genau wie die Prinzessin lacht, wenn sie dich schlägt, so lacht Darken Rahl, wenn er Menschen umbringt. Du weißt doch, wie die Prinzessin beim Abendessen mit all den Lords und Ladies ist, richtig nett und sehr höflich. Und wie sie dich schlägt, sobald sie mit dir alleine ist?«

Rachel nickte. Sie hatte einen Kloß in der Kehle. »Die anderen sollen nicht wissen, wie gemein sie in Wirklichkeit ist.«

Giller hob einen Finger. »Genau! Du bist ein sehr kluges Mädchen! Nun, Vater Rahl ist genauso. Die Menschen sollen nicht wissen, wie gemein er ist, daher kann er sehr höflich sein und den Eindruck erwecken, er sei der netteste Mensch auf der Welt. Was immer du auch tust, Rachel, geh ihm aus dem Weg, wenn du kannst.«

»Ja, das mache ich, ganz bestimmt.«

»Aber wenn er mit dir spricht, dann sei genauso höflich wie er. Laß dir nicht anmerken, daß du Bescheid weißt. Niemand braucht zu erfahren, was du weißt. Dann bist du sicher.«

Sie lächelte. »Genau wie Sara. Ich erzähle niemandem davon, damit sie mir niemand wegnehmen kann. So ist sie sicher.«

Er legte den Arm um sie und drückte sie kurz. »Die Seelen seien gepriesen, du bist ein kluges Kind.« Es tat ihr richtig gut, als er das sagte. Noch nie hatte jemand gesagt, sie sei klug. »Hör genau zu, jetzt kommt das Wichtigste.«

Sie nickte. »Klar, Giller, mach’ ich.«

Er legte die Hand auf das Kästchen. »Dieses Kästchen besitzt magische Kräfte. Wenn die Königin es Vater Rahl gibt, kann er die Magie benutzen, um noch mehr Menschen weh zu tun. Er wird noch viel mehr Leuten den Kopf abschlagen. Die Königin ist gemein. Und deshalb wird sie ihm das Kästchen geben.«

Sie bekam ganz große Augen. »Giller! Sie darf ihm das Kästchen nicht geben! Sonst werden sie all diesen Leuten den Kopf abschlagen!«

Unter seiner Hakennase machte sich ein strahlendes Lächeln breit. Er nahm ihr Kinn in die Hand. »Rachel, du bist das klügste Mädchen, das ich je kennengelernt habe. Ganz bestimmt.«

»Wir müssen das Kästchen verstecken, so wie Sara!«

»Genau das werden wir tun.« Er zeigte auf das Kästchen oben auf dem Podest. »Das ist eine Nachbildung. Das bedeutet, es ist nicht das echte, sondern eine Fälschung, damit sie eine Weile getäuscht werden und wir fliehen können, bevor sie dahinterkommen, daß das echte verschwunden ist.«

Sie betrachtete das falsche Kästchen. Es sah genauso aus wie das echte. »Giller, du bist der klügste Mann, den ich je gesehen habe.«

Sein Lächeln bekam einen Stich. »Ich fürchte, Kind, ich bin klüger, als es mir guttut.« Er lächelte wieder. »Folgendes werden wir tun.«

Giller nahm das Brot, das sie in der Küche gestohlen hatte, und brach es entzwei. Mit seinen großen Händen holte er ein wenig von dem Teig heraus. Einen Teil davon stopfte er sich in den Mund. Seine Backen wurden ganz dick, so viel war es. Dann stopfte er ihr etwas in den Mund. Sie kaute, so schnell sie konnte. Es war gut, noch warm. Als sie den Mittelteil aufgegessen hatten, nahm er das echte Kästchen, stopfte es in das Brot und klebte die beiden Hälften wieder zusammen. Er hielt es hoch, damit sie es sehen konnte.

»Was meinst du?«

Sie zog ein Gesicht. »Da sind überall Risse. Jeder sieht, daß man es auseinandergebrochen hat.«

Er schüttelte den Kopf. »Du bist richtig schlau. Nun, schließlich bin ich Zauberer. Mal sehen, ob ich etwas dagegen tun kann. Was meinst du?«

Sie nickte. »Kann schon sein.«

Er legte das Brot in seinen Schoß und ließ seine Hände darüber kreisen. Dann zog er die Hände zurück und hielt ihr das Brot wieder hin. Die Risse waren verschwunden! Es sah aus wie neu!

»Jetzt kommt kein Mensch mehr drauf«, kicherte sie.

