4

Rachel saß auf ihrem kleinen Schemel hinter der Prinzessin, schlug die Knie aneinander und dachte darüber nach, wie sie die Prinzessin dazu bringen könnte, sie rauszuschmeißen, damit sie das Kästchen mitnehmen und für immer verschwinden konnte. Dauernd mußte sie an das Brot mit dem Kästchen denken, das im Garten auf sie wartete. Sie hatte Angst, aber aufgeregt war sie auch. Aufgeregt, weil sie all den Menschen helfen würde, damit man ihnen nicht den Kopf abschlug. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, wichtig zu sein. Sie drehte ihren Saum zwischen den Fingern. Sie konnte es kaum erwarten, wegzukommen.

Die Lords und Ladies tranken alle ihr ganz besonderes Getränk. Und schienen glücklich dabei. Giller stand zusammen mit den anderen Beratern hinter der Königin. Er unterhielt sich leise mit dem Hofkünstler. Rachel mochte den Künstler nicht, er machte ihr angst. Ständig grinste er sie so komisch an. Außerdem hatte er nur eine Hand. Sie hatte gehört, wie sich die Diener darüber unterhielten, daß sie Angst hätten, der Künstler könnte ein Bild von ihnen malen.

Plötzlich machten alle ein bestürztes Gesicht. Sie starrten die Königin an. Sie wollten sich erheben. Rachel blickte zur Königin hinüber und sah, daß die Leute nicht sie anschauten, sondern etwas anderes hinter ihr. Sie riß die Augen auf, als sie die Männer sah.

Es waren die größten Männer, die sie je gesehen hatte. Ihre Hemden hatten keine Ärmel, dafür waren ihre Arme mit Metallbändern versehen, aus denen scharfe Dorne hervorstachen. Es waren die niederträchtigsten Männer, die sie je gesehen hatte, schlimmer noch als die Wärter im Verlies. Die beiden Männer sahen sich im Raum um, musterten die Leute, dann postierten sie sich zu beiden Seiten des hohen Bogens hinter der Königin und verschränkten die Arme. Mit einem empörten Schnauben drehte sich die Königin auf ihrem Sessel um und wollte sehen, was los war.

Ein Mann mit blauen Augen, langen, blonden Haaren, weißem Umhang und einem Messer mit Goldgriff im Gürtel schritt durch den Torbogen. Der bestaussehendste Mann, den sie je gesehen hatte. Er lächelte der Königin zu. Sie sprang auf.

»Welch unerwartete Überraschung!« sagte sie mit ihrer süßesten Hundestimme. »Wir fühlen uns geehrt. Aber wir hatten Euch erst morgen erwartet.«

Der Mann schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Ich konnte es nicht erwarten, herzukommen und Euer liebreizendes Gesicht wiederzusehen. Vergebt mir, daß ich zu früh bin, Majestät.«

Kichernd reichte die Königin ihm die Hand zum Kuß. Ständig mußte ihr irgend jemand die Hand küssen. Die Bemerkung des nettaussehenden Mannes überraschte Rachel. Sie hätte nie gedacht, jemand könnte die Königin für liebreizend halten. Die Königin ergriff seine Hand und führte ihn nach vorn.

»Lord und Ladies, darf ich Euch Vater Rahl vorstellen.«

Vater Rahl! Sie sah sich um, ob jemand gesehen hatte, wie sie hochgeschreckt war. Doch niemand hatte etwas bemerkt, alle starrten Vater Rahl an. Sie spürte, gleich würde er sie ansehen und merken, daß sie vorhatte, mit dem Kästchen fortzulaufen. Sie sah zu Giller hinüber, doch der erwiderte ihren Blick nicht. Er war kreideweiß. Vater Rahl war hier, bevor sie mit dem Kästchen davongerannt war! Was sollte sie jetzt bloß machen?

Sie würde tun, was Giller ihr gesagt hatte. Sie würde tapfer sein und all diese Menschen retten. Sie mußte sich nur überlegen, wie sie von hier fliehen konnte.

Vater Rahl musterte die Leute. Alle hatten sich mittlerweile erhoben. Der kleine Köter kläffte. Vater Rahls Blick wanderte zu ihm hinüber, und sein Gekläff schwand zu einem kläglichen Winseln. Rahl ließ den Blick über die Leute schweifen. Es wurde vollkommen still.

»Das Abendessen ist vorbei. Ihr werdet uns jetzt entschuldigen«, sagte er mit sanfter Stimme.

Alle fingen an zu tuscheln. Er blickte sie mit seinen stechenden blauen Augen an. Das Getuschel erstarb, und man brach auf. Erst langsam, dann schneller. Vater Rahl musterte einige der königlichen Berater, und sie verließen den Raum und schienen auch noch glücklich darüber. Einige, die er nicht ansah, blieben, darunter auch Giller. Prinzessin Violet blieb ebenfalls, und Rachel versuchte, sich hinter ihr zu verstecken, um nicht aufzufallen. Lächelnd deutete die Königin auf den Tisch.

