10

Die Stadt Tamarang war zu klein für die Menschenmassen, die hineindrängten, es waren einfach zu viele. Menschen strömten aus allen Richtungen herbei, suchten Schutz und Sicherheit, hatten das Land um die bebauten Viertel überschwemmt. Zelte und Hütten waren auf dem nackten Boden vor den Stadtmauern aus dem Boden geschossen und erstreckten sich bis in die Hügel. Am Morgen strömten die Menschen von den Hügeln in das improvisierte Marktviertel vor den Toren der Stadt. Menschen aus anderen Orten, Dörfern und Städten standen in planlos angelegten Straßen an windschiefen Ständen und verkauften, was immer sie zu bieten hatten. Straßenhändler boten alles feil von alten Kleidern bis hin zu elegantem Schmuck. An anderen Ständen stapelten sich Obst und Gemüse. Es gab Barbiere und Heiler und Wahrsager, Leute mit Papier, die Porträts zeichneten, oder Leute mit Egeln, die einem das Blut absaugen wollten. Überall wurden Wein und Schnaps verkauft. Trotz der Umstände ihrer Anwesenheit schienen die Menschen in festlicher Stimmung. Die scheinbare Sicherheit und der reiche Vorrat an Getränken, wie Richard vermutete. Überall wurde ausgiebig über die Wunder des Vater Rahl gesprochen. Inmitten kleiner Menschenaufläufe standen Erzähler und verkündeten die letzten Neuigkeiten, die neuesten Abscheulichkeiten. Das zerlumpte Volk stöhnte und wehklagte über die Grausamkeiten, begangen von Westländern. Rufe nach Rache wurden laut.

Richard entdeckte keine einzige Frau, deren Haar weiter als bis zum Kinn reichte.

Das eigentliche Schloß lag auf der Spitze eines steilen Hügels innerhalb der Stadtmauern und war von eigenen Befestigungsanlagen umgeben. Rings um die furchteinflößenden Burgmauern flatterten in gleichmäßigen Abständen die roten Banner mit dem Wolfskopf. Die riesigen Holztore der äußeren Stadtmauern waren geschlossen, offenbar um den Pöbel auf Distanz zu halten.

Berittene Patrouillen streiften durch die Straßen; ihre Rüstungen blitzten in der Mittagssonne, Lichtpunkte in einem Meer von lärmenden Menschen. Richard entdeckte eine Abteilung, die mit fliegendem Wolfskopfbanner über den Häuptern durch die neu angelegten Straßen fegte. Einige Menschen jubelten ihnen zu, manche verneigten sich, alle jedoch wichen zurück, als die Pferde vorbeigaloppierten. Die Soldaten beachteten sie nicht, ganz so, als wären sie Luft. Wer nicht schnell genug aus dem Weg ging, bekam einen Stiefel gegen den Kopf.

Doch vor Kahlan, der Mutter Konfessor, wichen die Leute noch respektvoller zurück, so wie eine Meute Straßenköter vor einem Stachelschwein.

Ihr weißes Kleid leuchtete in der Sonne. Sie ging aufrecht, als gehörte ihr die ganze Stadt. Sie hielt die Augen geradeaus und würdigte niemanden eines Blicks. Ihren Umhang zu tragen, hatte sie sich geweigert, weil er nicht angemessen sei. Außerdem wollte sie keinen Zweifel daran aufkommen lassen, wer sie war.

Die Menschen stürzten übereinander, in dem Bemühen, ihr auszuweichen. Wie eine Welle verbeugten sich alle, wenn sie vorbeiging. Getuschel machte sich breit. Kahlan achtete nicht auf die Verbeugungen. Zedd, der Kahlans Rucksack trug, ging neben Richard, zwei Schritte hinter ihr. Sowohl er als auch Richard ließen den Blick über die Menge schweifen. Seit er ihn kannte, hatte Richard Zedd nie einen Rucksack tragen gesehen. Zu behaupten, es sähe seltsam aus, wäre untertrieben. Richard hatte seinen Umhang hinter das Schwert der Wahrheit gehakt. Einige sahen ihn deswegen überrascht an, doch mit der Reaktion auf Kahlan war es nicht zu vergleichen.

»Ist es überall so, wohin sie auch kommt?« flüsterte Richard Zedd zu.

»Ich fürchte ja, mein Junge.«

Ohne Zögern schritt Kahlan über die massive Steinbrücke auf das Stadttor zu. Die Posten auf dieser Seite der Brücke traten zur Seite. Sie beachtete sie nicht. Richard ließ den Blick schweifen, für den Fall, daß sie einen Fluchtweg brauchten.

Die zwei Dutzend Posten am Stadttor hatten offenbar Befehl, niemanden hereinzulassen. Sie hatten in Hab-acht-Stellung gestanden. Jetzt sahen sie sich nervös an — einen Besuch der Mutter Konfessor hatten sie nicht erwartet. Metall klirrte, als einige zurückwichen und gegeneinanderstießen. Andere blieben hilflos stehen. Kahlan hielt an. Sie sah niemandem in die Augen. Sie starrte geradeaus auf die Tore der Stadt, als erwartete sie, daß sie sich in nichts auflösen würden. Die Posten direkt vor ihr drückten sich mit dem Rücken an das Holz und sahen ihren Hauptmann hilfesuchend an.

Zedd trat vor Kahlan und verbeugte sich tief, als wollte er sich dafür entschuldigen, daß er ihr im Wege stand, dann wandte er sich an den Hauptmann.

»Was ist mit dir? Bist du blind, Mann? Offne das Tor!«

Die dunklen Augen des Hauptmanns wanderten zwischen Kahlan und Zedd hin und her. »Tut mir leid, aber es darf niemand hinein. Und wie lautet dein Name …?«

Zedds Gesicht wurde leuchtend rot. Richard hatte alle Mühe, keine Miene zu verziehen. Die Stimme des Zauberers wurde zu einem leisen Fauchen. »Willst du etwa behaupten, man hätte dir aufgetragen, der Mutter Konfessor den Zutritt zu verwehren?«

Jede Selbstsicherheit schwand aus dem Blick des Hauptmanns. »Laut Befehl darf ich niemanden…«

»Öffne sofort das Tor!« blaffte Zedd ihn an, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Und schaffe augenblicklich eine angemessene Eskorte herbei!«

Fast wäre der Hauptmann aus seiner Rüstung gefahren. Er schrie ein paar Befehle, und sofort kamen Männer in seine Richtung gerannt. Die Tore schwenkten nach innen. Von hinten kamen Pferde herangedonnert, ritten um die kleine Gesellschaft herum und bildeten mit ihren Bannern voran eine Reihe vor Kahlan. Hinter ihr formierten sich weitere Reiter. Fußsoldaten eilten im Laufschritt herbei und formierten sich rechts und links in gebührendem Abstand.

