11

Richard griff nervös zum Heft, als er die vier Pferde in der Staubwolke sah, die sich im Licht der untergehenden Sonne golden verfärbte. Kurz darauf erreichte ihn das Geräusch donnernder Hufe. Der einsame Reiter saß tief über sein Roß gebeugt und trieb es voran. Richard überprüfte den lockeren Sitz des Schwertes durch ein kurzes Herausziehen, dann ließ er es zurückgleiten. Der dunkelgekleidete Reiter kam näher. Richard kannte ihn.

»Chase!«

Der Grenzposten brachte die Pferde vor ihnen zum Stehen. Der Staub legte sich, und er blickte auf sie herab. »Anscheinend seid ihr wohlauf.«

»Chase, wie schön, dich zu sehen!« strahlte Richard. »Wie hast du uns gefunden?«

Er machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich bin ein Grenzposten.« Offenbar hielt er das für eine ausreichende Erklärung. »Habt ihr gefunden, was ihr gesucht habt?«

»Nein«, mußte Richard mit einem Seufzer gestehen. Dann sah er die kleinen Arme, die sich an Chase’ Seite klammerten. Ein winziges Gesicht lugte hinter seinem schwarzen Umhang hervor. »Rachel? Bist du das?«

Ihr Gesicht schob sich weiter vor, und sie fing an zu grinsen. »Richard! Ich bin ja so froh, dich wiederzusehen. Ist Chase nicht prima? Er hat mit einem Gar gekämpft und mich gerettet. Sonst wäre ich gefressen worden.«

»Ich habe nicht mit ihm gekämpft«, brummte Chase. »Ich habe ihm lediglich einen Bolzen durch den Schädel gejagt, das ist alles.«

»Aber du hättest es getan. Er ist der tapferste Mann, den ich je gesehen habe.«

Chase verzog gequält das Gesicht und verdrehte die Augen. »Habt ihr jemals ein häßlicheres Kind gesehen?« Er lehnte sich zurück und sah sie an. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Gar dich fressen will.«

Rachel schlang glucksend die Arme um ihn. »Sieh mal, Richard.« Sie hielt ihm einen Fuß hin und zeigte ihre Schuhe. »Chase hat einen Bock geschossen. Er meinte, es sei ein Fehler, weil er zu groß war, also hat er ihn bei einem Mann eingetauscht. Aber zum Tauschen hatte der Mann nur diese Schuhe und diesen Umhang. Sind sie nicht prima? Chase hat gesagt, ich darf sie behalten.«

Richard strahlte sie an. »Ja, sie sind wirklich sehr hübsch.« Er sah Rachels Puppe und das Bündel mit dem Brot zwischen ihr und Chase stecken. Er sah auch, wie ihr Blick immer wieder zu Siddin hinüberwanderte, so als hätte sie ihn schon einmal gesehen.

Kahlan legte Rachel eine Hand aufs Bein. »Warum bist du weggelaufen? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«

Rachel zuckte zusammen, als Kahlan sie berührte. Sie schlang einen Arm um Chase und stopfte eine Hand in ihre Tasche. Kahlans Frage beantwortete sie nicht, statt dessen starrte sie Siddin an. »Warum ist er bei euch?«

»Kahlan hat ihn gerettet«, erklärte Richard. »Die Königin hatte ihn in den Kerker gesperrt. Aber kleine Jungen gehören da nicht hin, daher hat sie ihn herausgeholt.«

Rachel sah zu Kahlan hinunter. »War die Königin da nicht sehr wütend?«

»Ich erlaube niemandem, Kinder weh zu tun«, sagte Kahlan. »Nicht einmal einer Königin.«

»Steht hier nicht einfach so herum. Ich habe euch Pferde mitgebracht. Steigt auf. Ich war sicher, ich würde euch heute einholen. An eurem Lagerplatz von vergangener Nacht, gleich auf dieser Seite des Callisidrin, wartet ein Wildschwein am Spieß auf euch.«

Mit einer Hand am Sattel und den anderen Arm um Siddin geschlungen, warf Zedd sich auf ein Pferd. »Wildschwein! Du Narr! Ein Wildschwein unbewacht zurückzulassen! Jeder, der vorbeikommt, könnte es einfach mitnehmen!«

»Was meinst du, warum ihr euch beeilen sollt? Es wimmelt dort von Wolfsspuren. Ich glaube allerdings nicht, daß er sich in die Nähe eines Feuers traut.«

»Laß bloß den Wolf in Ruhe«, warnte Zedd. »Er ist ein Freund der Mutter Konfessor.«

Chase sah erst Kahlan an, dann Richard, bevor er sein Pferd wendete und vorausritt in die untergehende Sonne. Jetzt, wo Chase wieder bei ihnen war, schöpfte Richard neuen Mut. Endlich hatte er wieder das Gefühl, daß alles möglich war. Kahlan stieg auf, nahm Siddin zu sich, und die beiden ritten lachend und schwatzend los.

Zedd verschwendete keine Zeit, als er im Lager angekommen war. Sofort sah er nach dem gerösteten Wildschwein und verkündete, es sei bereit, verspeist zu werden. Er zog seinen Umhang zurecht, setzte sich hin und wartete mit einem Grinsen auf seinem faltigen Gesicht, daß jemand mit einem Messer es anschnitt. Strahlend schmiegte sich Siddin an Kahlan, als sie sich gesetzt hatte. Richard und Chase machten sich daran, das Wildschwein anzuschneiden. Rachel wich Chase nicht von der Seite. Sie beobachtete ihn, behielt Kahlan im Auge, ihre Puppe auf dem Schoß und das in ein Tuch gehüllte Brot dicht neben sich.

Richard löste ein großes Stück heraus und reichte es Zedd. »Was ist also passiert? Mit meinem Bruder, meine ich.«

Chase schmunzelte. »Als ich ihm sagte, was du mir aufgetragen hast, meinte er, er würde dir helfen, wenn du in Schwierigkeiten bist. Er hat die Armee zusammengezogen, die wir dann größtenteils auf Verteidigungspositionen entlang der Grenze verteilt haben. Das Kommando haben die Grenzposten übernommen. Nach dem Fall der Grenze wollte er nicht zurückbleiben und warten. Er hat tausend seiner besten Männer in die Midlands geführt. Im Augenblick haben sie im Rang’Shada-Gebirge ihr Lager aufgeschlagen und warten nur darauf, dir zu Hilfe zu eilen.«

Richard hörte auf, das Wildschwein zu zerlegen, und machte ein überraschtes Gesicht. »Tatsächlich? Das hat mein Bruder wirklich gesagt? Er ist gekommen, um mir zu helfen? Mit einer ganzen Armee?«

Chase nickte. »Er meinte, wenn du in der Sache drinsteckst, dann er auch.«

Richard spürte einen Stich des Bedauerns, weil er an Michael gezweifelt hatte. Er war stolz, weil sein Bruder alles stehen- und liegengelassen hatte, um ihm zu helfen. »Er war nicht böse?«

»Erst sah es ganz danach aus. Ich dachte, er würde mir bestimmt Ärger machen deswegen. Aber dann wollte er nur wissen, wie es dir geht, ob du in Gefahr bist und wo du steckst. Er meinte, schließlich würde er dich kennen, und wenn du die Angelegenheit für so wichtig hältst, dann würde er das auch tun. Er wartet bei seinen Leuten. Wahrscheinlich läuft er gerade nervös in seinem Zelt auf und ab. Ich muß gestehen, ich war auch überrascht.«

Richard machte ein ungläubiges Gesicht. »Mein Bruder zieht mit tausend Mann in die Midlands, um mir zu helfen.« Er warf Kahlan einen Blick zu. »Ist das nicht großartig?« Sie lächelte ihn bloß an.