»Wollt Ihr Euch nicht setzen, Vater Rahl? Ich bin sicher, Ihr hattet eine anstrengende Reise. Erlaubt, daß wir Euch etwas zu essen bringen. Wir haben heute abend einen köstlichen Braten.«

Er sah sie aus stahlstarren blauen Augen an. »Ich habe etwas dagegen, hilflose Tiere niederzumetzeln und dann ihr Fleisch zu verzehren.«

Rachel glaubte, die Königin würde ersticken. »Nun, äh … wir haben auch eine wunderbare Schwarzwurzsuppe und einige andere Dinge, die gewiß … es muß doch etwas geben, daß … wenn nicht, der Koch wird Euch sicherlich…«

»Vielleicht ein andermal. Ich bin nicht zum Essen gekommen, sondern um Euern Beitrag für unser Bündnis einzufordern.«

»Aber … es ist früher als erwartet, wir sind noch nicht mit den Vertragsentwürfen fertig. Es gibt zahlreiche Papiere, die unterzeichnet werden müssen, außerdem wollt Ihr sie doch sicher erst durchsehen.«

»Ich werde mit großer Freude alles unterzeichnen, was Ihr bereits fertiggestellt habt, und gebe Euch mein Wort, daß ich sämtliche Zusatzdokumente unterzeichnen werde, die Ihr vorbereitet habt. Ich vertraue auf Eure Ehrlichkeit.« Er lächelte. »Ihr habt doch nicht etwa vor, mich bei diesem Vertrag reinzulegen, oder?«

»Also wirklich, Vater Rahl, nein, natürlich nicht.«

»Seht Ihr. Wozu brauche ich dann jemanden, der die Papiere durchsieht, wenn Ihr aufrichtig und großzügig mit mir verfahrt? Ihr seid doch aufrichtig, oder?«

»Aber natürlich bin ich das. Ich denke, es ist nicht nötig … aber es ist äußerst ungewöhnlich.«

»Das ist unser Bündnis auch. Fangen wir also an.«

»Ja, ja, selbstverständlich.« Sie wandte sich an einen ihrer Berater. »Geh und hole, was du von dem Bündnisvertrag fertig hast. Bringe Tinte und Federhalter mit. Und mein Siegel.« Der Mann verbeugte sich und ging. Die Königin wandte sich an Giller. »Geh und hole das Kästchen, wo immer du es verborgen hast.«

Er verneigte sich. »Sehr wohl, Majestät.« Rachel fühlte sich allein gelassen und hatte Angst, als sie ihn mit wehender Silberrobe durch die Tür verschwinden sah.

Inzwischen stellte die Königin Violet Vater Rahl vor. Rachel blieb hinter Prinzessin Violets Sessel stehen, als diese vortrat, um sich die Hand küssen zu lassen. Vater Rahl verbeugte sich, küßte ihre Hand und meinte, sie sei ebenso reizend wie ihre Mutter. Die Prinzessin hörte gar nicht mehr auf zu grienen und drückte die Hand, die er geküßt hatte, vor ihre Brust.

Der Berater kam in Begleitung seiner Helfer zurück. Jeder hatte die Arme voller Papiere. Sie schoben die Teller zur Seite, breiteten die Papiere über die ganze Tafel aus und zeigten auf die Stelle, wo die Königin und Vater Rahl mit ihren Namen unterschreiben sollten. Einer der Gehilfen träufelte Wachs auf die Papiere, und die Königin drückte ihr Siegel hinein. Vater Rahl meinte, er hätte kein Siegel, seine Unterschrift müsse genügen. Er sei sicher, seine Handschrift später wiederzuerkennen. Als Giller zurückkehrte, blieb er abseits stehen und wartete, bis sie fertig waren. Die Männer machten sich an das Einsammeln der Papiere und stritten sich um die richtige Reihenfolge. Die Königin winkte Giller zu sich.

»Vater Rahl«, setzte Giller mit seinem freundlichsten Lächeln an, »darf ich Euch Königin Milenas Kästchen der Ordnung überreichen.« Er hielt ihm die Nachbildung vorsichtig mit beiden Händen hin, ganz so, als sei es das echte. Die Steine funkelten richtig hübsch.

Mit einem dünnen Lächeln nahm Vater Rahl das Kästchen aus Gillers Händen entgegen. Eine Weile drehte er es hin und her und begutachtete die hübschen Steine. Dann winkte er einen der riesigen muskelbepackten Männer zu sich. Er kam, und Vater Rahl blickte ihm in die Augen und vertraute ihm das Kästchen an.

Der Riese zerdrückte es mit einer Hand. Es zersplitterte. Die Königin machte mächtig große Augen.

»Was hat das zu bedeuten?« wollte sie wissen.

Vater Rahls Blick bekam etwas Furchterregendes. »Das würde ich gerne von Euch wissen, Majestät. Das Kästchen ist eine Fälschung.«

»Aber das ist schlichtweg unmöglich … ausgeschlossen … ich weiß ganz genau…« Die Königin drehte sich zu Giller um. »Giller! Was weißt du darüber?«

Er hatte seine Hände jeweils in den gegenüberliegenden Ärmel gesteckt. »Majestät … ich verstehe das nicht … an dem magischen Siegel hat sich niemand zu schaffen gemacht, darum habe ich mich persönlich gekümmert. Ich versichere Euch, es ist dasselbe Kästchen, das ich bewacht habe, seit Ihr es mir anvertraut habt. Es muß sich von Anfang an um eine Fälschung gehandelt haben. Man hat uns hereingelegt. Das ist die einzig mögliche Erklärung.«

Vater Rahls blaue Augen wichen die ganze Zeit nicht von dem Zauberer. Dann schwenkte sein Blick zu einem seiner Männer. Der Mann kam herbei und packte Giller hinten an seinem Umhang. Mit einer Hand hob er Giller vom Boden.