Zum ersten Mal sah Richard ihre Welt, diese Einsamkeit. Kalt und schmerzhaft wurde ihm klar, warum sie einen Freund brauchte.

»Das soll eine angemessene Eskorte sein?« donnerte Zedd. »Na ja, fürs erste muß es genügen.« Er verneigte sich tief vor Kahlan. »Ich bitte um Vergebung, Mutter Konfessor, für die Unverfrorenheit dieses Mannes und seinen lächerlichen Versuch, eine Eskorte zusammenzustellen.«

Sie sah kurz zu Zedd hinüber und neigte kaum merklich den Kopf.

Ihr Körper in diesem Kleid brachte Richard zum Schwitzen.

Die Männer der Eskorte hielten, so gut es ging, ein wachsames Auge auf Kahlan gerichtet und warteten. Sie schlossen sich an, als sie weiterging. Rings um die Pferde wirbelte Staub auf, als sie durch das Tor ritten.

Zedd gesellte sich zu Richard, während sich die Prozession in Gang setzte, und wandte sich an den Hauptmann. »Du kannst dich mehr als glücklich schätzen, daß die Mutter Konfessor deinen Namen nicht kennt!« fauchte er ihn an.

Richard sah, wie der Hauptmann erleichtert zusammensackte, als sie ihn in sicherem Abstand passierten. Richard mußte innerlich grinsen.

Innerhalb der Stadtmauern herrschte ebenjene Ordnung, die außerhalb fehlte. Geschäfte mit Schaufensterauslagen säumten die strahlenförmig von dem festungsähnlichen Schloß ausgehenden Straßen. Hier fehlte der Staub und Gestank der Straßen draußen. Es gab Gasthäuser, die eleganter wirkten als alle, die Richard zuvor gesehen oder gar besucht hatte. Vor einigen waren Türsteher mit roten Uniformen und weißen Handschuhen postiert. Über den Türen hingen feingeschnitzte Schilder: Gasthaus zum Silbernen Garten, Collins Gasthaus, Zum Weißen Hengst, Die Kutsche.

Herren in feinen, farbenprächtigen Jacken, begleitet von Damen in prunkvollen Kleidern, gingen mit ruhiger Würde ihren Geschäften nach. In einem Punkt jedoch glichen die Menschen innerhalb der Mauern denen draußen, auch sie verneigten sich tief, sobald sie die Mutter Konfessor erblickten. Sobald das Geräusch von Hufen auf Stein und das Klirren der Rüstungen ihre Aufmerksamkeit erregte, machten sie Platz und verbeugten sich, wenn auch nicht ganz so eilfertig. Ihre Ehrerbietung hatte nichts Zackiges, ihrer Unterwürfigkeit fehlte der Ernst. In ihren Blicken zeigte sich eine Spur von Verachtung. Kahlan ignorierte sie. Auch bemerkten die Menschen innerhalb der Mauern eher das Schwert. Richard sah im Vorübergehen die Blicke der Männer, sah, wie sich die Wangen der Frauen vor Geringschätzung rot färbten.

Auch hier trugen die Frauen kurze Haare, doch gelegentlich reichten sie bei der einen oder anderen bis auf die Schultern. Länger aber nicht. Kahlan ragte deswegen um so mehr heraus, weil ihr Haar über ihre Schultern und einen Teil ihres Rückens herabfiel. Es gab keine Frau, deren Haar auch nur annähernd so lang war. Richard war froh, daß er es ihr nicht geschnitten hatte.

Einer der Reiter erhielt einen Befehl. Er brach aus der Reihe aus und galoppierte in rasendem Tempo zum Schloß, um die Ankunft der Mutter Konfessor zu verkünden. Kahlan behielt den ruhigen Gesichtsausdruck bei, der nichts verriet, einen Ausdruck, den Richard von ihr gewohnt war. Jetzt erkannte er seine Bedeutung. Es war der typische Ausdruck eines Konfessors.

Bevor sie das Schloßtor erreicht hatten, verkündeten Trompeten die Ankunft der Mutter Konfessor. Die Obergänge der Mauern schienen zu leben, überall waren Soldaten: Lanzenträger, Bogenschützen, Schwertträger. Sie alle standen in Reih und Glied und verbeugten sich wie ein Mann, als Kahlan vorbeikam, und verharrten in dieser Haltung, bis sie durch das eiserne Tor geschritten war, das man für sie geöffnet hatte. Auf der anderen Seite des Tores säumten Soldaten in Hab-acht-Stellung beide Seiten der Straße und verbeugten sich im Einklang mit ihrem jeweiligen Gegenüber, als sie passierte.

Auf einigen der Terrassen standen steinerne Vasen, die sich zu beiden Seiten im Nirgendwo verloren. Einige enthielten Grünpflanzen oder Blumen, die man täglich aus den Gewächshäusern herbeigeschafft haben mußte. Hecken in komplizierten Mustern, manchmal sogar als Irrgarten, erstreckten sich über weite, ebene Flächen. Näher an den Schloßmauern waren die Hecken höher und zu kleinen Szenen oder zu Tieren geschnitten. Sie erstreckten sich endlos zu beiden Seiten.

Vor ihnen ragten die Mauern des Schlosses in den Himmel. Das mächtige Bauwerk ließ Richard vor Ehrfurcht erstarren. Nie war er etwas von Menschenhand Geschaffenem von dieser Größe so nahe gewesen. Türme und Zinnen, Mauern und Rampen, Balkone und Erker, sie alle ragten hoch über ihren Köpfen in den Himmel. Staunend erinnerte er sich, daß Kahlan gemeint hatte, dies sei ein unbedeutendes Königreich. Wie mußten erst die Schlösser in den bedeutenderen Ländern aussehen!