Chase zerlegte das Wildschwein und warf ihm einen ernsten Blick zu. »Als ich sah, daß eure Spur nach Agaden führt, hatte ich euch für kurze Zeit schon aufgegeben.«

Richard hob den Kopf. »Du warst auch da?«

»Glaubst du, ich bin verrückt? Man wird nicht Chef der Grenzpatrouille, wenn man verrückt ist. Ich hatte schon überlegt, wie ich Michael deinen Tod beibringen soll. Dann fand ich eure Spur, die aus Agaden hinausführte.« Er runzelte die Stirn. »Wie seid ihr bloß lebend aus Agaden rausgekommen?«

Richard grinste ihn an. »Ich glaube, die guten Seelen…«

Rachel stieß einen Schrei aus.

Richard und Chase wirbelten mit dem Messer in der Hand herum. Richard hielt Chase zurück, bevor er sein Messer benutzen konnte.

Es war Brophy. »Rachel? Bist du das, Rachel?«

Sie nahm den Fuß ihrer Puppe aus dem Mund. Sie hatte die Augen aufgerissen. »Du sprichst wie Brophy«

Der Wolf wedelte mit dem Schwanz. »Weil ich Brophy bin!« Er kam auf sie zugetrabt.

»Brophy, wieso bist du ein Wolf?«

Er setzte sich vor sie auf seine Hinterpfoten. »Ein freundlicher Zauberer hat mich in einen verwandelt. Das war es, was ich sein wollte, und so hat er mich verwandelt.«

»Giller hat dich in einen Wolf verwandelt?«

Richard stockte der Atem.

»Richtig. Ich habe jetzt ein wunderbares, neues Leben.«

Sie schlang dem Wolf die Arme um den Hals. Brophy leckte ihr das Gesicht. Sie ließ es kichernd geschehen.

»Rachel«, sagte Richard. »Du hast Giller gekannt?«

Rachel schlang einen Arm um Brophys Hals. »Giller ist ein netter Mann. Er hat mir Sara geschenkt.« Ein verängstigter Blick zu Kahlan. »Du willst ihm etwas tun. Du bist eine Freundin der Königin. Du bist gemein.« Sie drückte sich zum Schutz an Brophy Brophy leckte lange ihr Gesicht. »Du täuschst dich, Rachel. Kahlan ist meine Freundin. Sie ist einer der nettesten Menschen auf der Welt.«

Lächelnd hielt Kahlan Rachel die Hand hin. »Komm zu mir.«

Rachel sah Brophy an. Er nickte. Sie machte einen Schmollmund und ging zu ihr.

Kahlan ergriff Rachels Hand. »Du hast gehört, wie ich etwas über Giller gesagt habe, stimmt’s?« Rachel nickte. »Rachel, die Königin ist ein böser Mensch. Wie böse, weiß ich erst seit heute. Giller war mein Freund. Als er mich verließ, um bei der Königin zu leben, dachte ich, er täte es, weil er auch böse und auf ihrer Seite sei. Ich habe mich geirrt. Ich würde Giller nie etwas tun, denn jetzt weiß ich, daß er immer noch mein Freund ist.«

Rachel sah Richard fragend an.

»Sie sagt die Wahrheit. Wir sind auf Gillers Seite.«

Rachel drehte sich zu Brophy um. Er war offenbar derselben Meinung.

»Du und Richard, ihr seid gar keine Freunde der Königin?«

Kahlan mußte lachen. »Nein. Wenn es nach mir geht, wird sie nicht mehr lange Königin sein. Und was Richard anbetrifft, er hat die Prinzessin mit dem Schwert bedroht. Ich glaube, damit hat er sich die Königin kaum zur Freundin gemacht.«

Rachel bekam große Augen. »Prinzessin Violet? Du hast Prinzessin Violet gedroht?«

Richard nickte. »Sie hat ein paar schlimme Dinge zu Kahlan gesagt. Ich habe ihr gedroht, wenn sie das noch einmal tut, schneide ich ihr die Zunge raus.«

Rachel klappte der Unterkiefer runter. »Und sie hat nicht befohlen, euch den Kopf abschlagen zu lassen?«

»Wir werden nicht zulassen, daß sie noch mehr Menschen den Kopf abschlagen läßt«, sagte Kahlan.

Rachel sah Kahlan mit Tränen in den Augen an. »Ich dachte, du wärst gemein und wolltest Giller etwas tun. Ich bin so froh, daß du nicht gemein bist.« Sie schlang Kahlan die Arme um den Hals und drückte sie fest. Kahlan drückte sie ebenso fest.

Chase beugte sich zu Richard vor. »Du hast das Schwert gegen die Prinzessin erhoben? Das ist ein Kapitalverbrechen, wie du weißt.«

Richard sah ihn kühl an. »Hätte ich die Zeit gehabt, ich hätte sie auch noch übers Knie gelegt und verdroschen.« Rachel mußte kichern, als sie das hörte. Richard grinste: »Du kennst die Prinzessin, hab’ ich recht?«

Das Lächeln verschwand. »Ich bin ihre Gespielin. Früher hab’ ich in einem schönen Haus gewohnt, zusammen mit anderen Kindern. Aber als mein Bruder tot war, ist die Königin gekommen und hat mich für die Prinzessin als Gespielin ausgesucht.«

Richard sah Brophy an. »Das war er?« Der Wolf nickte ernst. »Du hast also bei der Prinzessin gelebt. Sie war es, die dir die Haare so schief geschnitten hat, stimmt’s? Sie ist es, die dich schlägt.«

Rachel zog eine Schnute und nickte. »Zu allen ist sie so gemein. Jetzt befiehlt sie auch schon, irgendwelchen Leuten den Kopf abschlagen zu lassen. Ich hatte Angst, sie würde mir auch den Kopf abschlagen lassen, deswegen bin ich weggelaufen.«

Richard hockte sich neben sie. »Und dabei hat dir Giller geholfen, nicht wahr?«

Sie war den Tränen nahe. »Giller hat mir Sara geschenkt. Er wollte mit mir zusammen weglaufen. Aber dann ist dieser böse Mann gekommen. Vater Rahl. Er sah aus, als wäre er richtig wütend auf Giller. Giller meinte, ich soll weglaufen und mich bis zum Winter verstecken und mir dann eine neue Familie suchen, bei der ich leben kann.« Eine Träne kullerte ihr über die Wange. »Sara hat mir erzählt, daß er nicht mehr mitkommen kann.«

Richard legte ihr die Hände auf die Schultern. »Rachel. Zedd, Kahlan, Chase und ich, wir kämpfen gegen Darken Rahl, damit er niemandem mehr etwas zuleide tun kann.«

Sie drehte sich fragend zu Chase um.

Chase nickte. »Er sagt die Wahrheit, Kleines. Sag du ihm auch die Wahrheit.«

Er faßte sie noch fester an den Schultern. »Rachel, hat Giller dir dieses Brot gegeben?« Sie nickte. »Rachel, wir waren auf dem Weg zu Giller, um ein Kästchen zu besorgen, ein Kästchen, mit dem wir Darken Rahl daran hindern wollen, Menschen weh zu tun.