»Was soll das? Laß mich los, du Ochse! Zeige etwas Respekt vor einem Zauberer, oder du wirst es bereuen, das verspreche ich dir!« Seine Füße zappelten in der Luft.

Rachel hatte einen Kloß im Hals, Tränen in den Augen. Sie versuchte, tapfer zu sein und nicht loszuheulen. Sonst würden sie sie bestimmt bemerken.

Vater Rahl befeuchtete seine Fingerspitzen. »Es ist nicht die einzig mögliche Erklärung, Zauberer. Das echte Kästchen besitzt Magie, eine ganz besondere Magie. Die Magie dieses Kästchens stimmt nicht. Eine Königin würde es nicht erkennen, sie könnte nicht unterscheiden, ob es sich um das echte Kästchen handelt. Ein Zauberer dagegen schon.«

Vater Rahl lächelte sein dünnes Lächeln und sah die Königin an. »Der Zauberer und ich werden jetzt gehen und uns unter vier Augen unterhalten.« Damit machte er kehrt und verließ mit wehendem weißen Umhang den Saal. Der Kerl, der Giller am Kragen gepackt hielt, folgte ihm. Der andere baute sich vor der Tür auf und verschränkte die Arme. Gillers Füße berührten den Boden nicht, als er abtransportiert wurde.

Rachel wollte Giller nachlaufen, solche Angst hatte sie um ihn. Sie sah, wie er den Kopf verdrehte und sich zu den Leuten umschaute. Seine dunklen Augen waren aufgerissen, und eine Sekunde lang sah er ihr geradewegs in die Augen. In diesem Augenblick hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf, so deutlich, als hätte er ihr ganz laut etwas zugerufen. Die Stimme in ihrem Kopf rief nur ein Wort.

Lauf.

Dann war er verschwunden. Rachel hätte losheulen können. Statt dessen nuckelte sie am Saum ihres Kleides. Rings um die Königin redeten alle durcheinander. James, der Hofkünstler, sammelte einige Splitter des falschen Kästchens ein, drehte sie in der Hand, betrachtete sie, hielt sie gegen den Stumpf seiner anderen. Prinzessin Violet riß ihm ein größeres Stück aus der Hand, musterte die Juwelen und fuhr mit dem Finger darüber.

Rachel hörte im Kopf immer wieder Gillers Schrei: Lauf! Sie sah sich um. Niemand achtete auf sie. Sie ging um die Tische herum, hielt den Kopf gesenkt, unterhalb der Tischdecken, damit niemand sie sehen konnte. Als sie die gegenüberliegende Seite des Saals erreicht hatte, hob sie den Kopf, um zu sehen, ob jemand guckte. Niemand achtete auf sie.

Sie streckte die Hand aus und stibitzte sich von den Tellern etwas zu essen, ein Stück Fleisch, drei Brötchen und ein großes Stück Hartkäse. Sie stopfte sich alles in die Taschen und drehte sich noch einmal zu den Leuten um.

Dann lief sie zum Flur. Sie unterdrückte die Tränen, sie wollte tapfer sein — für Giller. Mit nackten Füßen lief sie über die Teppiche. Bevor sie die Wachen am Tor erreichte, verlangsamte sie ihr Tempo. Niemand sollte sehen, wie sie rannte. Als sie sie kommen sahen, zogen sie den schweren Riegel hoch und ließen sie wortlos passieren. Die Wachen draußen warfen ihr nur einen kurzen Blick zu, dann richteten sie ihre Blicke wieder in die Ferne und beobachteten das Gelände.

Rachel wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und lief die kalten Steinstufen hinunter. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, aber ein paar waren doch gekommen. Die patrouillierenden Wachen achteten nicht auf sie, als sie über das Kopfsteinpflaster zum Garten eilte.

Außerhalb des Lichtscheins der Fackeln an den Außenwänden des Schlosses war es dunkel, aber sie kannte den Weg. Das Gras war feucht unter ihren bloßen Füßen. Bei der dritten Vase kniete sie nieder, sah sich um, ob jemand sie beobachtete, und griff unter die Blumen. Sie fühlte das Tuch, in das das Brot gewickelt war, und zog es heraus. Sie zog den Knoten auseinander, klappte die vier Zipfel auf, dann griff sie in ihre Taschen und legte das Fleisch, die drei Brötchen und den Käse auf das Brot und verschnürte die Zipfel des Tuchs wieder.

Sie wollte gerade zum Außentor laufen, da fiel es ihr ein. Ihr stockte der Atem. Sie erstarrte, riß die Augen auf.

Sie hatte Sara vergessen! Ihre Puppe lag noch immer im Schlafkasten! Prinzessin Violet würde sie finden und ins Feuer werfen! Rachel konnte ihre Puppe unmöglich zurücklassen, wenn sie fortlief und nie zurückkehrte. Sara hätte Angst ohne sie. Man würde sie verbrennen.

