2

Es war seine Mutter. Richard fühlte sich wie vom Blitz erschlagen. Er erstarrte am ganzen Körper. Seine Wut verflog, sein Zorn entließ ihn aus seinem Griff, als Mordgedanken und die Erinnerung an seine Mutter aufeinanderprallten.

»Richard«, lächelte sie ihn traurig an und zeigte ihm mit ihrem Lächeln, wie sehr sie ihn liebte und vermißte.

Seine Gedanken rasten. Er versuchte zu begreifen, was hier geschah. Unmöglich. Was hier geschah, war einfach nicht möglich.

»Mutter?« hauchte er.

Arme, die er kannte, an die er sich erinnerte, schlangen sich um ihn, trösteten ihn, lockten ihm die Tränen in die Augen, schnürten seine Kehle zu.

»Oh, Richard«, besänftigte sie ihn, »wie habe ich dich vermißt.« Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar, streichelte ihn. »Wie sehr habe ich dich vermißt.«

Taumelnd versuchte er, die Beherrschung über seine Gefühle zurückzugewinnen. Er versuchte mit aller Kraft, sich auf Kahlan zu konzentrieren. Er durfte sie nicht wieder im Stich, sich nicht erneut täuschen lassen. Denn sie war nur in Not geraten, weil er sich hatte täuschen lassen. Dies war nicht seine Mutter, es war Shota, die Hexe. Was aber, wenn er sich irrte?

»Richard, warum bist du zu mir gekommen?«

Richard legte ihr die Hände auf die schmalen Schultern und drückte sie sachte zurück. Sie ließ ihre Hände auf seine Hüfte gleiten, drückte ihn mit liebevoller Vertrautheit. Sie war nicht seine Mutter, versuchte er sich einzureden, sie war eine Hexe. Eine Hexe, die wußte, wo sich das letzte Kästchen der Ordnung befand, und genau das mußte er herausfinden. Aber warum tat sie das? Und wenn er sich irrte? War vielleicht dies hier die Wahrheit?

Mit dem Finger suchte er die kleine Narbe über ihrer linken Braue und betastete die vertraute Erhebung. Er selbst hatte ihr die Narbe beigebracht. Zusammen mit Michael hatte er mit den Holzschwertern gespielt und war gerade vom Bett gesprungen und hatte dabei ebenso wild wie töricht nach seinem älteren Bruder geschlagen, als seine Mutter durch die Tür hereinkam. Er hatte sie mit dem Schwert an der Stirn getroffen. Ihr Schrei hatte ihm angst gemacht. Selbst die Prügel seines Vaters hatten nicht so geschmerzt wie der Gedanke an das, was er seiner Mutter angetan hatte. Sein Vater hatte ihn ohne Essen ins Bett geschickt. An jenem Abend war sie nach Einbruch der Dunkelheit gekommen, hatte sich zu ihm ans Bett gesetzt und war ihm mit den Fingern durchs Haar gefahren, während er geweint hatte. Er hatte sich aufgesetzt und gefragt, ob es sehr weh getan hatte. Sie hatte gelächelt und gesagt…

»Nicht so sehr wie dir«, flüsterte die Frau vor ihm.

Richard riß die Augen auf. Ein kalter Schauder lief über seinen Rücken. »Woher…«

»Richard.« Die Stimme von hinten klang ruhig und warnend. Er fuhr auf. »Bleib weg von ihr.« Es war Zedds Stimme.

Seine Mutter legte ihm die Hand auf die Wange. Er beachtete es nicht und drehte den Kopf, blickte die Straße zurück bis zur Anhöhe. Dort stand tatsächlich Zedd, zumindest glaubte er das. Er sah aus wie Zedd, andererseits sah die Frau auch aus wie seine Mutter. Dort stand Zedd, mit einem Gesichtsausdruck, den er kannte: dem Ausdruck kalter Gefahr, der Warnung.