Wirst du es uns geben? Willst du uns helfen, Darken Rahl aufzuhalten?«

Sie sah ihn mit feuchten Augen an, dann lief sie los, holte das Brot und reichte es ihm mit einem tapferen Lächeln. »Es ist in dem Brot. Giller hat es dort mit Zauberkraft versteckt.«

Richard schlang die Arme um sie und hätte sie fast erdrückt. Er stand auf, drückte sie an sich und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie anfing zu kichern. »Rachel, du bist das tapferste, klügste und hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe!« Als er sie wieder absetzte, lief sie zu Chase und kletterte auf seinen Schoß. Er strich ihr durchs Haar und legte seine mächtigen Arme um sie. Lachend erwiderte sie seine Umarmung.

Richard nahm das Brot in beide Hände. Er hielt es Kahlan hin. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Er hielt es Zedd hin.

»Der Sucher hat es gefunden«, griente Zedd. »Dann sollte es der Sucher auch öffnen.«

Richard brach das Brot, und dort, mittendrin, steckte das juwelenbesetzte Kästchen der Ordnung. Er wischte sich die Hände an der Hose ab, zog es heraus und hielt es in den Schein des Feuers. Aus dem Buch der Gezählten Schatten wußte er, das glitzernde Kästchen, das sie jetzt sahen, war nur eine Hülle für das eigentliche Kästchen darunter. Aus dem Buch wußte er sogar, wie man die Hülle entfernte.

Er legte das Kästchen in Kahlans Schoß. Sie nahm es in die Hand und lächelte ihn an, wie sie ihn noch nie angelächelt hatte. Noch bevor er wußte, wie ihm geschah, hatte er sich vorgebeugt und Kahlan ein dicken Kuß gegeben. Sie bekam große Augen und erwiderte den Kuß nicht. Plötzlich wurde ihm mit Schrecken bewußt, was er getan hatte.

»Oh. Tut mir leid«, sagte er.

Sie lachte. »Es sei dir verziehen.«

Richard und Zedd umarmten sich lachend. Chase lachte schon vom Zusehen. Richard konnte es kaum fassen. Noch vor so kurzer Zeit hätte er beinahe aufgegeben, hatte er nicht mehr gewußt, was er noch tun oder wohin er noch gehen sollte, um Rahl aufzuhalten. Und jetzt hatten sie das Kästchen gefunden.

Er stellte es auf einen Stein, wo sie es alle im Schein des Feuers bewundern konnten, während sie das beste Abendessen verspeisten, das sie gehabt hatten, so weit Richard zurückdenken konnte. Richard und Kahlan berichteten Chase von ihren Abenteuern. Zu Richards großer Freude nervte es Chase, daß er damals in Southhaven Bill sein Leben verdankte. Chase berichtete ihm, wie er eine Armee von tausend Mann über das Rang’ShadaGebirge geführt hatte. Die langatmigen Geschichten über Dummheit und Bürokratie im Feld schienen ihm Spaß zu machen.

Rachel hatte sich in Chase’ Schoß zusammengerollt. Sie futterte, und er erzählte. Richard fand es erstaunlich, daß sie sich zum Schutz ausgerechnet den Furchterregendsten von allen ausgesucht hatte. Als er endlich mit seiner Geschichte fertig war, sah sie auf und fragte: »Chase, wo soll ich mich nun bis zum Winter verstecken?«

Er sah sie mit finsterem Blick an. »Du bist zu häßlich, dich kann man nicht allein herumlaufen lassen. Du würdest bestimmt von einem Gar gefressen.« Sie mußte lachen. »Ich habe noch andere Kinder, die sind auch alle häßlich. Da paßt du genau hin. Ich denke, ich nehme dich mit in mein Haus. Du kannst bei mir bleiben.«

»Wirklich, Chase?« wollte Richard wissen.

»Ich bin oft genug nach Hause gekommen und habe mich von meiner Frau mit einem neuen Kind überraschen lassen müssen. Ich denke, es wird Zeit, daß ich den Spieß einmal herumdrehe.« Er schaute auf Rachel hinunter, die sich an ihn klammerte wie an ein lebensrettendes Floß. »Aber ich habe ein paar Regeln. An die mußt du dich halten.«

»Ich tue alles, was du sagst, Chase.«

»Siehst du, da haben wir es schon, das ist die erste Regel. Keines meiner Kinder darf mich Chase nennen. Wenn du zur Familie gehören willst, mußt du mich Vater nennen. Und was dein Haar anbelangt, das ist viel zu kurz. Alle meine Kinder haben langes Haar, und das gefällt mir. Du wirst dir die Haare ein wenig wachsen lassen müssen. Außerdem bekommst du auch eine Mutter. Auf die mußt du hören. Und du mußt mit deinen neuen Geschwistern spielen. Meinst du, du schaffst das alles?«

Sie nickte, schmiegte sich an ihn und brachte kein Wort hervor. Tränen glitzerten in ihren Augen.

Aufgeregt aß jeder, bis er satt war. Selbst Zedd schien genug zu bekommen. Richard fühlte sich gleichzeitig erschöpft und voller Kraft, jetzt wo er endlich das Kästchen in den Händen hielt. Den schwierigen Teil hatten sie hinter sich, sie hatten das Kästchen vor Rahl gefunden. Jetzt mußten sie es nur noch bis zum Winter verstecken.

»Unsere Suche hat wochenlang gedauert«, meinte Kahlan. »Bis zum ersten Tag des Winters ist es noch ein Monat. Noch heute morgen schien das kaum genug Zeit, das Kästchen zu finden. Jetzt, wo wir es haben, ist es wie eine Ewigkeit. Was sollen wir tun, bis alles vorbei ist?«

Chase meldete sich als erster. »Wir selbst können das Kästchen beschützen, und wir haben tausend Mann zu unserem Schutz. Ein Vielfaches davon, sobald wir wieder jenseits der Grenze sind.«

Sie sah Zedd an. »Hältst du das für klug? Wir wären leicht zu entdecken. Tausend Mann, meine ich. Wäre es nicht besser, wir versteckten uns irgendwo allein?«

Zedd lehnte sich zurück und rieb sich den vollen Bauch. »Allein könnten wir uns besser verstecken, aber wir wären im Falle der Entdeckung auch angreifbarer. Vielleicht hat Chase recht. Eine Streitmacht von dieser Größe bietet eine Menge Schutz, und wenn wir wirklich müssen, können wir immer noch irgendwo Unterschlupf suchen.«

»Wir sollten frühzeitig aufbrechen«, meinte Richard.

Es war kaum hell, als sie aufbrachen. Die Reiter ritten zur Straße, und Brophy verschwand in den Wäldern, von wo aus er sie im Auge behielt und gelegentlich vorauslief. Der waffenstarrende Chase führte sie im Trab an, Rachel klammerte sich an ihn. Kahlan hatte wieder ihre Waldkleidung angelegt und ritt neben Zedd, Siddin auf dem Schoß.

Richard hatte drauf bestanden, daß Zedd das Kästchen trug; es war in ein Tuch gehüllt und an seinem Sattelknauf befestigt. Richard folgte als letzter und behielt alles im Auge, während sie rasch in die kalte Morgenluft hineinritten. Jetzt, mit dem Kästchen, fühlte er sich verletzbar. Es schien, als brauchte jemand sie nur anzusehen und wüßte Bescheid.