Die Reiter hatten sie an der Brustwehr verlassen. Als sie vom Innern des Schlosses verschluckt wurden, marschierten die Fußsoldaten zu sechst nebeneinander, mit Platz für sechs weitere zu jeder Seite, durch das gewaltige, messingbeschlagene Portal, bevor sie sich zu beiden Seiten verteilten und die drei — Kahlan voran — allein weitergehen ließen.

Der Raum war gewaltig. Ein schimmerndes Meer aus schwarzem und weißem Marmor erstreckte sich vor ihnen. Polierte, geriffelte Säulen aus Stein, die so dick waren, daß zehn Menschen Hand in Hand sie gerade umarmen konnten, erhoben sich, umringt von aus Stein gehauenen Girlanden, in Reih und Glied zu beiden Seiten des Saales und stützten Reihe auf Reihe das zentrale Gewölbe der Decke. Richard kam sich so winzig vor wie eine Fliege.

Gewaltige Wandteppiche mit heroischen Darstellungen ausufernder Schlachten bedeckten die Wände zu beiden Seiten. Er hatte bereits Wandteppiche gesehen, auch sein Bruder besaß zwei. Richards Vater hatte eine Vorliebe für sie gehegt, und er hatte sie immer für einen Ausdruck von besonderem Luxus gehalten. Doch Michaels Wandteppiche verhielten sich zu diesen wie eine Zeichnung mit einem Stock im Staub zu einem eleganten Ölgemälde. Richard hatte nicht einmal gewußt, daß es derart majestätische Dinge überhaupt gab.

Zedd beugte sich ein wenig näher und flüsterte ihm etwas zu. »Hör auf, so herumzustieren, und mach den Mund wieder zu.«

Richard klappte gekränkt den Mund zu und richtete den Blick nach vorn. Er beugte sich zu Zedd vor und fragte ihn leise: »Das ist also Kahlans gewohnte Umgebung?«

»Nein«, höhnte Zedd. »Die Mutter Konfessor ist wesentlich Besseres gewöhnt.«

Richard war beeindruckt und richtete sich auf.

Vor ihnen lag eine riesige Freitreppe. Nach Richards Einschätzung hätte sein Haus bequem auf dem mittleren Absatz Platz gehabt. Marmorgeländer schwangen sich zu beiden Seiten hinauf. Zwischen ihnen und der Treppe wartete eine kleine Gruppe von Leuten.

Ganz vorne stand Königin Milena, eine wohlgenährte Frau in mehreren Lagen aus Seide in gräßlichen Farben. Sie trug ein Cape aus seltenem, geschecktem Fuchsfell. Ihr Haar war so lang wie Kahlans. Zuerst konnte Richard nicht sehen, was sie in der Hand hielt, aber als er das Kläffen hörte, erkannte er, daß es sich um einen kleinen Hund handelte.

Als sie näher kamen, sanken alle bis auf die Königin in tiefer Verbeugung auf ein Knie herab. Sie blieben stehen. Richard starrte die Königin unverhohlen an. Er hatte noch nie eine gesehen. Zedd verpaßte ihm einen Tritt von der Seite. Er ließ sich auf ein Knie fallen und senkte, Zedds Beispiel folgend, sein Haupt. Die beiden einzigen, die weder niederknieten noch sich verneigten, waren Kahlan und die Königin. Er war gerade unten, als sich alle wieder erhoben. Er war der letzte, der sich wieder aufgerichtet hatte. Die beiden Frauen brauchten sich offenbar nicht voreinander zu verbeugen.

Die Königin starrte Kahlan an, die erhobenen Hauptes ihren ruhigen Gesichtsausdruck beibehielt und die Königin keines Blickes würdigte. Niemand sprach ein Wort.

Ohne den Arm zu beugen oder die Hand zu strecken, hob Kahlan ihre Hand ein winziges Stück, so daß sie gerade mal ein paar Zentimeter von ihrem Körper entfernt war. Die Miene der Königin verfinsterte sich. Kahlans blieb unverändert. Hätte jemand mit der Wimper gezuckt, er hätte es gehört, dachte Richard. Die Königin drehte sich leicht zur Seite und drückte den Hund einem Mann in einem leuchtend grünen Ärmelwams, schwarzen, engen Strumpfhosen und gelbrot gestreiften Pantalons in die Hand. Hinter der Königin stand eine Schar von Männern in ähnlicher Aufmachung. Der Hund knurrte zornig und biß den Mann in die Hand. Der tat, was er konnte, um es nicht zu beachten.

Die Königin ließ sich vor Kahlan auf beide Knie fallen.

Sofort eilte ein junger Mann in schlichter, schwarzer Kleidung an die Seite der Königin. Er hielt ein Tablett vor seinem Körper. Er verneigte sich, den Kopf unfaßbar tief gebeugt, und hielt ihr das Tablett hin. Sie nahm ein kleines Handtuch vom Tablett, tauchte es in eine Silberschale mit Wasser und benetzte sich damit die Lippen. Sie legte das Handtuch zurück auf das Tablett.

Dann ergriff die Königin vorsichtig die Hand der Mutter Konfessor und küßte sie mit den frisch gereinigten Lippen.

»Treue allen Konfessoren, bei meiner Krone, meinem Land, meinem Leben.«

Richard hatte selten jemanden so aalglatt lügen gehört.

Endlich bewegte Kahlan die Augen. Sie blickte auf den gebeugten Kopf der Königin herab. »Steh auf, mein Kind.«

Mehr als eine Königin, allerdings, dachte Richard. Er mußte daran denken, wie er Kahlan das Fallenstellen, das Spurenlesen, das Ausgraben von Wurzeln gezeigt hatte und spürte, wie er tiefrot wurde.

Königin Milena hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln. Um ihre Augen nicht. »Wir haben keinen Konfessor bestellt.«

»Nichtsdestotrotz bin ich hier.« Kahlans Stimme hätte aus Eis sein können.