»Richard«, war Zedds Stimme wieder zu hören. »Tu, was ich sage. Bleib weg von ihr. Sofort.«

»Bitte, Richard«, flehte seine Mutter, »verlaß mich nicht. Erkennst du mich denn nicht?«

Richard betrachtete ihre weichen Züge. »Doch. Du bist Shota.«

Er packte ihre Handgelenke, löste ihre Hände von seiner Hüfte und trat einen Schritt zurück. Sie legte traurig die Stirn in Falten. Den Tränen nahe sah sie zu, wie er sich entfernte.

Plötzlich wirbelte sie herum und sah den Zauberer an. Sie riß die Hände hoch. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schossen Blitze aus ihren Fingern und rasten auf Zedd zu. Sofort errichtete der Zauberer mit den Händen einen gläsernen Schutz, der das Licht mit seinem Glanz reflektierte. Shotas Licht prallte mit einem donnernden Scheppern zurück, wurde abgelenkt, streifte eine riesige Eiche und knickte deren Stamm ab. Ein Schauer von Spänen regnete herab. Der Baum krachte zu Boden. Die Erde bebte.

Zedd hatte die Hände bereits hochgerissen. Aus seinen gekrümmten Fingern schoß Zaubererfeuer. Kreischend raste es heran, rollte mit wildem Geheul durch die Luft.

»Nein!« schrie Richard.

Das gleißend blaugelbe Licht des flüssigen Feuerballs erhellte die Schatten.

Das durfte er nicht zulassen! Shota war der einzige Weg zu dem Kästchen! Die einzige Möglichkeit, Rahl zu stoppen.

Das Feuer breitete sich heulend aus und schoß genau auf Shota zu. Sie rührte sich nicht.

»Nein!« Richard riß das Schwert heraus und sprang vor sie. Mit einer Hand packte er das Heft, mit der anderen die Spitze und hielt es waagerecht vor sich wie einen Schild. Zauberkraft erfüllte ihn. Ihn packte der Zorn. Das Feuer hatte ihn erreicht. Das Donnern füllte seine Ohren. Er wendete das Gesicht ab, schloß die Augen, hielt den Atem an, biß die Zähne aufeinander und wartete auf den Tod. Er hatte keine Wahl. Die Hexe war seine einzige Chance. Er durfte nicht zulassen, daß sie starb.

Der Aufprall ließ ihn einen Schritt zurücktorkeln. Er spürte die Hitze. Selbst durch die geschlossenen Augen sah er das Licht. Mit wütendem Geheul prallte das Zaubererfeuer auf das Schwert und explodierte ringsum.

Und dann herrschte Stille. Er öffnete die Augen. Das Zaubererfeuer war verschwunden. Zedd vergeudete keine Zeit. Er schleuderte bereits eine Handvoll magischen Staub. Funkelnd kam er auf ihn zugeflogen. Richard bemerkte eine Bewegung hinter sich: Die Hexe schleuderte ebenfalls magischen Staub. Er glitzerte wie Eiskristalle und nahm Zedds Staub das Glitzern.

Zedd erstarrte, eine Hand in die Höhe gereckt, und regte sich nicht mehr.

»Zedd!«

Keine Antwort. Richard wirbelte zu der Hexe herum. Sie war nicht mehr seine Mutter. Shota trug ein schleierartiges Kleid in verschiedenen Grautönen auf der gazeähnlichen Oberfläche. Die Falten und losen Spitzen schienen in der leichten Brise zu fließen. Ihr volles, dichtes Haar war gewellt und braun, ihre glatte Haut makellos. Sie funkelte ihn aus Mandelaugen an. Sie war so schön wie der Palast hinter ihr und das Tal ringsum. Sie war so anziehend, daß es ihm fast den Atem raubte. Hätte es auch, wäre er nicht so wütend gewesen.

»Mein Held«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht mehr die seiner Mutter war, sondern seidig, klar und unbeschwert klang. Ein verschlagenes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Vollkommen überflüssig zwar, aber es ist die Absicht, die zählt. Ich bin beeindruckt.«

»Und wen spielst du jetzt? Wieder ein Hirngespinst aus meiner Erinnerung? Oder ist dies die wahre Shota?« Richard war außer sich. Nur zu deutlich spürte er den Zorn des Schwertes, beschloß aber, die Waffe aus dem Spiel zu lassen.