Richard hörte das Wasser des Callisidrin, noch ehe sie die letzte Biegung vor der Brücke hinter sich hatten. Zum Glück war die Straße menschenleer. Chase gab seinem Pferd die Sporen und näherte sich der großen Holzbrücke im Galopp, die übrigen gaben ihren Pferden die Fersen, um Schritt zu halten.

Richard wußte, was Chase vorhatte. Brücken, hatte der Grenzposten ihm immer wieder eingetrichtert, waren für jeden Unvorsichtigen das sichere Verderben. Richard sah sich nach allen Richtungen um, während die anderen vor ihm hinübergaloppierten. Alles schien ruhig.

Genau mitten auf der Brücke prallte er in vollem Galopp gegen etwas, das gar nicht dort war.

Benommen setzte Richard sich auf, verblüfft, daß er auf dem Boden saß und seine große Mähre mit den anderen Pferden weiterlaufen sah, bis sie bei ihnen stehenblieb und sich umdrehte. Verwirrt sahen die anderen sich um, als Richard sich benommen und wie betäubt mühevoll aufrappelte. Er bürstete sich ab und wollte hinkend seinem Pferd nachsetzen. Bevor er die Mitte der Brücke erreicht hatte, prallte er zum zweiten Mal gegen das Hindernis. Es war, als liefe er gegen eine Wand aus Stein, aber zu sehen war nichts.

Zum zweiten Mal fand er sich auf dem Boden sitzend wieder. Die anderen standen um ihn herum, als er wieder auf die Beine kam.

Zedd war abgestiegen, hielt die Zügel in einer Hand und half Richard mit der anderen auf. »Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht«, brachte Richard hervor. »Es ist, als wäre ich gegen eine Mauer gelaufen, mitten auf der Brücke. Wahrscheinlich bin ich einfach nur heruntergefallen, das ist alles. Ich glaube, es geht schon wieder.«

Zedd sah sich um und führte ihn mit einer Hand am Ellenbogen weiter. Er war noch nicht weit gekommen, als er wieder dagegen stieß, aber diesmal bewegte er sich langsam, er wurde nicht zu Boden gestoßen, sondern nur ein paar Schritte zurück. Zedd wirkte ernsthaft besorgt. Richard streckte die Hände vor und tastete die feste, glatte Wand ab, die nur ihn, nicht aber die anderen, am Weitergehen hinderte. Bei der Berührung wurde ihm schwindelig und übel. Zedd spazierte vor und zurück durch die unsichtbare Barriere.

Der Zauberer blieb dort stehen, wo die Mauer zu sein schien. »Geh zurück bis zum Ende der Brücke, und dann komm auf mich zu.«

Seine Beule abtastend, marschierte Richard zum Anfang der Brücke zurück. Kahlan sprang dicht neben Zedd vom Pferd. Brophy erschien an ihrer Seite und wollte wissen, was es für Schwierigkeiten gab. Diesmal hielt Richard beim Gehen die Hände vor sich ausgestreckt.

Er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er gegen etwas Festes stieß und nicht weiterkam. Bei der Berührung wurde ihm schlecht, er mußte zurückweichen.

Zedd rieb sich das Kinn. »Verdammt!«

Die anderen gingen zu Richard, da er nicht mehr zu ihnen kommen konnte. Zedd führte ihn ein zweites Mal ein Stück nach vorn. Beim Aufprall wich er ein Stück zurück.

Zedd ergriff Richards linke Hand. »Berühr es mit der anderen Hand.«

Richard tat es, bis ihm so übel wurde, daß er die Hand zurückziehen mußte. Zedd schien es durch Richard hindurch ebenfalls zu fühlen. Mittlerweile befanden sie sich am Brückenpfeiler. Mit jeder Berührung wich das Ding ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Verdammt! Verdammt noch mal!«

»Was ist das?« wollte Richard wissen.

Zedd blickte zu Kahlan und Chase hinüber, bevor er antwortete. »Es handelt sich um einen Sperrzauber.«

»Was ist ein Sperrzauber?«

»Dieser miese Künstler hat ihn gezeichnet, dieser James. Um dich herum. Du hast ihn bei der ersten Berührung aktiviert. Mit jeder Berührung zieht er sich fester wie eine Schlinge. Wenn wir ihn nicht beseitigen können, wird er so lange schrumpfen, bis du das einzige bist, das in ihm enthalten ist. Du wirst dich nicht mehr bewegen können.«

»Und dann?«

Zedd richtete sich auf. »Die Sperre ist giftig. Wenn der Zauber sich wie ein Kokon ganz um dich geschlossen hat, wird er dich entweder zerquetschen, oder das Gift bringt dich um.«

Kahlan packte Zedd am Ärmel seines Gewandes. Panik stand in ihren Augen. »Wir müssen zurück! Wir müssen ihn befreien!«

Zedd riß sich los. »Natürlich müssen wir das. Wir werden die Zeichnung finden und sie ausradieren.«

»Ich weiß, wo sich die heiligen Höhlen befinden«, schlug Kahlan vor, packte ihren Sattelknauf und stellte einen Fuß in den Steigbügel.

Der Zauberer machte kehrt und holte sein Pferd. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Reiten wir los.«

»Nein«, sagte Richard.

Alles drehte sich um und starrte ihn an.

»Es bleibt uns nichts anderes übrig, Richard«, sagte Kahlan.

»Sie hat recht, mein Junge. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Nein.« Er blickte in ihre verblüfften Gesichter. »Genau das wollen sie doch. Du hast gesagt, dieser Künstler könne weder dich noch Kahlan mit einem Fluch belegen, also hat er es mit mir getan, in dem Glauben, uns auf diese Weise alle zurückzuholen. Das Kästchen ist zu wichtig. Das Risiko dürfen wir nicht eingehen.« Er sah Kahlan an. »Erklär mir einfach, wo diese Höhlen sind. Und Zedd, du sagst mir, wie man diesen Zauber loswird.«

Kahlan packte die Zügel von ihrem und Richards Pferd und zog sie ein Stück vor. »Um das Kästchen können sich Zedd und Chase kümmern, ich komme mit dir.«

»Nein, das wirst du nicht! Ich reite allein. Das Schwert wird mich beschützen. Das Kästchen ist das einzige, was zählt, es ist unsere wichtigste Pflicht. Sein Schutz hat absoluten Vorrang. Sag mir einfach, wo die Höhlen sind und wie man den Zauber bricht. Ich reite euch nach, sobald ich damit fertig bin.«

»Richard, ich finde…«

»Nein! Es geht jetzt darum, Darken Rahl aufzuhalten, und nicht um irgendeinen von uns. Dies ist keine Bitte, sondern ein Befehl!«

Sie richteten sich auf. Zedd und Kahlan sahen sich an. »Sag ihm, wo die Höhlen sind.«

Verärgert gab Kahlan Zedd die Zügel ihres Pferdes und schnappte sich einen Stock vom Boden. Sie zeichnete eine Karte in den Staub der Straße und fuhr mit dem Stock an einer der Linien entlang. »Das hier ist der Callisidrin, und das hier ist die Brücke. Dies hier ist die Straße, hier ist Tamarang und das Schloß.« Sie zeichnete eine Straße nördlich der Stadt ein. »Hier, in diesen Hügeln nordöstlich der Stadt, gibt es einen Fluß, der zwischen Zwillingshügeln hindurchfließt. Sie befinden sich ungefähr eine Meile südlich einer kleinen Brücke, die den Fluß überquert. Zum Fluß hin sind die Hügel schroff und steil. Die heiligen Höhlen befinden sich in den Klippen auf der Nordostseite des Flusses. Dort hat der Künstler seinen Zauber gezeichnet.«