Sie schob das Bündel mit dem Brot zurück unter die Blumen, sah sich um und rannte zurück zum Schloß. Als sie näher kam und in den Schein der Fackeln trat, mußte sie langsamer gehen. Eine der Wachen am Tor blickte auf sie herab.

»Ich habe dich doch gerade rausgelassen«, sagte er.

Sie schluckte. »Aber ich muß noch einmal kurz hinein.«

»Was vergessen?«

Sie nickte und zwang sich zu antworten. »Ja.«

Kopfschüttelnd öffnete er die kleine Klappe. »Mach das Tor auf«, meinte er zu dem Posten innen. Sie hörte, wie der schwere Riegel zur Seite geschoben wurde.

Wieder drinnen, sah sie den Flur entlang. Der große Raum mit dem schwarz-weißen Fußboden und der Freitreppe war geradeaus, um ein paar Ecken, dann durch einige Flure und ein paar weitere große Räume. Einer davon war der Speisesaal. Das wäre der kürzeste Weg. Aber die Königin oder die Prinzessin könnten dort sein, oder sogar Vater Rahl. Sie könnten sie sehen. Das durfte sie nicht zulassen. Vielleicht nahm Prinzessin Violet sie mit hinauf in ihr Zimmer und steckte sie in ihre Schlafkiste. Es war schon spät.

Sie machte kehrt und ging rechts durch die kleine Tür. Das war der Dienstbotengang. Er war viel weiter, aber in den Gängen und Fluren für die Dienstboten würde sich niemand Wichtiges aufhalten. Keiner der Bediensteten würde sie aufhalten. Alle wußten, sie war die Gespielin der Prinzessin, und niemand wollte die Wut der Prinzessin auf sich ziehen. Sie würde unten durch die Quartiere der Bediensteten gehen müssen, unter den großen Räumen und der Küche hindurch.

Die Treppen waren alle aus Stein, an den Kanten abgetreten. Eines der oberen Fenster war ungeschützt und ließ den Regen herein, und über die Treppen lief ständig Wasser aus undichten Steinmauern. An manchen Stellen war es nur wenig, an anderen mehr, und einige der Stufen waren schleimig-grün. Sie mußte aufpassen, um nicht in den Schleim zu treten. Fackeln in Eisenhalterungen warfen gelblichrotes Licht auf die Stufen.

In den Fluren des unteren Stockwerks waren einige Leute, Diener mit Decken und Laken, Waschfrauen mit Wassereimer und Mop, Männer, die Bündel von Feuerholz für die Kamine im oberen Stock herbeischleppten. Einige blieben tuschelnd stehen. Sie wirkten aufgeregt. Sie hörte Gillers Namen und bekam einen Kloß im Hals. Neben den Quartieren der Diener brannten sämtliche Öllampen, die von den dicken Balken unter der niedrigen Decke hingen. Gruppen von Menschen standen herum und erzählten sich, was sie gesehen hatten. Rachel sah einen Mann, der sich laut unterhielt, meist mit Frauen, aber auch mit einigen Männern, die um ihn herumstanden. Das war Mr. Sanders, der Mann mit der eleganten Jacke, der die edlen Herrschaften begrüßte, wenn sie zum Abendessen kamen, und allen anderen ihre Namen verkündete.

»Hab’ es selbst gehört, von den beiden Wachen am Speisesaal. Ihr wißt schon, wen ich meine, den jungen, Frank, und diesen anderen, der hinkt, Jenkins. Sie meinten, die Wachen aus D’Hara hätten ihnen persönlich mitgeteilt, das Schloß müsse durchsucht werden, von oben bis unten.«

»Was suchen sie denn?« wollte eine Frau wissen.

»Weiß ich nicht. Den beiden haben sie es jedenfalls nicht verraten. Diese Typen aus D’Hara sind ein echter Alptraum.«

»Ich wünschte, sie fänden, was sie suchen, unter Violets Bett«, meinte ein anderer. »Geschähe ihr recht, wenn sie zur Abwechslung selbst mal einen Alptraum hätte, anstatt ihn immer nur anderen zu bereiten.« Alle lachten.

Rachel lief weiter, durch den großen Vorratsraum mit den Säulen. Auf der einen Seite standen Fässer, in Reihen übereinander gestapelt, auf der anderen Seite hatte man Kartons, Kisten und Säcke aufeinandergestellt. Der Raum roch feucht und muffig, überall konnte sie Mäuse scharren hören. Sie lief durch die Mitte, vorbei an den Lampen, die an den Säulen angebracht waren, bis zu der schweren Tür am anderen Ende. Die Angeln aus Bandeisen quietschten, als sie unter großer Mühe an dem eisernen Ring zerrte und die Tür öffnete. Sie bekam Rost vom Ring an die Hände und wischte ihn an den Steinen ab. Eine weitere große Tür rechts führte in die Verliese. Sie stieg die Treppe hoch. Es war dunkel, nur oben brannte eine Fackel. Sie hörte das Geräusch von tropfendem Wasser. Hinter der oberen Tür, die einen Spaltbreit offenstand, rannte sie, flink wie der Wind, der hier immer wehte, durch die Gänge aus Steinquadern. Sie hatte viel zuviel Angst, um zu weinen. Sie wollte, daß Sara bei ihr war. Nur fort von hier.