Ihr Lächeln wurde breiter. »Sind das wirklich deine Kleider?« neckte sie ihn. »Oder trägst du sie nur vorübergehend, zu einem bestimmten Zweck?«

»Welchen Zweck verfolgst du mit der Rolle, die du in diesem Augenblick spielst?«

Sie zog die Brauen hoch. »Nur den, dir zu gefallen, Richard. Das ist alles.«

»Mit einem Hirngespinst!«

»Nein.« Ihre Stimme wurde sanfter. »Dies ist kein Hirngespinst. So sehe ich mich selbst, die meiste Zeit wenigstens. Das ist die Wirklichkeit.«

Richard überging ihre Antwort und zeigte mit dem Schwert auf die Straße. »Was hast du mit Zedd gemacht?«

Sie zuckte mit den Achseln und sah geziert lächelnd fort. »Ich habe ihn nur daran gehindert, mir weh zu tun. Es geht ihm gut. Im Augenblick jedenfalls.« Die Mandelaugen unter ihren Brauen funkelten. »Ich werde ihn später töten, wenn wir beide uns unterhalten haben.«

Er packte das Schwert fester. »Und Kahlan?«

Shota sah zu Kahlan hinüber, die blaß und regungslos mit bebendem Mund jede von Shotas Bewegungen verfolgte. Richard wußte, daß sie die Hexe mehr fürchtete als die Schlangen. Shota runzelte die Stirn, dann drehte sie sich um, und ihr Gesicht schmolz wieder zu einem unschuldigen Lächeln.

»Sie ist eine gefährliche Frau.« In ihren Augen blitzte ein Wissen auf, das weit älter war als sie selbst. »Gefährlicher sogar, als sie ahnt. Ich muß mich vor ihr schützen.« Achselzuckend fing sie geschickt den wehenden Saum ihres Schleiers auf. Der Rest des Kleides kam zur Ruhe, als wäre der Wind eingeschlafen. »Ich habe es getan, damit sie sich nicht bewegt. Bewegt sie sich, wird sie gebissen. Wenn nicht, dann nicht.« Shota überlegte einen Augenblick. »Ich werde sie ebenfalls später töten.« Ihre Stimme klang viel zu zart, zu angenehm für das, was sie sagte.

Richard überlegte, ob er ihr mit seinem Schwert den Kopf abschlagen sollte. Sein Zorn schrie danach. Er malte es sich in den schillerndsten Farben aus und hoffte, auch Shota würde es sehen. Dann verdrängte er seine Wut ein wenig, ohne sie ganz zu unterdrücken.

»Und ich? Vor mir hast du keine Angst?«

Sie lachte kurz. »Vor einem Sucher?« Sie legte die Hand vor den Mund, so als wollte sie ihre Erheiterung verbergen. »Nein, ich denke nicht.«

Richard konnte kaum noch an sich halten. »Solltest du aber vielleicht.«

»Vielleicht. Vielleicht in normalen Zeiten. Aber dies sind keine normalen Zeiten. Wärst du sonst hier? Um mich zu töten? Du hast mich gerade gerettet.« Sie sah ihn an, als wollte sie sagen, er sollte sich schämen, etwas so Dummes zu sagen. Dann ging sie einmal um ihn herum. Er drehte sich mit, hielt das Schwert zwischen sie und sich, was ihr aber nichts auszumachen schien. »Dies sind Zeiten seltsamer Bündnisse, Richard. Nur die Stärksten sind klug genug, das zu erkennen.« Sie blieb stehen, verschränkte die Arme und musterte ihn mit einem nachdenklichen Lächeln. »Mein Held. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann zum letzten Mal jemand auf den Gedanken gekommen ist, mir das Leben zu retten.« Sie beugte sich vor. »Sehr galant. Doch, wirklich.« Sie ließ einen Arm um seine Hüfte gleiten. Richard wollte sie daran hindern, tat es aber aus irgendeinem Grund nicht.