Zedd nahm ihr den Stock aus der Hand und brach zwei fingerlange Stücke ab. Eins davon rollte er zwischen den Handflächen. »Hier, damit kannst du den Fluch auslöschen. Ohne ihn zu sehen, kann ich dir nicht sagen, welchen Teil du auslöschen mußt, aber das müßte sich eigentlich feststellen lassen. Es handelt sich um eine Zeichnung, du kannst dir bestimmt einen Reim darauf machen. Das ist schließlich der Sinn eines gezeichneten Fluches. Du mußt in der Lage sein, dir einen Reim darauf zu machen, sonst wirkt er nicht.«

Das Stöckchen, das Zedd zwischen seinen Handflächen gerollt hatte, fühlte sich nicht mehr an wie Holz. Es war weich und klebrig. Richard steckte es ein. Zedd rollte das andere Stück zwischen seinen Handflächen. Er reichte es Richard; es war ebenfalls nicht mehr aus Holz. Es war schwarz, fast wie Holzkohle, aber härter.

»Hiermit«, meinte der Zauberer, »kannst du den Fluch übermalen und wenn nötig verändern.«

»Wie denn verändern?«

»Das kann ich dir nicht sagen, ohne ihn gesehen zu haben. Du wirst dir selbst ein Urteil bilden müssen. Und jetzt beeil dich. Ich finde, wir sollten trotzdem…«

»Nein, Zedd. Wir alle wissen, wozu Darken Rahl fähig ist. Nur das Kästchen zählt, und nicht einer von uns.« Er sah seinem alten Freund tief in die Augen. »Paß gut auf dich auf. Und auf Kahlan.« Er schaute hoch zu Chase. »Bring sie zu Michael. Michael kann das Kästchen besser beschützen als wir. Und wartet nicht auf mich. Ich hole euch wieder ein.« Richard blickte ihm scharf in die Augen. »Wenn nicht, soll niemand mich suchen kommen. Bringt einfach das Kästchen fort von hier. Verstanden?«

Chase sah ihn ernst an. »Bei meinem Leben.« Er gab Richard kurz einige Hinweise, wie er die Armee Westlands oben im Rang’Shada-Gebirge finden könnte.

Richard sah Kahlan an. »Paß auf Siddin auf. Keine Sorge, ich bin bald zurück. Und jetzt reitet endlich los.«

Zedd bestieg sein Pferd. Kahlan reichte dem Zauberer Siddin. Sie nickte Chase und Zedd zu. »Macht schon, reitet los. Ich komme in ein paar Minuten nach.«

Zedd wollte protestieren, aber sie schnitt ihm das Wort ab, er solle schon vorreiten. Sie sah den beiden Reitern und dem Wolf nach, wie sie über die Brücke und dann die Straße entlanggaloppierten, bevor sie sich zu Richard umdrehte.

Tiefe Sorgenfalten zerfurchten ihr Gesicht. »Richard, bitte, laß mich…«

»Nein.«

Mit einem Kopfnicken reichte sie ihm die Zügel seines Pferdes. Ihre grünen Augen waren voller Tränen. »In den Midlands gibt es Gefahren, von denen du keine Ahnung hast. Sei vorsichtig.« Eine Träne kullerte ihr über die Wange.

»Ich werde wieder bei dir sein, bevor du Zeit hast, mich zu vermissen.«

»Ich habe Angst um dich.«

»Ich weiß. Aber ich werde es schaffen.«

Sie sah ihn aus Augen an, in denen er sich hätte verlieren können. »Eigentlich sollte ich das nicht tun«, flüsterte sie. Kahlan schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen schnellen, verzweifelten Kuß.

Er nahm sie in die Arme und zog sie fest an sich, spürte ihre Lippen, hörte das leise Stöhnen, das sie ausstieß, spürte ihre Finger in seinem Haar, und für einen winzigen Augenblick vergaß er seinen eigenen Namen.

Wie benommen sah er zu, wie sie einen Stiefel in den Steigbügel stellte und sich in den Sattel schwang. Sie riß ihr Pferd herum, dicht neben ihn.

»Wage es nicht, irgendwelche Dummheiten zu machen, Richard Cypher. Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.« Er verriet ihr nicht, daß die größte Dummheit für ihn darin bestand, sie in Gefahr zu bringen. »Keine Sorge, ich bin wieder bei dir, sobald ich den Fluch losgeworden bin. Paß auf das Kästchen auf. Es darf Rahl nicht in die Hände fallen. Das ist es, was zählt. Und jetzt reite los.«

Er stand da, hielt die Zügel seines Pferdes in der Hand und sah ihr nach, wie sie über die Brücke galoppierte und in der Ferne verschwand.

»Ich liebe dich, Kahlan Amnell«, hauchte er.

Mit einem ermutigenden Klaps auf die graue Stelle am Hals seines Rotbraunen lenkte Richard das kräftige Pferd nach Überqueren der kleinen Brücke von der Straße herunter, gab ihm die Sporen und eilte am Flußufer entlang. Das Pferd lief mühelos, sprengte mit den Hufen in das flache Wasser, sobald Gebüsch den Weg am Ufer versperrte. Rings um den Fluß erhoben sich sonnenbeschienene, meist kahle Hügel. Als das Ufer steiler wurde, führte er das Pferd auf höhergelegenes Gelände, wo er besser vorankam. Richard hielt Ausschau, ob ihm jemand folgte oder beobachtete, entdeckte jedoch niemanden. Die Hügel wirkten verlassen.

Weiße Kalksteinklippen ragten zu beiden Seiten des Flusses auf, zerfurchte Steilwände identischer Hügel, die sich über das Wasser zu grätschen schienen. Richard sprang ab, ehe sein Pferd noch zum Stehen gekommen war. Er sah sich um und band es an einen Färberbaum, dessen rote Beeren bereits eingetrocknet und verschrumpelt waren. Als er das steile Ufer hinabkletterte, rutschten seine Stiefel über loses Geröll. Mitten durch den Erdrutsch aus Steinen und Staub führte ein schmaler Pfad. Er folgte ihm und gelangte zur breiten Öffnung einer Höhle.

Mit einer Hand am Heft des Schwertes warf er einen Blick hinein. Er suchte den Künstler oder wen auch immer. Niemand war zu sehen. Gleich hinter dem Höhleneingang begannen die Wandzeichnungen. Jede freie Stelle war mit ihnen bedeckt, bis tief hinein in die Dunkelheit.

Richard war überwältigt. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende. Manche waren klein, nicht größer als eine Hand, andere waren größer, so groß wie er. Jede stellte eine andere Szene dar. In den meisten Zeichnungen war nur eine Person dargestellt, ein paar zeigten Szenen mit vielen Menschen. Sie stammten deutlich sichtbar von verschiedener Hand. Einige waren sehr realistisch wiedergegeben, mit Schatten und Schlaglichtern: Menschen mit gebrochenen Gliedmaßen oder beim Trinken aus Schalen mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen darauf oder neben Feldern mit verdorrter Ernte. Andere Zeichnungen offenbarten nur wenig Talent. Deren Figuren waren nicht viel mehr als einfache Strichmännchen. Die dargestellten Szenen jedoch waren nicht weniger gruselig. Die künstlerische Begabung des Zeichners spielte vermutlich keine Rolle. Was zählte, war die Botschaft.