Endlich im oberen Stockwerk, steckte sie den Kopf durch die Tür und sah rechts und links den Gang entlang, der an Prinzessin Violets Zimmer vorbeiführte. Er war menschenleer. Auf Zehenspitzen schlich sie über den Teppich mit den Bildern von Schiffen darauf und erreichte die Tür, die in einer Nische des Flures lag. Sie drückte sich hinein, nachdem sie sich noch einmal im Flur umgesehen hatte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Im Zimmer war es dunkel. Sie huschte hinein und schloß die Tür.

Im Kamin brannte ein Feuer, aber Lampen hatte man nicht angezündet. Sie schlich durch das Zimmer, spürte das Fell unter ihren nackten Füßen. Auf Händen und Knien kroch sie in ihren Schlafkasten und zog mit einer Hand die Decke zurück. Sara war nicht da. Es war, als wäre ein kalter Hauch über ihre Haut gestrichen.

»Suchst du was?« Die Stimme von Prinzessin Violet.

Minutenlang konnte sie sich nicht bewegen. Sie schnappte nach Luft, aber es gelang ihr, die Tränen zu unterdrücken. Sie durfte nicht zulassen, daß Prinzessin Violet sie weinen sah. Sie kletterte rückwärts aus dem Kasten und sah die dunkle Silhouette vor dem Kamin. Die Prinzessin. Sie löste sich vom Kamin und machte einen Schritt in Rachels Richtung. Sie hatte die Hände hinter dem Rücken. Rachel konnte nicht erkennen, was sie in der Hand hielt.

»Ich wollte gerade in meinen Kasten klettern. Und schlafen gehen.«

»Tatsächlich?« Jetzt konnte Rachel im Dunkeln besser sehen. Sie sah das Grinsen auf Prinzessin Violets Gesicht. »Du hast nicht zufällig das hier gesucht, oder?«

Langsam holte sie die Hände hinter ihrem Rücken hervor. Sara. Rachel riß die Augen auf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, wahnsinnig werden zu müssen.

»Prinzessin Violet, bitte…«, wimmerte sie. Sie streckte flehend die Hände vor.

»Komm her, dann reden wir darüber.«

Rachel ging langsam auf die Prinzessin zu, blieb vor ihr stehen und drehte ihren Finger in den Rocksaum. Plötzlich gab ihr die Prinzessin eine Ohrfeige, fester, als sie es je zuvor getan hatte. So fest, daß Rachel ein kleiner Schrei entfuhr, als sie einen Schritt zurückgeschleudert wurde. Sie legte die linke Hand auf die brennende Wange. Tranen traten ihr in die Augen. Dann rammte sie die Faust in die Tasche, entschlossen, diesmal nicht loszuheulen.

Die Prinzessin kam einen Schritt vor und schlug mit dem Handrücken auf die andere Wange. Dieser zweite war noch schmerzhafter als der erste Schlag. Rachel biß die Zähne zusammen und ballte ihre Faust um einen Gegenstand in ihrer Tasche, damit ihr nicht die Tränen kamen.

Prinzessin Violet trat wieder vor den Kamin. »Ich habe dir doch gesagt, was passiert, wenn du jemals eine Puppe anschleppst.«

»Prinzessin Violet, bitte…« Sie zitterte, weil ihr das Gesicht so weh tat und weil sie solche Angst hatte. »Bitte, kann ich sie behalten? Sie tut Euch doch nichts.«

Die Prinzessin lachte grausam. »Nein. Ich werde sie ins Feuer werfen, genau wie ich gesagt habe. Damit du es endlich lernst. Wie heißt sie?«

»Sie hat keinen Namen.«

»Nun, egal, sie wird trotzdem gut brennen.«

Sie drehte sich zum Feuer. Rachel hatte immer noch die Faust um dieses Ding in ihrer Tasche geballt. Den magischen Feuerstab, den Giller ihr geschenkt hatte. Sie holte ihn heraus und sah ihn an.

»Wag es nicht, meine Puppe ins Feuer zu schmeißen, du wirst es bereuen.«

Die Prinzessin wirbelte herum. »Was hast du gesagt? Wie kannst du es wagen, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Du bist ein Niemand, ich bin eine Prinzessin.«

Rachel hielt den magischen Feuerstab an das Häkeldeckchen auf einem kleinen, runden Marmortisch gleich neben sich. »Brenn für mich«, flüsterte sie.

Das Deckchen ging in Flammen auf. Die Prinzessin machte ein überraschtes Gesicht. Rachel hielt den Feuerstab an ein Buch auf einem kleinen Marmortisch. Sie blickte kurz zur Prinzessin hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie zusah, dann flüsterte sie ihre Worte, und mit einem Knall ging auch das Buch in Flammen auf. Die Prinzessin riß die Augen auf. Rachel nahm das Buch an einer Ecke und warf es unter den Blicken der Prinzessin in den Kamin. Sie wirbelte herum, machte einen schnellen Schritt und hielt den Stab an die Prinzessin.