»Red dir nichts ein. Ich hatte meine Gründe.« Er fand ihre unbeschwerte Art zermürbend und gleichzeitig überaus attraktiv. Natürlich hatte er keinen Anlaß, sich zu ihr hingezogen zu fühlen, schließlich hatte sie gerade gesagt, sie würde seine beiden besten Freunde töten. Und nach Kahlans Benehmen zu urteilen, war das keine eitle Angeberei. Schlimmer noch, er hatte das Schwert gezückt und damit auch dessen Zorn entfesselt. Sogar dessen Zauberkraft war verhext worden. Er hatte das Gefühl zu ertrinken, und zu seiner Überraschung fand er das Gefühl angenehm.

Ihr Lächeln wurde breiter, ihre Mandelaugen funkelten. »Wie gesagt, nur die Starken sind klug genug, die nötigen Bündnisse einzugehen. Der Zauberer war nicht weise genug, er hat versucht, mich zu töten. Sie ist ebenfalls nicht klug genug, sie würde das gleiche tun. Sie wollte nicht einmal herkommen. Nur du warst klug genug zu erkennen, daß diese Zeiten nach einem außergewöhnlichen Bündnis verlangen.«

Richard hatte Mühe, wütend zu bleiben. »Ich gehe kein Bündnis mit jemandem ein, der meine Freunde töten will.«

»Obwohl sie zuerst versucht haben, mich umzubringen? Habe ich nicht das Recht, mich zu verteidigen? Soll ich mich hinlegen und sterben, nur weil es deine Freunde sind, die mich töten wollen? Richard«, sagte sie, schüttelte den Kopf und legte lächelnd die Stirn in Falten, »überlege dir, was du da sagst. Betrachte es mit meinen Augen.«

Er dachte darüber nach, sagte aber nichts. Sie drückte zärtlich seine Hüfte.

»Aber du bist sehr galant. Du bist mein Held, du hast etwas sehr Seltenes getan. Du hast dein Leben für mich riskiert, für eine Hexe. Eine solche Tat bleibt nicht unbelohnt. Du hast dir einen Wunsch verdient. Was immer du willst, sprich es einfach aus, und es sei dir gewährt.« Mit ihrer freien Hand machte sie eine gleitende Handbewegung. »Was es auch sei, mein Wort darauf.« Richard wollte gerade den Mund aufmachen, Shota aber legte ihm sachte einen Finger auf die Lippen. Sie schmiegte sich mit ihrem warmen, unter dem dünnen Kleid festen Körper an ihn. »Enttäusche nicht meine gute Meinung von dir, indem du zu schnell antwortest. Du kannst alles bekommen, was du willst, vergeude den Wunsch nicht. Denke sorgfältig darüber nach, bevor du fragst. Der Wunsch ist wichtig, er wurde dir aus gutem Grund gewährt. Vielleicht ist es der wichtigste Wunsch, den du je freihaben wirst. Eine zu voreilige Entscheidung könnte den Tod bedeuten.«

Richard kochte vor Wut. Und das, obwohl er sich von dieser Frau seltsam angezogen fühlte. »Ich brauche nicht darüber nachzudenken. Ich wünsche mir, daß du meine Freunde nicht tötest. Ihnen soll nichts geschehen. Laß sie gehen.«

Shota seufzte. »Ich fürchte, das macht die Dinge schwieriger.«

»Tatsächlich? Dein Wort gilt also nichts?«

Sie funkelte ihn beleidigt an. Ihre Stimme wurde eine Spur härter. »Mein Wort gilt in jedem Fall. Ich wollte dir nur klarmachen, daß es die Dinge schwieriger macht. Du bist hierhergekommen, um die Antwort auf eine wichtige Frage zu bekommen. Du hast einen Wunsch frei. Würdest du dir diese Antwort wünschen, ich würde sie dir geben. Ist es nicht das, was du in Wirklichkeit willst? Frag dich selber, was wichtiger ist, wie viele noch sterben werden, wenn du versagst.« Sie drückte noch einmal seine Hüfte. Das betörende Lächeln erschien wieder auf ihrem Gesicht. »Richard, das Schwert verwirrt dich. Die Magie beeinträchtigt dein Urteilsvermögen. Leg es ab, und denke noch einmal darüber nach. Wenn du klug bist, wirst du dir meine Warnung zu Herzen nehmen. Sie war nicht grundlos.«