»Hoffentlich hast du recht, Kind. Ich habe ein magisches Netz, einen Zauber, über das Brot geworfen, damit niemand die magischen Kräfte des Kästchens in seinem Innern erkennen kann.«

Er breitete das Tuch über dem Schemel aus und legte das Brot darauf. Dann nahm er die vier Zipfel in die Hand und verschnürte sie in der Mitte darüber. Dann packte er das Bündel an den Knoten, legte es in seine andere Hand und hielt es ihr hin. Er sah ihr in die Augen, ohne zu lächeln. Er sah fast ein wenig traurig aus.

»Und jetzt kommt das Schwerste, Rachel. Wir müssen das Kästchen von hier fortbringen. Im Schloß dürfen wir es nicht verstecken, man könnte es finden. Weißt du noch, wo ich deine Puppe versteckt habe im Garten?«

Sie lächelte stolz. Sie wußte es noch. »Die dritte Vase rechts.«

Er nickte. »Ich werde das hier auch dort verstecken, genau wie deine Puppe. Du mußt es dort holen gehen wie deine Puppe und dann aus dem Schloß bringen.« Er beugte sich ein Stück vor. »Du mußt es heute nacht tun.«

Sie begann, ihren Finger in den Saum ihres Kleides zu drehen. Sie war den Tränen nahe. »Giller, ich hab’ solche Angst, das Kästchen der Königin anzufassen.«

»Ich weiß. Aber denk dran, das Kästchen gehört nicht der Königin. Du willst doch helfen, daß man all diesen Menschen nicht den Kopf abschlägt, oder?«

»Ja«, weinte sie. »Aber kannst du es nicht aus dem Schloß bringen?«

»Wenn ich es könnte, ich schwöre dir, Rachel, würde ich es tun. Aber ich kann nicht. Es gibt Leute, die mich beobachten und nicht wollen, daß ich das Schloß verlasse. Wenn sie mich mit dem Kästchen erwischen, bekommt es Vater Rahl, und das dürfen wir doch nicht zulassen, oder?«

»Nein…« Dann bekam sie es richtig mit der Angst. »Giller, du hast gesagt, du willst mit mir fortlaufen. Du hast es versprochen.«

»Und glaub mir, ich habe vor, mein Versprechen zu halten. Aber es kann ein paar Tage dauern, bis ich mich aus Tamarang fortschleichen kann. Es wäre sehr gefährlich, wenn das Kästchen noch einen Tag länger hierbliebe, und ich kann es nicht selber fortschaffen. Bringe es an deinen geheimen Platz, in die Launenfichte. Dort wartest du auf mich, bis ich dich holen kommen kann.«

»Ich kann’s ja mal versuchen. Wenn es so wichtig ist.«

Giller rückte näher und setzte sich auf den Schemel. Er packte sie an der Taille und hob sie auf sein Knie.

»Hör zu, Rachel. Und wenn du hundert Jahre alt wirst, du wirst nie etwas Wichtigeres tun als das hier. Du mußt ganz tapfer sein. Tapferer, als du je zuvor gewesen bist. Du darfst niemandem trauen. Du darfst niemanden an das Kästchen lassen. Ich werde dich in ein paar Tagen holen kommen, aber wenn irgend etwas schiefgeht und ich nicht komme, mußt du dich mit dem Kästchen bis zum Winter verstecken. Dann wird alles gut werden. Wenn ich irgend jemanden wüßte, der dir helfen könnte, würde ich ihn dazu zwingen. Aber ich kenne niemanden. Du bist die einzige, die es tun kann.«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Ich bin doch noch klein«, sagte sie.

»Deswegen bist du in Sicherheit. Jeder glaubt, du bist ein Niemand. Aber das stimmt nicht. Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt, und du kannst sie täuschen, weil sie das nicht wissen. Du mußt es tun, Rachel. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen, und alle anderen auch. Ich weiß, du bist klug und tapfer genug, es zu schaffen.«

Sie sah Tränen in seinen Augen. »Ich werde es versuchen, Giller. Ich werde tapfer sein und es tun. Du bist der beste Mensch auf der ganzen Welt, und wenn du sagst, ich soll es tun, dann tue ich es.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich war ein großer Narr, Rachel. Ich bin alles andere als der beste Mensch der Welt. Wäre ich vorher klüger gewesen und hätte mich an das erinnert, was man mir beigebracht hat, an meine eigentliche Pflicht, vielleicht brauchte ich dich jetzt nicht darum zu bitten. Aber ebenso, wie dies das Wichtigste für dich ist, ist es auch für mich das Wichtigste, was ich je tun werde. Wir dürfen nicht versagen, Rachel. Egal, was passiert, du darfst dich von niemandem aufhalten lassen. Von niemandem.«

Er legte ihr einen Finger rechts und links an die Stirn, und sie fühlte sich plötzlich ganz sicher. Sie wußte, sie konnte es schaffen, und dann brauchte sie nie mehr zu tun, was die Prinzessin von ihr verlangte. Sie würde frei sein. Plötzlich zog Giller seinen Finger zurück.