»Gib mir meine Puppe, oder ich verbrenne dich.«

»Das wagst du nicht…«

»Sofort! Wenn du es nicht tust, stecke ich dich an, und deine Haut verbrennt.«

Prinzessin Violet drückte ihr die Puppe in die Hand. »Hier. Bitte, Rachel, verbrenn mich nicht. Ich habe Angst vor Feuer.«

Rachel nahm die Puppe mit links und drückte sie an sich. Sie hielt den Feuerstab immer noch an die Prinzessin. Sie bekam Mitleid mit ihr. Dann dachte sie daran, wie sehr ihr Gesicht brannte. Mehr als je zuvor.

»Vergessen wir es einfach, Rachel. Du kannst die Puppe behalten, einverstanden?« Ihre Stimme war jetzt richtig nett, nicht mehr so ekelhaft wie zuvor.

Rachel wußte, das war ein Trick. Sobald die Wachen auftauchten, würde die Prinzessin befehlen, ihr den Kopf abzuschlagen. Dann würde Prinzessin Violet erst richtig über sie lachen, und Sara würde sie auch ins Feuer werfen.

»Steig in den Kasten«, befahl Rachel. »Dann siehst du mal, ob dir das gefällt.«

»Was!«

Rachel drückte den Feuerstab etwas fester an Violet. »Sofort, sonst verbrenne ich dich.«

Sie bewegte sich langsam, den Feuerstab im Rücken. »Überleg dir, was du tust, Rachel. Willst du wirklich…«

»Sei still und klettere hinein. Es sei denn, du willst, daß ich dich verbrenne.«

Die Prinzessin ging auf die Knie und kletterte hinein. Rachel sah ihr nach.

»Bis ganz hinten durch.«

Sie tat es. Rachel schloß die Tür mit einem Knall, ging zur Schublade und holte den Schlüssel. Sie verschloß die Eisentür an dem eisernen Kasten und steckte den Schlüssel ein. Dann kniete sie sich hin und sah durch das kleine Fenster hinein. In der Dunkelheit waren die Augen der Prinzessin kaum zu erkennen.

»Gute Nacht, Violet, schlaf jetzt. Ich werde heute nacht in deinem Bett schlafen. Ich hab’ deine Stimme satt. Wenn du den geringsten Lärm machst, komme ich rüber und setze deine Haut in Flammen. Hast du verstanden?«

»Ja«, kam es schwach durch das dunkle Loch in der Tür.

Rachel legte Sara weg, dann zog sie das Fell heran und warf es über den Kasten, bis es ihn ganz verdeckte. Dann sprang sie aufs Bett, damit es quietschte und Prinzessin Violet dachte, sie würde darin schlafen.

Lächelnd schlich Rachel auf Zehenspitzen zur Tür und drückte Sara an sich.

Nachdem sie denselben Weg wie zuvor zurückgegangen war, durch die Gänge der Dienstboten, warf sie vorsichtig einen Blick in die Halle und ging hinunter zu dem großen Tor mit den Wachen. Rachel sagte nichts. Sie hätte auch nicht gewußt, was. Sie blieb einfach stehen und wartete darauf, daß sie die Tür öffneten.

»Das war’s also. Du hast eine Puppe vergessen«, sagte der Posten.

Sie nickte bloß.

Sie hörte das Tor hinter sich zuschlagen und lief in die Dunkelheit, in den Garten. Es waren mehr Wachen unterwegs als gewöhnlich. Die normalen Wachen wurden von neuen begleitet, die anders gekleidet waren. Die neuen betrachteten sie argwöhnischer als die anderen, und sie bemerkte, wie die alten ihnen erklärten, wer sie war. Sie drückte die Puppe fest an sich und mußte sich zusammenreißen, um nicht loszurennen.

Das Bündel mit dem Brot und dem Kästchen darin befand sich noch am alten Platz: unter den Blumen. Rachel zog es hervor, hielt es mit einer Hand am Knoten und drückte Sara mit der anderen an ihre Brust. Auf dem Weg durch den Garten fragte sie sich, ob Prinzessin Violet noch immer glaubte, sie würde in dem großen Bett schlafen, oder ob sie den Trick durchschaut hatte und um Hilfe schrie. Wenn Violet um Hilfe schrie und die Wachen sie in dem Kasten gefunden hatten, würde man vielleicht schon nach ihr suchen. Sie hatte einen Umweg machen müssen, es hatte lange gedauert, bis ihre Füße sie unter dem ganzen Schloß hindurch und wieder nach oben getragen hatten. Rachel lauschte auf Rufe.

Sie konnte kaum atmen, so sehr hoffte sie, aus dem Schloß herauszukommen, bevor man sie verfolgte. Ihr fiel ein, daß Mr. Sanders gesagt hatte, man wolle das ganze Schloß durchsuchen. Sie wußte, was sie suchten. Das Kästchen. Sie hatte Giller versprochen zu fliehen. Es durfte ihnen nicht in die Hände fallen, damit sie nicht all den vielen Menschen weh tun konnten.