»Ja, nun, das ist … äh … großartig. Einfach … großartig.« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Wir werden ein Bankett geben. Genau, ein Bankett. Ich werde sofort Herolde mit den Einladungen aussenden. Alle werden kommen. Ich bin sicher, sie werden höchst erfreut sein, mit der Mutter Konfessor speisen zu können. Es ist eine große Ehre.« Sie drehte sich um und zeigte auf die Männer in den rotgelben Pantalons. »Dies sind meine Rechtsberater.« Die Männer reagierten mit einer tiefen Verbeugung. »Ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.« Mit der Hand deutete sie auf zwei Männer in goldenen Roben. »Dies sind Silas Tannic und Branding Gadding, die Obersten Berater der Krone.« Die beiden nickten kurz. »Und hier mein Finanzminister, Lord Rondel, und meine Sterndeuterin, Lady Kyley.« Einen Zauberer im silbernen Gewand konnte Richard im Gefolge der Königin nicht entdecken. Mit einer abfälligen Handbewegung deutete die Königin auf einen schäbig gekleideten Mann im Hintergrund. »Und James, mein Hofkünstler.«

Aus den Augenwinkeln sah Richard, wie Zedd erstarrte. James hielt seinen lüsternen Blick auf Kahlan geheftet, während er sich halbherzig verneigte. Die rechte Hand fehlte ihm. Sein aalglattes Grinsen ließ Richard instinktiv nach dem Schwert greifen, bevor er merkte, was er tat. Ohne hinzusehen, packte Zedd ihn am Handgelenk und zog seine Hand zurück. Richard sah sich um. Niemand hatte etwas bemerkt. Alle Augen ruhten auf der Mutter Konfessor.

Kahlan drehte sich zu den beiden um. »Zedicus Zorander, Wolkenleser, vertraulicher Berater der Mutter Konfessor« — Zedd verbeugte sich dramatisch — »und Richard Cypher, der Sucher, Beschützer der Mutter Konfessor.« Richard ahmte Zedds Verbeugung nach.

Die Königin musterte ihn, zog eine Braue hoch und machte ein säuerliches Gesicht. »Ein recht magerer Schutz für eine Mutter Konfessor.«

Richard verzog keine Miene. Kahlan blieb gelassen. »Es ist das Schwert, das schneidet, der Mann spielt keine Rolle. Sein Verstand ist vielleicht klein, sein Arm dagegen nicht. Er neigt jedoch dazu, das Schwert vorschnell zu gebrauchen.«

Die Königin wirkte wenig überzeugt. Hinter der königlichen Gesellschaft kam ein kleines Mädchen das Geländer heruntergerutscht. Sie trug ein rosa Samtkleid und Schmuck, der viel zu üppig war für sie. Sie schlenderte an die Seite der Königin und warf ihr langes Haar über die Schulter, ohne sich zu verneigen.

»Meine Tochter, Prinzessin Violet. Violet, Liebes, dies ist die Mutter Konfessor.«

Prinzessin Violet sah Kahlan tadelnd an. »Dein Haar ist zu lang. Vielleicht sollten wir es dir abschneiden.«

Richard entdeckte ein winziges Lächeln der Genugtuung im Gesicht der Königin. Er beschloß, es sei an der Zeit, das Ausmaß ihrer Besorgnis ein wenig zu vergrößern.

Das Schwert der Wahrheit blitzte auf. Sein metallisches Klirren hallte durch den gewaltigen Saal und wurde durch den Stein noch verstärkt. Er hielt die Schwertspitze einen Zentimeter vor die Nasenspitze der Prinzessin und ließ sich von dem Zorn durchströmen, damit seine Worte dramatischer klangen.

»Verneige dich vor der Mutter Konfessor«, zischte er, »oder stirb.«

Zedd tat gelangweilt. Kahlan wartete ab. Niemand hatte die Augen so weit aufgerissen wie die Prinzessin, die auf die Schwertspitze starrte. Sie fiel auf die Knie und senkte den Kopf. Als sie sich wieder erhob, sah sie Richard fragend an, als wollte sie wissen, ob die Verneigung in Ordnung gewesen war.

»Hüte deine Zunge«, höhnte Richard. »Das nächste Mal werde ich sie dir rausschneiden.«

Mit einem Kopfnicken versteckte sie sich hinter ihrer Mutter. Richard steckte sein Schwert in die Scheide, drehte sich um und verneigte sich tief vor Kahlan, die ihn keines Blickes würdigte, dann kehrte er auf seinen Platz hinter ihr zurück.

Die Demonstration hatte auf die Königin den gewünschten Eindruck gemacht. Ihre Stimme verwandelte sich in einen süßlichen Singsang. »Ja, nun, wie gesagt, es ist großartig, Euch bei uns zu wissen. Wir alle sind höchst erfreut. Laßt Euch unser bestes Zimmer zeigen. Ihr müßt müde sein von der Reise. Vielleicht wollt Ihr vor dem Abendessen noch etwas ruhen, dann können wir uns alle nach dem Essen nett und lange…«

»Ich bin nicht zum Essen hier«, schnitt Kahlan ihr das Wort ab. »Ich bin gekommen, um Eure Kerker zu inspizieren.«

»Die Kerker?« Sie zog ein Gesicht. »Dort unten ist es schmutzig. Seid Ihr sicher, daß Ihr nicht lieber…«

Kahlan setzte sich in Bewegung. »Ich kenne den Weg.« Richard und Zedd schlossen sich an. Sie blieb stehen und drehte sich zur Königin um. »Ihr werdet hier warten, bis ich fertig bin.« Ihre Stimme war wie aus Eis. Die Königin wollte gerade mit einer Verbeugung ihr Einverständnis bekunden, als Kahlan auf dem Absatz kehrtmachte und mit wehendem Gewand von dannen schwebte.

Hätte Richard sie nicht so gut gekannt, ihm wäre bei der Begegnung vor Angst die Luft weggeblieben. Vielleicht war es sogar geschehen, genau wußte er es nicht.

Kahlan führte sie die Treppe hinunter und durch Räume hindurch, die immer weniger prächtig wurden, je tiefer sie in das Schloß vordrangen. Die Größe des Gebäudes verblüffte Richard.