Richard entdeckte einige Zeichnungen von verschiedener Hand, doch über das gleiche Thema. Eine Person, manchmal von einer Art Karte umgeben, immer jedoch mit einem Kreis, auf dem irgendwo ein Schädel und gekreuzte Knochen zu sehen waren.

Sperrzauber.

Aber wie sollte er seinen finden? Überall waren Zeichnungen. Er wußte nicht, wie die Zeichnung seines Zaubers aussah. Mit wachsender Panik suchte er die Höhlenwände ab, drang immer tiefer in die Dunkelheit vor. Im Vorübergehen strich er mit der Hand über die Zeichnungen, versuchte, jede einzelne zu betrachten, um seine nicht zu übersehen. Die Zahl der Zauber war überwältigend. Seine Augen schweiften ohne klares Ziel auf der Suche nach etwas Vertrautem hin und her.

Richard arbeitete sich in die Dunkelheit vor. Möglicherweise hatten die Zeichnungen irgendwo ein Ende, und vielleicht befand sich dort die letzte Zeichnung. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Er ging zum Eingang zurück, um eine der Schilfrohrfackeln zu holen, die er dort gesehen hatte.

Er war noch nicht weit gekommen, als er gegen die unsichtbare Mauer stieß. Mit wachsender Panik stellte er fest, daß er in der Höhle gefangen war. Die Zeit lief ihm davon. Die Fackeln waren außer Reichweite.

Er rannte zurück in die Dunkelheit, suchte die Wände ab. Er konnte die Zeichnungen kaum mehr erkennen, und immer noch war kein Ende zu sehen. Ihm kam ein Gedanke, der ihm überhaupt nicht behagte.

Sollte die Not je groß genug sein. Der Stein der Nacht.

Er hatte keine Zeit zu verlieren und zerrte den Lederbeutel aus seinem Bündel. Er betrachtete ihn in seiner Hand und überlegte, ob ihm der Stein helfen oder nur noch mehr Ärger bescheren würde. Noch mehr Ärger konnte er nicht gebrauchen. Er mußte an die Male denken, als der Stein den Beutel verlassen hatte. Jedesmal hatte es eine Weile gedauert, bis die Schattenwesen erschienen waren. Wenn er den Stein nur einen kurzen Augenblick herausholte, einen Blick in die Dunkelheit warf und ihn wieder zurücksteckte, hätte er vielleicht gerade genug Zeit, bevor ihn die Schattenwesen entdeckten. Er wußte nicht, ob es eine gute Idee war.

Sollte die Not je groß genug sein.

Er ließ den Stein in seine Hand fallen. Licht erfüllte die Höhle. Richard verschwendete keine Zeit mit einzelnen Zeichnungen, sondern eilte rasch tiefer hinein, um das Ende zu suchen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der erste Schatten Gestalt annahm. Er war immer noch ein gutes Stück entfernt, also lief er weiter.

Endlich hatte er die letzten Zeichnungen erreicht. Und die Schatten ihn — fast. Er stopfte den Stein zurück in den Lederbeutel. In der absoluten Dunkelheit hielt er mit aufgerissenen Augen den Atem an und wartete auf die qualvolle tödliche Berührung. Nichts geschah. Das einzige Licht war ein heller Punkt, der Eingang. Aber zum Erkennen der Zeichnungen reichte es nicht. Er mußte den Stein wieder herausholen.

Davor jedoch tastete er mit den Fingern durch die Taschen und entdeckte das klebrige, weiche Holzstück, das Zedd ihm gegeben hatte. Er nahm es fest in die Hand und holte den Stein wieder hervor. Das Licht blendete ihn eine Sekunde lang. Suchend drehte er den Kopf.

Dann sah er sie. Der Mann in der Zeichnung war so groß wie er selbst, der Rest der Zeichnung war wesentlich größer. Die Zeichnung war grob, und doch erkannte er sich sofort. Das Schwert in der rechten Hand trug das Wort Wahrheit. Um die Figur herum war eine Karte gezeichnet, ganz ähnlich der, die Kahlan auf den Boden gemalt hatte. Auf der einen Seite führten die Linien außerhalb der Umgrenzung am Callisidrin entlang und quer über die Brücke. Dort war er dagegen gelaufen.

Die Schatten riefen seinen Namen. Er sah auf und erblickte Hände, die nach ihm griffen. Er stopfte den Stein in den Beutel, preßte sich mit dem Rücken an die Wand, auf seine Zeichnung, und lauschte. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, daß die Zeichnung zu groß war, um den ganzen Kreis rings um ihn auszulöschen. Wenn er nur einen Teil wegwischte, konnte er unmöglich wissen, wo sich die Lücke befand oder wie er die Lücke an der Stelle erzeugen sollte, die seinem Standort in der Höhle entsprach.

Er trat ein Stück zurück, um beim nächsten Mal, wenn er den Stein hervorholte, einen besseren Überblick zu haben. Er stieß an die unsichtbare Wand. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen. Die Wand hatte sich fast um ihn geschlossen. Er hatte keine Zeit mehr.

Er riß den Stein heraus und machte sich sofort daran, das Schwert auszuradieren, in der Hoffnung, damit seine Identität zu löschen und den Fluch von sich zu nehmen. Die Linien ließen sich nur unter großer Mühe entfernen. Er trat einen Schritt zurück, um besser sehen zu können, und stieß an die Wand. Die Schatten griffen nach ihm, riefen verführerisch seinen Namen.

Er steckte den Stein zurück in seine Tasche und stand schwer atmend in völliger Dunkelheit. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, brachte ihn an den Rand der Panik. Das Schwert zu ziehen und während der Arbeit an der Zeichnung die Schatten zu bekämpfen, kam nicht in Frage. Er hatte schon einmal gegen die Schatten gekämpft, und es hatte ihm alles abverlangt. Seine Gedanken rasten. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte das Schwert fortgewischt, aber das hatte nicht gereicht. Offenbar erkannte der Zauber ihn noch immer. Er konnte unmöglich alle Linien fortwischen, die ihn umgaben. Er keuchte verzweifelt.

Hinter ihm flackerte Licht auf. Er wirbelte herum. Ein Mann mit einer der Schilfrohrfackeln kam auf ihn zu, ein öliges Grinsen auf seiner Visage. Es war James, der Künstler.

»Ich hab’ mir gedacht, daß ich dich hier finde. Ich bin gekommen, um zuzusehen. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Seine Lache verriet Richard, daß er keinesfalls die Absicht hatte, ihm zu helfen. Im Licht der Fackel war die Zeichnung gut zu erkennen. Die unsichtbare Mauer drückte gegen seine Schulter und schob ihn gegen die Wand. Bei der Berührung durchfuhr ihn eine Welle aus Übelkeit und Schwindel. Er war jetzt nur noch einen Schritt von der Höhlenwand entfernt. In wenigen Augenblicken würde er eingeschlossen, zerdrückt oder vergiftet werden.

Richard wirbelte zur Zeichnung herum. Mit der einen Hand machte er sich an die Arbeit, mit der anderen kramte er in seiner Tasche. Er zog den Stock hervor, von dem Zedd behauptet hatte, mit ihm ließe sich die Zeichnung verändern.