Auf dem Wehrgang der Mauer waren eine Menge Männer. Kurz vor dem Tor ging sie langsamer. Vorher hatten dort immer zwei Gardisten der Königin gestanden. Jetzt waren es drei. Zwei erkannte sie wieder, sie trugen die roten Hemden mit dem Wolfskopf, es waren Gardisten der Königin. Der andere jedoch war anders gekleidet, in schwarzem Leder, und er war viel größer. Einer der Neuen. Rachel wußte nicht, ob sie weitergehen oder weglaufen sollte. Aber wohin? Bevor sie wirklich fortlaufen konnte, mußte sie aus den Mauern heraus.

Rachel wurde bemerkt, bevor sie einen Entschluß fällen konnte. Also ging sie weiter. Einer der normalen Wachen drehte sich um, um den Riegel zu heben. Der neue Mann hob den Arm und stoppte ihn.

»Das ist nur die Gespielin der Prinzessin. Die Prinzessin schmeißt sie manchmal raus.«

»Niemand verläßt das Schloß«, sagte der Neue zu ihm.

Die normalen Wachen ließen wieder vom Tor ab. »Tut mir leid, Kleine, aber du hast ihn gehört. Niemand verläßt das Schloß.«

Rachel stand da und brachte keinen Laut hervor. Sie starrte den Neuen an, der auf sie herabblickte. Sie schluckte. Giller verließ sich darauf, daß sie das Kästchen nach draußen brachte. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie versuchte zu überlegen, was Giller tun würde.

»Also gut«, sagte sie endlich, »es ist kalt heute nacht. Ich würde sowieso lieber drinnen bleiben.«

»Na siehst du. Jetzt kannst du heute nacht im Schloß bleiben«, sagte der normale Posten.

»Wie heißt du?« fragte Rachel.

Er wirkte ein wenig überrascht. »Reid, Ulan der Königin.«

Rachel zeigte mit der Puppe in der Hand auf den anderen Posten. »Und du?«

»Walcot, Ulan der Königin.«

»Die Ulanen der Königin Reid und Walcot«, wiederholte sie für sich. »Gut, ich glaube, das kann ich behalten.« Dann zeigte sie auf den Neuen. »Und wie heißt du?«

Er hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Wozu willst du das wissen?«

Sie drückte Sara an ihre Brust. »Die Prinzessin hat mich angeschrien und mich für die Nacht rausgeschmissen. Wenn ich nicht gehe, wird sie fuchsteufelswild und schlägt mir den Kopf ab, weil ich nicht getan hab’, was sie gesagt hat. Deshalb will ich ihr sagen, wer mich nicht rausgelassen hat. Ich will eure Namen wissen, damit sie nicht denkt, ich hätte mir das ausgedacht, und sie euch selber fragen kann. Ich habe Angst vor ihr. Jetzt läßt sie Leuten auch schon die Köpfe abschlagen.«

Die drei wichen erschrocken einen Schritt zurück und sahen sich an. »Es stimmt«, meinte Reid, der Ulan der Königin, zu dem Neuen. »Die Prinzessin wird allmählich wie die Mutter. Ein nettes Früchtchen. Kein Wunder. Die Königin macht ihr mächtig Druck, damit sie erwachsen wird.«

»Keiner verläßt das Schloß. So lautet unser Befehl.«

»Also wir beide sind dafür, die Befehle der Prinzessin zu befolgen.« Ulan Reid drehte sich ein Stück zur Seite und spuckte. »Wenn du darauf bestehst, sie drinnen zu lassen, einverstanden, solange klar ist, wessen Kopf auf dem Block landet. Wenn es soweit kommt, haben wir dir gesagt, du sollst sie rauslassen, genau wie die Prinzessin es befohlen hat. Auf den Block gehen wir nicht mit dir.« Der andere, Walcot, nickte. Er war derselben Ansicht. »Jedenfalls nicht, weil ein kleines Mädchen, kaum größer als so, uns gedroht hat.« Er hielt die Hand in Höhe ihres Kopfes. »Ich werde ihnen jedenfalls nicht erklären, wieso drei kräftige Soldaten wie wir sich einig waren, daß sie gefährlich ist. Es ist dein Befehl, aber dich kostet es den Kopf und nicht uns, wenn du dich der Prinzessin widersetzt.«

Der Neue blickte auf sie herab. Er wirkte ziemlich aufgebracht. Er sah die beiden anderen eine Weile an, dann wieder sie. »Na schön, es steht ja wohl fest, daß sie keine Bedrohung darstellt. Der Befehl war als Schutz vor Bedrohungen gedacht, ich denke also…«

Ulan Walcot wollte den schweren Riegel an der Tür heben.

»Aber ich will wissen, was sie da hat«, sagte der Neue.

»Nur mein Abendessen und meine Puppe«, sagte Rachel und tat, als sei es ohne jede Bedeutung.

»Laß mal sehen.«

Rachel legte das Bündel auf den Boden und löste die Knoten. Sara gab sie ihm.

Er nahm Sara in seine große Pranke, drehte sie, musterte sie. Er stellte sie auf den Kopf und hob ihr Kleid mit seinem dicken Finger. Rachel trat ihm vors Schienbein, so fest sie konnte.

»Laß das! Hast du denn gar keinen Anstand?« brüllte sie.

Die beiden anderen Wachen grölten. »Irgendwas Gefährliches darunter entdeckt?« fragte Reid.