»Ich hatte gehofft, Giller würde da sein«, meinte Kahlan. »Dann könnten wir uns das hier ersparen.«

»Ich auch«, brummte Zedd. »Du mußt dich bei der Inspektion beeilen und fragen, ob jemand die Beichte ablegen möchte, und wenn sie nein sagen, gehen wir wieder hinauf und fragen nach Giller.« Er lächelte sie an. »Bis jetzt, Liebes, hast du deine Sache großartig gemacht.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Und Richard, halte dich von diesem Künstler fern, James.«

»Wieso? Hast du Angst, er könnte ein schlechtes Bild von mir malen?«

»Grins nicht so. Halte dich von ihm fern. Er könnte dir einen Fluch zeichnen.«

»Einen Fluch? Wieso braucht man einen Künstler, um jemanden mit einem Fluch zu belegen?«

»Weil es in den Midlands viele verschiedene Sprachen gibt. Man muß einen Fluch verstehen, wenn er wirken soll. Nur wenn du jemandes Sprache sprichst, kannst du ihn mit einem Fluch belegen. Eine Zeichnung dagegen versteht jeder. Er kann fast jedem einen Fluch zeichnen. Nicht Kahlan oder mir, aber dir. Geh ihm aus dem Weg.«

Ihre Schritte hallten, als die drei rasch die steinernen Stufen hinabstiegen. Aus den tief unter der Erde liegenden Mauern sickerte Wasser, an manchen Stellen waren sie mit Moder bedeckt.

Kahlan zeigte auf eine schwere Tür an der Seite. »Hier hindurch.«

Richard zog sie am Eisenring auf. Die Angeln aus Bandeisen quietschten. Fackeln leuchteten einen engen Gewölbegang aus, dessen Decke so niedrig war, daß er sich bücken mußte, um nicht anzustoßen. Nach Fäulnis stinkendes Stroh bedeckte den modrigen Boden. Gegen Ende des Ganges verlangsamte sie ihr Tempo und trat vor eine eiserne Tür, in die ein Gitter eingelassen war. Augen blickten sie an, als sie stehenblieb.

Zedd beugte sich hinter ihr vor. »Die Mutter Konfessor. Sie ist gekommen, um die Gefangenen zu sehen«, brummte er. »Macht die Tür auf.«

Richard hörte das Echo eines Schlüssels, der im Schloß gedreht wurde. Ein untersetzter Mann in verdreckter Uniform zerrte die Tür nach innen. Eine Axt hing an seinem Gürtel gleich neben den Schlüsseln. Er verbeugte sich vor Kahlan, wirkte aber verärgert. Ohne ein Wort führte er sie durch einen kleinen Raum direkt hinter der Tür, wo er an einem kleinen Tisch gesessen und gegessen hatte. Dann ging es weiter durch einen weiteren finsteren Gang bis vor eine andere Eisentür. Er hämmerte mit der Faust dagegen. Die beiden Wachen dahinter verbeugten sich überrascht. Die drei Wachen griffen sich Fackeln aus den eisernen Halterungen und führten sie durch einen kurzen Gang und durch eine dritte Eisentür, in der sich alle ducken mußten.

Der flackernde Schein der Fackeln bohrte sich in die Dunkelheit. Hinter dem Geflecht aus Bandeisenstreifen zu beiden Seiten drückten sich Männer in die hintersten Winkel, ihre Augen vor der plötzlichen Helligkeit mit den Händen schützend. Kahlan sprach leise Zedds Namen und gab ihm zu verstehen, daß sie etwas wollte. Er schien zu begreifen, nahm einer der Wachen seine Fackel ab und hielt sie so vor Kahlan, daß die Männer in den Zellen sie sehen konnten.

Laute ehrfürchtigen Erstaunens drangen aus der Dunkelheit, als die Männer sahen, wer sie war.

Kahlan sprach eine der Wachen an. »Wie viele von ihnen sind zum Tode verurteilt?«

Er strich sich verlegen das feiste, unrasierte Kinn. »Wieso? Alle natürlich.«

»Alle?« wiederholte sie.

Er nickte. »Verbrechen gegen die Krone.«

Nach einer kurzen Weile löste sie den Blick von ihm und wandte sich an die Gefangenen. »Habt ihr alle Kapitalverbrechen begangen?«

Nach einem Augenblick des Schweigens erschien ein hohlwangiger Mann und umklammerte das Gitter. Er spie sie an. Kahlan hielt Richard mit einer raschen Handbewegung zurück, bevor er Gelegenheit hatte, sich zu bewegen.

»Ihr kommt, um das schmutzige Werk der Königin zu vollenden, Konfessor? Ich spucke auf Euch und Eure dreckige Königin.«

»Ich bin nicht im Auftrag der Königin hier. Ich bin hier im Auftrag der Wahrheit.«

»Der Wahrheit! Die Wahrheit ist, daß keiner von uns auch nur das Geringste getan hat! Außer vielleicht, das Wort gegen die neuen Gesetze zu erheben. Seit wann ist es ein Kapitalverbrechen, sich zu beschweren, wenn die eigene Familie verhungert oder erfriert? Die Steuereintreiber der Königin sind gekommen und haben den größten Teil meiner Ernte gestohlen. Sie haben mir kaum genug übriggelassen, um meine Familie zu ernähren. Als ich das wenige, das ich entbehren konnte, verkaufen wollte, kamen sie und meinten, ich würde überhöhte Preise verlangen. Ich habe nichts anderes versucht, als zu überleben. Und trotzdem soll ich wegen Wucherei geköpft werden. Diese Männer, die man hier mit mir zusammen eingesperrt hat, sind alles unschuldige Bauern, Händler oder Kaufleute. Wir sollen alle dafür sterben, daß wir versucht haben, uns durch unsere Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen.«

Kahlan betrachtete die in der Ecke kauernden Männer. »Möchte einer von euch die Beichte ablegen, um seine Unschuld zu beweisen?«

Leises Getuschel. In der Dunkelheit erhob sich ein drahtiger Mann und trat vor. Mit angsterfüllten Augen blickte er sie aus der Düsternis an. »Ja. Ich. Ich habe nichts verbrochen, und doch soll ich geköpft werden und meine Frau und Kinder sich selbst überlassen. Ich werde die Beichte ablegen.« Er streckte den Arm durch das Gitter. »Bitte, Mutter Konfessor, nehmt mir die Beichte ab.«

Noch mehr Männer standen auf, kamen vor. Sie alle baten darum, die Beichte ablegen zu dürfen. Bald standen alle am Gitter und flehten, die Beichte ablegen zu dürfen. Kahlan und Zedd wechselten einen bitteren Blick.