»Es kommt jemand«, flüsterte er. Er gab ihr rasch einen Kuß. »Die guten Seelen schützen dich, Rachel.«

Er stand auf und drückte sich mit dem Rücken an die Wand hinter der Tür. Er ließ den Brotlaib unter seinen Umhang gleiten und legte einen Finger an die Lippen. Die Tür ging auf, und Rachel sprang auf die Füße. Prinzessin Violet. Rachel machte einen Knicks. Als sie wieder hochkam, verpaßte die Prinzessin ihr eine Ohrfeige und lachte. Rachel blickte zu Boden, und während sie sich die Wange rieb und die Tränen unterdrückte, erblickte sie zwischen Prinzessin Violets Füßen einen Brotkrümel. Sie warf Giller, der sich hinter der Tür an die Wand drückte, einen Blick zu. Giller entdeckte das Stück. Schneller als eine Katze bückte er sich, hob es auf und stopfte es sich in den Mund. Dann glitt er unbemerkt hinter Prinzessin Violets Rücken zur Tür hinaus.

Kahlan streckte ihm die Arme entgegen, die Hände zu Fäusten geballt, die Innenseiten der Handgelenke zusammengepreßt, und wartete, daß er sie mit dem Seil fesselte. Ihre aufgerissenen Augen starrten ins Nichts. Sie sei nicht müde, hatte sie gemeint. Richard dagegen war es ganz bestimmt. Sein Kopf pochte, ihm wurde schlecht. Also übernahm sie die erste Wache. Was das wert war, bei ihrem leeren Blick, wußte er nicht.

Er hielt das Tau zwischen seinen zitternden Fäusten gespannt. Innerlich spürte er bereits, wie seine letzte Hoffnung endgültig dahinschwand. Nichts änderte sich, nichts wurde besser, wie er gehofft hatte. Es war ein einziger, endloser Kampf zwischen ihm und ihr. Sie wollte sterben, und er versuchte unermüdlich, sie daran zu hindern.

»Ich kann nicht mehr«, hauchte er und blickte im Schein des kleinen Feuers auf ihre Handgelenke. »Du hast vielleicht den Wunsch zu sterben, Kahlan, aber in Wirklichkeit tötest du mich.«

Sie sah ihn aus ihren grünen Augen an. Das Flackern des Feuers spiegelte sich in ihnen. »Dann laß mich gehen, Richard, bitte. Wenn dir irgend etwas an mir liegt, dann laß mich gehen.«

Er ließ das Tau fallen. Mit zitternden Händen zog er ihr Messer aus seinem Gürtel und betrachtete es minutenlang in seiner Hand. Das Funkeln der Klinge verschwamm ihm vor den Augen. Er umklammerte fest den Griff und steckte das Messer in die Scheide an ihrem Gürtel.

»Du hast gewonnen. Verschwinde von hier. Geh mir aus den Augen.«

»Richard…«

»Ich sagte: verschwinde!« Er zeigte auf den Weg, den sie gekommen waren. »Geh zurück und laß dich von den Gars fressen, mit dem Messer vermasselst du es vielleicht noch! Ich finde den Gedanken unerträglich, daß du nach allem mit dem Leben davonkommen könntest.«

Er drehte ihr den Rücken zu und setzte sich auf eine vom Sturm abgeknickte Fichte ans Feuer. Sie sah ihn schweigend an, dann entfernte sie sich ein paar Schritte weit.

»Richard … ich will nicht, daß es so endet — nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben.«

»Mir ist egal, was du willst. Du hast es verspielt.« Er brachte die Worte nur mit Mühe hervor. »Geh mir aus den Augen.«

Kahlan nickte und starrte zu Boden. Richard beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie, vergrub das Gesicht in den zitternden Händen. Er glaubte, sich übergeben zu müssen.

»Richard«, sagte sie mit sanfter Stimme, »ich hoffe, du behältst mich in guter Erinnerung, wenn das alles vorbei ist, und denkst dann besser von mir als jetzt.«

Das gab den Ausschlag. Er stemmte einen Stiefel gegen den Stamm und war mit einem Satz bei ihr. Im Nu hatte er ihr Hemd gepackt.