James beugte sich blöde glucksend vor und sah ihm bei der Arbeit zu.

Das Glucksen verstummte. »Was machst du da?«

Richard antwortete nicht. Er entfernte die rechte Hand der Figur.

»Laß das!« brüllte James.

Richard achtete nicht auf ihn. Er radierte weiter. James warf die Fackel zu Boden und zog einen eigenen Zeichenstock hervor. Der Künstler warf rasch einige Striche hin, sein fettiges Haar fiel ihm ins Gesicht. Er zeichnete eine Figur. Einen weiteren Zauber. Eine zweite Chance würde Richard nicht bekommen, sollte James zuerst fertig werden, soviel stand fest.

»Hör auf damit, du Narr!« brüllte James, der sich rasend beeilte, seine Zeichnung fertigzustellen.

Die unsichtbare Wand preßte Richard an die Höhlenwand. Er hatte kaum noch genug Platz, seine Arme zu bewegen. James zeichnete ein Schwert und begann, es zu beschriften. Wahrheit.

Richard nahm seinen Zeichenstock und verband die beiden Handgelenke der Figur zu einem Stumpf, genau wie James ihn besaß.

Als er fertig war, ließ der Druck in seinem Rücken nach und auch die Übelkeit.

James schrie auf.

Richard drehte sich um und sah, wie er sich auf dem Boden der Höhle wand und sich kotzend zusammenkrümmte. Schaudernd ergriff Richard die Fackel.

Der Künstler sah mit flehendem Blick zu ihm auf. »Ich … wollte dich nicht töten … nur einfangen…«

»Wer hat dich beauftragt, diesen Zauber für mich zu zeichnen?«

James grinste ihn dünnlippig und böse an. »Die Mord-Sith«, flüsterte er. »Du wirst sterben…«

»Was ist das, eine Mord-Sith?«

Richard hörte, wie ihm die Luft aus dem Leib gepreßt wurde, hörte das Krachen von Knochen. James war tot. Richard konnte nicht behaupten, daß es ihm leid täte.

Was eine Mord-Sith war, wußte er nicht, er hatte aber auch nicht vor zu bleiben, bis er es herausgefunden hätte. Er kam sich plötzlich allein und verletzlich vor. Sowohl Zedd als auch Kahlan hatten ihn gewarnt. In den Midlands gab es vieles, viele magische Wesen, die gefährlich waren und von denen er nichts wußte. Er konnte die Midlands nicht ausstehen, haßte alle Magie. Er wollte einfach nur noch zurück zu Kahlan.

Richard rannte zum Eingang der Höhle, die Fackel warf er unterwegs fort. Er stürzte hinaus in die Sonne, hielt sich die Hände schützend vor die Augen und blieb abrupt stehen. Blinzelnd erkannte er einen Kreis von Leuten, die ihn umringten. Soldaten. Sie hatten Uniformen an aus dunklem Leder und Kettenhemden, trugen Schwerter auf dem Rücken und Streitäxte an ihren breiten Gürteln.

Davor, mit dem Gesicht zur Höhle und zu ihm, stand jemand, der anders aussah. Eine Frau mit langen, rotbraunen Haaren, die zu einem losen Zopf zusammengebunden waren. Sie war von Kopf bis Fuß in engsitzendes Leder gehüllt. Blutrotes Leder. Der einzige Farbtupfer inmitten des Blutrots war ein gelber Halbmond mit Stern quer über ihrem Bauch. Richard sah, daß die Männer den gleichen Halbmond mit Stern auf der Brust trugen, nur war er bei ihnen rot. Die Frau betrachtete ihn ohne jede Regung, bis auf den leichten Anflug eines Lächelns.

Richard stand breitbeinig da, bereit, sich zu verteidigen, die Hand am Heft des Schwertes. Er wußte nicht, was er machen sollte, hatte keine Ahnung, was sie vorhatten. Mit einem leichten Zucken der Augen deutete sie hinter ihn, nach oben. Richard hörte, wie zwei Männer sich aus dem Steilhang hinter ihm auf den Boden fallen ließen. Mit der Hand am Heft spürte er, wie der Zorn des Schwertes mit Macht in ihn hineindrängte. Er biß die Zähne zusammen und ließ es ungehemmt geschehen.

Die Frau schnippte mit den Fingern, ein Zeichen für die Männer hinter ihm, dann zeigte sie auf ihn. »Nehmt ihn fest.« Er hörte das Klirren von Stahl, der aus der Scheide gezogen wird.

Mehr brauchte Richard nicht zu wissen. Er war verhaftet.

Sendbote des Todes.

Er wirbelte herum, zog sein Schwert in großem Bogen. Er ließ seinem Zorn wie besessen freien Lauf. Er explodierte in seinem Körper. Sein Blick fand die Augen der beiden Männer. Die Kiefermuskeln angespannt, hatten sie die Schwerter aus den Scheiden auf ihrem Rücken gerissen.

Richard hielt das Schwert der Wahrheit hüfthoch. Legte seine ganze Kraft hinein und sein Gewicht. Sie senkten die Schwerter zur Verteidigung. Er schrie vor tödlicher Raserei auf. Mit tödlichem Haß. Mit tödlicher Gier. Er überließ sich vollkommen der Lust zu töten. Alles andere wäre sein eigenes Ende. Seine Schwertspitze pfiff durch die Luft.

Sendbote des Todes.

Heiße, zertrümmerte Stahlsplitter sirrten durch die klare Morgenluft.

Ein zweifaches Stöhnen. Beim Aufprall ein doppeltes, feuchtes Klatschen wie von überreifen Melonen, die am Boden zerplatzen. Das Innere in langen, roten Striemen nach außen gekehrt. Die oberen Hälften ihrer toten Körper gerieten ins Wanken, als die Beine unter ihnen wegsackten.

Das Schwert kreiste noch immer, zog eine Spur von roten Blutfäden hinter sich her. Er stellte seinen Zorn, seinen Haß, seine Gier auf ein neues Ziel ein. Die Frau gab die Befehle. Richard wollte ihren Lebenssaft. Die Zauberkraft durchströmte ihn ungehindert. Er schrie noch immer. Sie stand da, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Richard fand ihre Augen und veränderte den Kurs seines Schwertes leicht, damit er sie treffen konnte. Ihr breiter werdendes Grinsen nährte nur noch die Glut seines Zorns. Ihre Blicke trafen sich. Die Schwertspitze näherte sich pfeifend ihrem Kopf. Sein Bedürfnis zu töten wurde unumkehrbar.

Sendbote des Todes.

Der Schmerz der Magie des Schwertes traf ihn wie ein eisiger Wasserfall auf der nackten Haut. Die Klinge kam nie bei ihr an. Das Schwert fiel scheppernd zu Boden, während der Schmerz ihn auf die Knie riß und durch ihn hindurchschoß, daß er zusammenbrach.

Die Hand immer noch in die Hüfte gestemmt, das Lächeln immer noch im Gesicht, stand sie über ihm und sah zu, wie er sich die Arme um den Unterleib schlang, Blut erbrach, daran zu ersticken drohte. Feuer brannte in jedem Zentimeter seines Körpers, riß ihm den Atem aus den Lungen. Verzweifelt versuchte er, die Magie in den Griff zu bekommen, den Schmerz zu überwinden, wie er es gelernt hatte. Mit wachsender Panik stellte er fest, daß er die Kontrolle über den Schmerz verloren hatte.