»In meinem ganzen Leben habe ich nur drei Männer gesehen, die die Beichte ablegen wollten«, flüsterte sie dem Zauberer zu.

»Kahlan?« Die vertraute Stimme kam aus der Zelle auf der anderen Seite, aus der Dunkelheit.

Kahlan krallte die Finger in das Gitter. »Siddin? Siddin!« Sie wirbelte herum zu den Wachen. »Diese Männer haben alle der Mutter Konfessor die Beichte abgelegt. Ich stelle fest, daß sie alle unschuldig sind. Öffnet das Gitter!«

»Augenblick mal. Ich kann unmöglich all diese Männer freilassen.«

Richard wirbelte herum und zog dabei im Bogen das Schwert. Krachend riß das Schwert einen Spalt in die Eisenbänder, Splitter heißen Stahls und Funken füllten die Luft. Er drehte sich blitzartig und trat die Tür hinter den verblüfften Wachen zu. Er hielt ihnen das Schwert vors Gesicht, bevor es einem von ihnen gelang, die Axt aus seinem Gürtel zu reißen.

»Öffnet das Gitter, oder ich schlitze euch in Stücke und besorge mir so den Schlüssel!«

Der Wachmann mit dem Schlüssel beeilte sich und kam zitternd der Aufforderung nach. Die Tür schwenkte auf, Kahlan trat ein und verschwand in der Dunkelheit. Als sie zurückkam, hielt sie den verängstigten Siddin in den Armen und drückte seinen Kopf an ihre Schulter. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, um ihn zu beruhigen. Siddin stammelte etwas in der Sprache der Schlammenschen. Freudestrahlend brachte sie ihn mit ein paar Worten zum Lachen. Als sie herauskam, öffnete der Wachmann die Tür der anderen Zelle. Sie stützte Siddin mit einer Hand, während sie den Wachmann mit der anderen am Kragen packte.

»Die Mutter Konfessor stellt fest, daß all diese Männer unschuldig sind.« Ihre Stimme war hart wie das Eisen, das sie umgab. »Sie werden auf meinen Befehl freigelassen. Ihr drei werdet sie aus der Stadt und in Sicherheit bringen.« Er war einen Kopf kleiner als sie, und sie zog ihn dicht zu sich heran. »Wenn du irgendeinen Fehler machst, hast du dich vor mir zu verantworten.«

Er nickte heftig. »Ja, Mutter Konfessor. Ich verstehe. Es wird geschehen, was Ihr verlangt. Mein Wort darauf.«

»Dein Leben«, verbesserte sie ihn.

Sie ließ ihn los. Die Gefangenen strömten aus den Zellen, sanken weinend auf die Knie, ergriffen den Saum ihres Kleides und küßten ihn. Sie scheuchte sie fort.

»Genug. Macht euch auf den Weg, alle. Und denkt immer daran, Konfessoren dienen niemandem. Nur der Wahrheit.«

Alle schworen, es nicht zu vergessen, und folgten den Wachen nach draußen. Richard sah, daß ihre Hemden zerrissen oder mit verkrustetem Blut verschmiert waren und der Rücken vieler mit Schwären bedeckt war.

Bevor sie den Raum betraten, in dem die Königin wartete, blieb Kahlan stehen und schob Siddin Zedd in die Arme. Sie strich ihm übers Haar, strich ihren Rock glatt, seufzte und setzte ein freundliches Gesicht auf.

»Denkt immer dran, weshalb wir hier sind, Mutter Konfessor«, gab der Zauberer zu bedenken.

Sie nickte kurz, reckte ihr Kinn vor und schritt in den Raum der Königin. Königin Milena hatte sich nicht von der Stelle gerührt, ihr Gefolge war noch bei ihr. Der Blick der Königin fiel auf Siddin.

»Ich nehme an, Ihr habt alles in bester Ordnung vorgefunden, Mutter Konfessor?«

Kahlans Gesicht blieb ruhig, aber ihre Stimme klang schneidend scharf. »Wieso befindet sich dieses Kind in Eurem Verlies?«

Die Königin breitete entschuldigend die Hände aus. »Ich weiß es nicht genau. Wenn ich mich recht erinnere, hat man ihn beim Stehlen erwischt und dort untergebracht, bis seine Eltern ausfindig gemacht werden können, das ist alles. Ich versichere Euch, mehr steckt nicht dahinter.«

Kahlan sah sie mit kaltem Blick an. »Ich habe festgestellt, daß alle Gefangenen unschuldig sind und angeordnet, sie freizulassen. Ich nehme an, Ihr freut Euch, weil ich Euch davor bewahrt habe, Unschuldige hinzurichten, und werdet ihre Familien für die Unannehmlichkeiten, die durch dieses ›Versehen‹ entstanden sind, entschädigen. Sollte sich ein ›Versehen‹ dieser Art wiederholen, werde ich bei meinem nächsten Besuch nicht nur das Gefängnis räumen lassen, sondern auch den Thron.«

Richard wußte, Kahlan spielte kein Theater, um an das Kästchen zu kommen, sie tat ihre Arbeit. Dafür hatten Zauberer Konfessoren geschaffen. Das war ihr wahres Ich. Die Mutter Konfessor.

Die Königin bekam große Augen. »Aber … ja, natürlich. Einige meiner Befehlshaber in der Armee sind etwas übereifrig, sie müssen das veranlaßt haben. Ich habe davon nichts gewußt. Danke … Ihr habt uns vor einem schweren Fehler bewahrt. Ich werde persönlich dafür sorgen, daß alles Euren Wünschen gemäß ausgeführt wird. Natürlich hätte ich selbst das gleiche getan, wenn…«

Kahlan unterbrach sie. »Wir werden jetzt aufbrechen.«

Das Gesicht der Königin leuchtete auf. »Ihr wollt gehen? Das ist aber schade. Wir hatten uns alle darauf gefreut, Ihr würdet uns die Ehre erweisen, mit uns zu speisen. Und Ihr wollt wirklich schon aufbrechen?«

»Ich habe noch andere dringende Geschäfte. Bevor ich gehe, möchte ich noch meinen Zauberer sprechen.«

»Euren Zauberer?«

»Giller«, zischte sie.