Der Neue sah die beiden anderen an und gab ihr Sara zurück. »Was hast du sonst noch?«

»Hab’ ich doch gesagt. Mein Abendessen.«

Er wollte sich vorbeugen. »So ein kleines Ding wie du braucht ja wohl kein ganzes Brot.«

Rachel rammte die Hand in die Tasche und schloß ihre Hand fest um den Feuerstab. Sie holte ihn raus und war bereit.

»Das ist meins!« schrie sie. »Laß die Finger davon!«

»Laß sie doch«, meinte Walcot zu dem Neuen. »Die kriegt wenig genug. Oder hast du den Eindruck, die Prinzessin überfüttert sie?«

Der Neue richtete sich auf. »Wohl kaum.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Geh schon. Mach, daß du wegkommst.«

Rachel steckte den Feuerstab zurück in die Tasche und knotete das Tuch über dem Brot und dem Essen wieder zusammen, so schnell sie konnte. Mit der einen Hand drückte sie Sara fest an sich und mit der anderen, ebenso fest, das Bündel. Dann huschte sie durch die Beine der Männer zum Tor hinaus.

Als sie hörte, wie es sich mit einem lauten, metallischen Klingen hinter ihr schloß, fing sie an zu rennen. Sie rannte so schnell sie konnte, ohne sich umzudrehen, denn sie hatte zuviel Angst, um nachzusehen, ob sie jemand verfolgte. Nach einer Weile mußte sie es einfach wissen und blieb schließlich stehen, um sicherzugehen. Kein Mensch. Außer Atem setzte sie sich zum Ausruhen auf eine dicke Wurzel mitten auf dem Weg. Die Umrisse des Schlosses, die Zinnen der Mauer, die Türme mit den Lichtern, hoben sich gegen den nächtlichen Sternenhimmel ab. Nie würde sie dorthin zurückkehren, niemals. Sie und Giller wollten dahin fliehen, wo die Menschen freundlich waren, und sie würden niemals zurückkommen. Sie japste noch nach Luft, als sie eine Stimme hörte.

»Rachel?« Es war Sara.

Sie legte Sara auf den Schoß, oben auf das Bündel. »Jetzt sind wir in Sicherheit, Sara. Wir sind entwischt.«

Sara lächelte. »Da bin ich aber froh, Rachel.«

»Wir werden nie wieder an diesen gemeinen Ort zurückkehren.«

»Rachel, Giller möchte, daß du etwas weißt.«

Sie mußte sich vorbeugen. Saras Stimme war kaum zu verstehen. »Was denn?«

»Daß er nicht mitkommen kann. Du mußt ohne ihn gehen.«

Rachel kamen die Tränen. »Aber ich will, daß er mitkommt.«

»Würde er auch gerne, mehr als alles andere, Kind. Aber er muß dableiben und dafür sorgen, daß sie dich nicht finden, damit du fliehen kannst. Nur so bist du in Sicherheit.«

»Aber alleine habe ich Angst.«

»Du wirst nicht alleine sein, Rachel. Ich werde bei dir sein. Immer.«

»Aber was soll ich tun? Wo soll ich denn hin?«

»Du mußt weglaufen. Giller meint, du darfst nicht zurück in deine alte Launenfichte, dort werden sie dich finden.« Rachel machte große Augen, als sie das hörte. »Geh zu einer anderen Launenfichte und am nächsten Tag wieder zu einer anderen, lauf einfach weiter und versteck dich, bis der Winter kommt. Dann mußt du nette Menschen suchen, die sich um dich kümmern.«

»Na gut, wenn Giller das sagt, werde ich das tun.«

»Rachel, Giller hat dich sehr lieb.«

»Ich habe ihn auch lieb«, sagte Rachel. »Lieber als alles andere.«

Die Puppe lächelte.

Urplötzlich erstrahlte der Wald in gelbblauem Licht. Sie hob den Kopf. Dann hörte sie plötzlich einen lauten Knall. Sie sprang auf. Ihr Unterkiefer klappte herunter, und sie riß die Augen auf.

Vom Schloß her, aus dem Innenhof, kam ein gigantischer Feuerball geflogen.

Der Feuerball stieg in die Luft. Funken stiebten, und schwarzer Rauch quoll daraus hervor. Als es höher stieg, verwandelte sich das Feuer in schwarzen Rauch, bis alles wieder dunkel war.

»Hast du das gesehen?« fragte sie Sara.

Sara antwortete nicht.

»Hoffentlich geht es Giller gut.«

Sie schaute auf die Puppe herab, doch die sagte nichts, lächelte nicht einmal.

Rachel drückte Sara an sich und hob das Bündel auf.

»Wir machen uns besser auf den Weg, wie Giller gesagt hat.«

Als sie am See vorbeikam, schmiß sie den Schlüssel zu ihrem Schlafkasten so weit sie konnte ins Wasser. Sie lächelte, als sie ihn hineinplumpsen hörte.

Sara schwieg, als sie vom Schloß fortliefen, den Weg hinab. Rachel mußte daran denken, was Giller gesagt hatte, daß sie nicht in dieselbe Launenfichte durfte. Sie bog ab und lief einen Wildwechsel entlang, durch Dornendickicht in eine andere Richtung.

Nach Westen.

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