Die hatte jetzt sie.

Er fiel mit dem Gesicht in den Staub, versuchte zu schreien, Luft zu holen, konnte es nicht. Einen Augenblick lang dachte er an Kahlan, dann nahm ihm der Schmerz sogar das.

Keiner der Männer hatte sich aus dem Kreis fortbewegt. Die Frau setzte ihm einen Stiefel in den Nacken, stützte sich mit dem Ellenbogen auf das Knie und beugte sich vor. Mit der anderen Hand packte sie ihn in den Haaren und zog seinen Kopf zurück. Sie beugte sich vor. Leder knarzte.

»Sieh mal an«, fauchte sie. »Und ich dachte, ich müßte dich tagelang foltern, um dich wütend genug zu machen, damit du deine Magie gegen mich richtest. Nun, keine Sorge, ich habe auch noch andere Gründe, dich zu quälen.«

Trotz der Schmerzen war Richard eines klar: Er hatte einen entsetzlichen Fehler begangen. Irgendwie hatte er ihr die Kontrolle über die Magie des Schwertes überlassen. Jetzt saß er in der Klemme, tiefer als jemals zuvor. Kahlan war in Sicherheit, versuchte er sich einzureden, und das war alles, was zählte.

»Willst du, daß der Schmerz nachläßt, mein Kleiner?«

Die Frage erzürnte ihn. Seine Wut, sein Wunsch, sie zu töten, schnürte die Schmerzen fester. »Nein«, brachte er unter größter Anstrengung hervor.

Achselzuckend ließ sie seinen Kopf fallen. »Mir soll’s recht sein. Aber wenn du willst, daß die Qualen der Magie ein Ende haben, brauchst du bloß aufzuhören, all diese gemeinen Gedanken über mich zu denken. Von nun an werde ich die Zauberkraft deines Schwertes kontrollieren. Wenn du auch nur mit dem Gedanken spielst, mir ein einziges Haar zu krümmen, wird der magische Schmerz dich zermalmen.« Sie lächelte. »Es ist der einzige Schmerz, über den du die Kontrolle haben wirst. Denk einfach etwas Nettes über mich, und er läßt nach. Natürlich kann auch ich den magischen Schmerz kontrollieren und ihn dir zufügen, wann immer mir danach ist. Und ich kann dir noch andere Schmerzen bereiten, wie du noch erfahren wirst.« Ihr Gesicht wurde nachdenklich. »Sag mal, Kleiner, hast du eigentlich versucht, die Magie einzusetzen, weil du ein Narr bist oder weil du dich für tapfer hältst?«

Der Schmerz ließ ein ganz klein wenig nach. Er schnappte keuchend nach Luft.

»Wer … bist … du?«

Sie packte wieder seinen Haarschopf, riß seinen Kopf hoch und drehte ihn so, daß sie ihm in die Augen sehen konnte. Beim Vorbeugen jagte ihm der Stiefel in seinem Nacken einen stechenden Schmerz durch die Schulter. Er konnte die Arme nicht bewegen. Ihr Gesicht war zu einer neugierigen Fratze verzerrt.

»Du weißt nicht, wer ich bin? In den Midlands kennt mich jeder.«

»Ich … Westland.«

Sie zog entzückt die Brauen hoch. »Aus Westland! Du liebe Zeit! Wie wunderbar! Wird das ein Spaß werden.« Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Ich bin Denna. Herrin Denna für dich, mein Kleiner. Ich bin eine MordSith.«

»Ich werde … nicht verraten … wo Kahlan ist. Du kannst … mich ebenso … gleich töten.«

»Wer? Kahlan?«

»Die … Mutter Konfessor.«

»Mutter Konfessor«, wiederholte sie angeekelt. »Wozu in aller Welt sollte ich einen Konfessor brauchen? Wegen dir, Richard Cypher, hat Meister Rahl mich losgeschickt, und wegen niemandem sonst. Einer deiner Freunde hat dich bei ihm verraten.« Sie drehte seinen Kopf noch weiter herum, legte noch mehr Gewicht in den Stiefel. »Und jetzt habe ich dich. Ich hatte gedacht, es würde vielleicht schwierig werden, aber du hast mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Ich werde für deine Ausbildung verantwortlich sein. Aber das wirst du nicht wissen, schließlich bist du aus Westland. Eine Mord-Sith trägt immer Rot, wenn sie jemanden ausbilden soll. Dann sieht man das Blut nicht so. Ich habe das wunderbare Gefühl, ich werde eine Menge von deinem Blut auf mir haben, bis ich dich ausgebildet habe.« Sie ließ seinen Kopf fallen, verlagerte ihr Gewicht auf den Fuß in seinem Nacken und hielt ihm die Hand vors Gesicht. Er sah, daß der Rücken ihres Handschuhs gepanzert war, sogar die Finger. Ein blutroter Lederstab, ungefähr einen Fuß lang, hing, mit einer Goldkette verbunden, locker an ihrem Handgelenk. Er pendelte vor seinen Augen hin und her. »Das ist der Strafer. Er gehört zu den Dingen, mit denen ich dich ausbilden werde.« Sie lächelte ihn aalglatt an und zog eine Braue hoch. »Neugierig? Willst du mal sehen, wie er funktioniert?«

Denna drückte ihm den Straf er in die Seite. Der Schmerzensschock ließ ihn aufschreien, dabei hatte er keineswegs die Absicht, ihr die Befriedigung zu schaffen und ihr zu zeigen, wie sehr es schmerzte. Dieses Ding in seiner Seite ließ jeden Muskel in seinem Körper verkrampfen. Er hatte nur noch einen Gedanken, er wollte dieses Ding wieder los sein. Denna drückte ein wenig fester. Seine Schreie wurden lauter. Er hörte ein Knacken und spürte, wie eine Rippe brach.

Sie nahm den Strafer fort. Warmes Blut rann an seiner Seite herunter. Richard war schweißgebadet. Er lag keuchend im Dreck, Tränen liefen ihm aus den Augen. Der Schmerz schien jeden Muskel in seinem Körper zu zerreißen. Er hatte Staub im Mund — und Blut.

Denna grinste ihn grausam an. »Und nun, Kleiner, sag ›Danke, Herrin, daß du mir das gezeigt hast‹.« Ihr Gesicht kam näher. »Sag es.«

Richard nahm seine gesamte geistige Kraft zusammen, richtete seine Mordgier auf sie und stellte sich vor, wie das Schwert ihren Kopf spaltete. »Krepier, du Miststück.«

Denna schauderte, schloß halb die Augen und fuhr sich verzückt mit der Zunge über die Oberlippe. »Oh, welch köstliche erregende Vorstellung, mein Kleiner. Du wirst natürlich sehr ernsthaft bedauern, daß du sie gehabt hast. Deine Ausbildung wird mir gefallen. Zu schade, daß du nicht weißt, was eine Mord-Sith ist. Wüßtest du’s, hättest du sehr große Angst. Das würde mir noch besser gefallen.« Dank ihres Lächelns sah man ihr perfektes Gebiß. »Aber noch entzückender wird es sein, dich zu überraschen.«

Richard behielt die Vorstellung, wie er sie tötete, so lange vor seinem geistigen Auge, bis er in Ohnmacht fiel.

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