Einen winzigen Augenblick lang zuckten die Augen der Königin Richtung Decke. »Also … das ist im Augenblick … nicht möglich.«

Kahlan beugte sich vor. »Dann macht es möglich. Und zwar sofort.«

Die Königin wurde aschfahl. »Bitte glaubt mir, Mutter Konfessor, in seiner gegenwärtigen Verfassung wollt Ihr Giller bestimmt nicht sehen.«

»Sofort«, wiederholte Kahlan.

Richard lockerte das Schwert in seiner Scheide gerade so viel, daß es die Königin mitbekommen mußte.

»Also gut. Er befindet sich … oben.«

»Ihr werdet hier warten, bis ich mit ihm fertig bin.«

Die Königin senkte den Blick. »Natürlich, Mutter Konfessor.« Sie wandte sich an einen der Männer in den Pantalons. »Zeig ihr den Weg.«

Der Mann führte sie die große Freitreppe hinauf in das obere Stockwerk, durch mehrere Gänge, dann eine Wendeltreppe hinauf in das oberste Zimmer eines Turmes. Schließlich machte er mit eingeschüchtertem Blick vor einer schweren Holztür auf dem Treppenabsatz halt. Kahlan schickte ihn fort. Er verbeugte sich und war froh, gehen zu dürfen. Richard öffnete die Tür. Sie traten ein, und er schloß sie hinter ihnen wieder.

Kahlan verschlug es den Atem. Sie verbarg ihr Gesicht an Richards Schulter. Zedd verbarg Siddins Gesicht in seinem Gewand.

Das Zimmer war völlig demoliert. Das Dach war verschwunden, als wäre es fortgesprengt worden, der Himmel war zu sehen, das Sonnenlicht fiel hinein. Nur ein paar nackte Balken waren übriggeblieben. Von einem der Balken baumelte ein Strick.

An seinem Ende hing Gillers nackter Leichnam, leicht schaukelnd, verkehrt herum. Man hatte ihm einen Fleischerhaken durch den Knöchel getrieben. Ohne das offene Dach wäre der Gestank nicht auszuhalten gewesen.

Zedd übergab Siddin an Kahlan und begann, die Leiche ignorierend, langsam in dem kreisrunden Raum umherzugehen, das Gesicht nachdenklich in Falten gelegt. Gelegentlich blieb er stehen, berührte Möbelsplitter, die in die Wand getrieben worden waren, als wäre der Stein aus Butter.

Richard stand wie gelähmt da und starrte auf Gillers toten Körper.

»Richard, komm und sieh dir das an«, rief Zedd.

Der Zauberer streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger durch eine rußige, schwarze Stelle in der Wand. Genaugenommen waren es zwei. Sie befanden sich dicht nebeneinander. Zwei verkohlte Stellen in der Gestalt zweier Männer in Hab-acht-Stellung — so als wären sie gegangen und hätten ihre Schatten zurückgelassen. Dicht über ihrem Ellenbogen hatte sich anstelle des schwarzen Flecks ein Streifen goldfarbenen Metalls in den Mauerstein gebrannt.

Zedd drehte sich um und sah ihn fragend an. »Zaubererfeuer.«

Richard konnte es nicht fassen. »Soll das heißen, das sind Männer gewesen?«

Zedd nickte. »Er hat sie glatt in die Wand eingebrannt.« Er zerrieb die rußige Schmiere mit den Fingerspitzen und lächelte. »Aber das hier war mehr als einfaches Zaubererfeuer.« Richard runzelte die Stirn. Zedd zeigte auf den schwarzen Flecken an der Wand. »Probier mal.«

»Wozu?«

Zedd klopfte Richard mit den Knöcheln auf den Schädel. »Damit du etwas lernst.«

Richard verzog das Gesicht, als er wie Zedd mit dem Finger durch die schwarze Schmiere fuhr. »Es schmeckt süß!«

Zedd grinste selbstgefällig. »Das hier ist mehr als nur schlichtes Zaubererfeuer. Giller hat seine ganze Lebensenergie hineingesteckt. Er hat sein Leben für das Feuer geopfert. Das hier, das war das Lebensfeuer eines Zauberers.«

»Er ist dabei gestorben, als er dieses Zaubererfeuer entfacht hat?«

»Genau. Und es schmeckt süß. Das bedeutet, daß er sein Leben geopfert hat, um ein anderes zu retten. Hätte er es nur für sich getan, zum Beispiel um sich die Folter zu ersparen, würde es bitter schmecken. Giller hat es für jemand anderes getan.«

Zedd blieb vor Gillers Leiche stehen, verscheuchte die Fliegen, drehte den Kopf verkehrt herum, um besser sehen zu können. Mit einem Finger schob er einen knotigen Darm zur Seite, damit er Gillers Gesicht sehen konnte. Er richtete sich auf.

»Er hat eine Nachricht hinterlassen.«

»Eine Nachricht?« fragte Kahlan. »Was für eine Nachricht?«

»Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln. Ein Lächeln, gefroren im Tod, das jedem, der sich in diesen Dingen auskennt, verrät, daß er nicht preisgegeben hat, was man von ihm verlangte.« Richard kam näher, als Zedd auf den Schnitt quer über den Unterleib zeigte. »Siehst du, wie dieser Schnitt verläuft? Das hat jemand getan, der den Anthropomanzie-Zauber praktiziert, also Antworten aus der Untersuchung lebender Eingeweide bekommt. Darken Rahl führt seinen Schnitt ganz ähnlich aus wie sein Vater.«

Richard mußte an seinen eigenen Vater denken und daß Rahl ihm genau dies angetan hatte.

»Bist du sicher, es war Darken Rahl?« wollte Kahlan wissen.