»Du wirst mir nur als das in Erinnerung bleiben, was du bist. Eine Verräterin! Eine Verräterin an allen, die schon gestorben sind, und denen, die noch sterben werden!« Mit aufgerissenen Augen versuchte sie, zurückzuweichen, von ihm fort, doch er hielt sie wie besessen fest. »Eine Verräterin an allen Zauberern, die ihr Leben gegeben haben, an Shar, Siddin und all den Schlammenschen, die getötet wurden! Und eine Verräterin an deiner Schwester!«

»Das ist nicht wahr…«

»Eine Verräterin an all diesen Menschen, und noch mehr! Sollte ich scheitern und Rahl gewinnen, haben wir alle das dir zu verdanken, und Darken Rahl ebenfalls. Ihm hilfst du, sonst niemandem.«

»Ich tue das, um dir zu helfen! Du hast gehört, was Shota gesagt hat!« Sie geriet allmählich in Wut.

»Das gilt nicht. Nicht für mich. Ja, ich habe gehört, was Shota gesagt hat. Sie hat gesagt, daß ihr beide, Zedd und du, euch irgendwie gegen mich stellen werdet. Sie hat nicht gesagt, daß dies ein Fehler sei.«

»Was willst du damit sagen…«

»Für mich ist das keine Suche nach irgendeinem heiligen Gral. Es geht darum, Rahl aufzuhalten! Woher willst du wissen, daß ich ihm das Kästchen nicht bringe, sobald wir es gefunden haben? Was, wenn ich uns verrate und nur du und Zedd mich daran hindern könnt, Rahl das Kästchen zu geben?«

»Das ergibt keinen Sinn.«

»Macht es vielleicht mehr Sinn, daß du und Zedd mich töten wollt? Dann müßten zwei sich irren, im anderen Fall nur einer. Es ist doch nur dieses dämliche Hexenrätsel! Du bringst dich wegen eines dämlichen Rätsels um! Wir können unmöglich wissen, was die Zukunft bringen wird. Wir können nicht wissen, wie diese Hexe das gemeint hat, wie und ob es wahr werden wird! Nicht, bevor es geschieht. Erst dann wissen wir, was es bedeutet, erst dann können wir etwas damit anfangen.«

»Ich weiß nur eins: Diese Prophezeiung darf sich durch mein Weiterleben nicht erfüllen. Du bist der Faden, mit dem all diese Bemühungen verwoben sind.«

»Ohne Nadel ist der Faden nutzlos! Und die Nadel bist du! Ohne dich wäre ich gar nicht erst so weit gekommen. Bei jeder Biegung habe ich dich gebraucht. Du kennst die Königin, ich nicht. Selbst wenn es mir gelänge, das Kästchen ohne dich zu finden, was dann? Wo soll ich denn hin? Ich kenne die Midlands nicht. Wo soll ich hin, Kahlan, sag mir das? Woher soll ich wissen, wo es sicher ist? Ich könnte Rahl glatt in die Hände laufen und ihm das Kästchen bringen.«

»Shota hat gesagt, du seist der einzige, der eine Chance hat. Ohne dich ist alles verloren. Nicht ich. Du. Sie hat gesagt, wenn ich lebe … Richard, das kann ich nicht zulassen. Ich werde es nicht zulassen.«

»Du verrätst uns«, fauchte er sie an.

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Egal, was du denkst, Richard, ich tue das für uns.«

Mit einem Aufschrei schleuderte Richard sie so fest er konnte nach hinten. Sie landete auf dem Rücken. Er stellte sich über sie, funkelte sie wütend an. Um seine Stiefel wirbelte Staub auf.

»Sag das nicht noch mal!« sehne er, beide Hände zu Fäusten geballt. »Du tust das für dich, und zwar nur, weil es dir an Mumm für einen Sieg fehlt! Wage nicht, zu behaupten, du tätest es für mich!«

Sie rappelte sich auf, ohne die Augen von ihm abzuwenden. »Ich würde so ziemlich alles geben, damit du mich nicht so in Erinnerung behältst, Richard. Aber was ich tue, tue ich, weil ich muß. Für dich. Damit du eine Chance hast. Ich habe geschworen, den Sucher mit meinem Leben zu schützen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.« Tränen liefen ihr übers Gesicht, durch den Staub auf ihren Wangen.

Richard sah zu, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Er kam sich vor, als hätte man einen Stöpsel in seinem Innern gezogen und sein ganzes Selbst liefe ins Leere.

Er ging zum Feuer und ließ sich am Stamm hinabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Dann zog er die Knie hoch, schlang die Arme um sie, preßte sein Gesicht hinein und weinte, wie er noch nie zuvor geweint hatte.

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