Zedd zuckte mit den Achseln. »Wer sonst? Darken Rahl ist der einzige, dem ein Zaubererfeuer nichts anhaben kann. Außerdem ist dieser Schnitt seine Unterschrift. Sieh her. Siehst du das Ende der Wunde? Siehst du, wie sie hier abknickt?«

Kahlan mußte den Blick abwenden. »Und?«

»Das ist der Haken. Sollte er zumindest sein. Er muß in einem spitzen Winkel zurücklaufen. Der Haken wird geschnitten, während die Zauberformeln gesprochen werden, und er verbindet den Fragenden mit dem Befragten. Der Haken zwingt sie, die Antwort auf die gestellte Frage preiszugeben. Aber siehst du das hier? Der Haken wurde begonnen, aber nicht zu Ende geführt.« Zedd lächelte traurig. »In diesem Augenblick hat Giller sein Leben dem Feuer geopfert. Er hat gewartet, bis Rahl fast fertig war, dann, im allerletzten Augenblick, hat er ihm versagt, was er wissen wollte. Vermutlich den Namen desjenigen, der das Kästchen hat. Ohne Leben waren die Eingeweide wertlos für Rahl.«

»Ich hätte nie gedacht, daß Giller einer solchen selbstlosen Handlung fähig wäre«, sagte Kahlan ergriffen.

»Zedd«, fragte Richard ängstlich, »wie hat Giller das geschafft, diese Schmerzen auszuhalten und gleichzeitig noch zu lächeln?«

Zedd sah ihn auf eine Weise an, die es ihm eiskalt den Rücken hinunterlaufen ließ. »Von Zauberern verlangt man, daß sie den Schmerz kennen. Sie müssen ihn sehr, sehr gut kennen. Nur um dir diese Lektion zu ersparen, eine Lektion, die nur wenige überleben, bin ich gerne bereit, deine Entscheidung zu akzeptieren, kein Zauberer zu werden.«

Richard mußte schlucken, als er den glasigen Blick in Zedds Augen sah, hinter denen eine Erinnerung vorüberzog.

Zart legte Zedd Giller die Hand auf die Wange. »Gut gemacht, mein Schüler. Ein ehrenvolles Ende.«

»Ich wette, Darken Rahl war fuchsteufelswild«, meinte Richard. »Zedd, ich glaube, wir sollten machen, daß wir von hier verschwinden. Das sieht mir zu sehr nach einem Köder an einem Haken aus.«

Zedd nickte. »Wo immer das Kästchen stecken mag, hier ist es nicht. Wenigstens hat Rahl es nicht — noch nicht.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir den Jungen. Wir müssen auf demselben Weg verschwinden, auf dem wir gekommen sind. Wir wollen ihnen nicht verraten, weshalb wir wirklich hier sind.«

Zedd flüsterte Siddin etwas ins Ohr, und der Junge schlang seine Arme dem Zauberer freudestrahlend um den Hals.

Königin Milena war immer noch blaß. Sie zupfte nervös an einem Zipfel ihres Umhanges herum, als Kahlan entschlossen, aber gefaßt auf sie zutrat.

»Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft«, sagte Kahlan. »Wir werden jetzt aufbrechen.«

Die Königin senkte das Haupt. »Es ist mir immer ein Vergnügen, die Mutter Konfessor zu sehen.« Ihre Neugier siegte über ihre Angst. »Was ist mit … Giller?«

Kahlan taxierte sie kühl. »Bedauerlicherweise seid Ihr mir zuvorgekommen. Ich wünschte nur, ich hätte das Vergnügen gehabt, es selbst tun oder wenigstens dabeisein zu können. Doch letzten Endes zählen nur die Ergebnisse. Ein Streit, wie ich vermute?«

Die Farbe kam zurück in Königin Milenas Gesicht. »Er hat etwas gestohlen, das mir gehört.«

»Verstehe. Nun, ich hoffe, Ihr habt es zurückbekommen. Guten Tag.« Sie wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen. »Königin Milena, ich werde wiederkommen und mich davon überzeugen, daß Ihr Eure übertrieben ehrgeizigen Befehlshaber in ihre Schranken gewiesen habt und sie nicht fälschlicherweise unschuldige Menschen hinrichten.«

Kahlan machte kehrt und ging. Richard und Zedd, der Siddin an der Hand hielt, schlossen sich ihr an.

Richard wirbelten verzweifelte Gedanken durch den Kopf. Steif ging er neben Zedd, der Kahlan durch die sich verbeugenden Menschenmassen und zur Stadt hinaus folgte. Was sollten sie jetzt machen? Shota hatte ihn gewarnt, daß die Königin das Kästchen nicht mehr lange besitzen würde. Sie hatte recht behalten. Wo mochte es jetzt sein? Er konnte schlecht zu Shota zurückgehen und sie fragen. Wem könnte Giller das Kästchen anvertraut haben? Wie sollten sie es finden? Er fühlte sich verzweifelt und niedergeschlagen. Ihm war nach Aufgeben zumute. Und Kahlan ging es, ihren hängenden Schultern nach, ganz ähnlich. Niemand sagte etwas. Nur Siddin plapperte unablässig, doch den verstand Richard nicht.

»Was erzählt er?« fragte er Zedd.

»Er sagt, er sei tapfer gewesen, genau wie Kahlan ihm gesagt hatte, aber jetzt sei er froh, daß Richard mit dem Zorn gekommen ist, um ihn nach Hause zu bringen.«

»Ich glaube, ich weiß, wie er sich fühlt. Zedd, was sollen wir jetzt tun?«

Zedd blickte ihn verwirrt an. »Woher soll ich das wissen? Du bist der Sucher.«

Großartig. Er hatte sein Bestes gegeben, und doch hatten sie das Kästchen noch immer nicht. Und er sollte es finden. Er kam sich vor, als wäre er geradewegs vor eine Wand gelaufen, von deren Existenz er nichts gewußt hatte. Sie gingen immer weiter, doch wohin sie als nächstes sollten, wußten sie nicht.

Die untergehende Sonne stand golden zwischen den Wolken. Richard glaubte weit vor ihnen etwas zu erkennen. Er schloß auf zu Kahlan. Sie hatte es auch gesehen. Für diese Nacht hatten alle Menschen die Straße bereits verlassen.

Es dauerte nicht lange, bis er wußte, was es war. Vier Pferde kamen auf sie zugaloppiert. Nur eins davon trug einen Reiter.

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