Richard schob das Schwert wütend zurück in die Scheide, um ihr zu zeigen, daß er nicht gewillt war, seine Meinung zu ändern. Er sah sich zu Zedd um, der auf der Stelle erstarrt war. Er blickte hinüber zu Kahlan, die über und über mit wimmelnden Schlangen bedeckt war. Als sich ihre Blicke trafen, spürte er einen Stich im Herzen. Was Kahlan wollte, wußte er, er sah es in ihren Augen. Sie wollte, daß er den Wunsch dazu benutzte, das Kästchen zu finden. Richard wandte sich ab. Er konnte den Anblick ihrer Qual keinen Augenblick länger ertragen. Entschlossen sah er Shota an.

»Ich habe das Schwert weggesteckt, Shota. Es ändert nichts. Du wirst meine Frage auch so beantworten. Auch dein Leben hängt davon ab, ob ich die Antwort erfahre. Das hast du praktisch selbst zugegeben. Ich vergeude meinen Wunsch nicht. Ihn für eine Antwort zu benutzen, die du mir ohnehin geben willst, käme einer Vergeudung des Lebens meiner Freunde gleich. Und jetzt gewähre mir meinen Wunsch!«

Shota betrachtete ihn aus uralten Augen. »Lieber Richard«, sagte sie leise, »ein Sucher braucht seinen Zorn, aber du sollst ihn dir nicht so sehr zu Kopf steigen lassen, daß kein Platz mehr für Weisheit bleibt. Beurteile nicht übereilt Dinge, die du nicht völlig begreifst. Nicht alle Ereignisse sind das, was sie zu sein scheinen. Manche dienen auch deiner Rettung.«

Sie berührte ihn sacht an der Wange und erinnerte ihn sofort wieder an seine Mutter. Ihre Zärtlichkeit besänftigte ihn. Machte ihn irgendwie traurig. Er spürte in diesem Augenblick, wie die Angst vor ihr wich.

»Bitte, Shota«, flüsterte er. »Ich habe meinen Wunsch genannt. Gewähre ihn mir.«

»Dein Wunsch sei dir gewährt, lieber Richard«, hauchte sie traurig.

Er drehte sich zu Kahlan um. Die Schlangen waren noch immer auf ihr. »Shota, du hast mir etwas versprochen.«

»Ich habe dir versprochen, sie nicht zu töten und daß sie gehen kann. Sie darf mit dir gehen, wenn du losziehst, ich werde sie nicht töten. Aber sie stellt für mich noch immer eine Gefahr dar. Wenn sie sich nicht bewegt, werden ihr die Schlangen nichts tun.«

»Du hast behauptet, Kahlan hätte versucht, dich zu töten. Das ist nicht wahr. Sie hat mich hierhergebracht und wollte deine Hilfe, genau wie ich. Sie hatte keine bösen Absichten, und trotzdem hättest du sie umgebracht. Und jetzt tust du ihr das an.«

»Richard«, sie legte einen Finger an ihr Kinn und dachte nach, »du bist in dem Glauben hierhergekommen, ich sei böse, hab’ ich recht? Du hast nichts von mir gewußt, und doch warst du bereit, mir Übles zuzufügen, nur weil du dir in deinem Kopf etwas zurechtgelegt hattest. Du hast dem Geschwätz anderer geglaubt.« Ihre Stimme war frei von Bosheit. »Leute, die eifersüchtig sind oder Angst haben, behaupten solche Dinge. Die Leute behaupten auch, es sei falsch, Feuer zu benutzen, und wer es dennoch tut, sei böse. Ist es deswegen vielleicht wahr? Die Leute sagen, der alte Zauberer sei böse und seinetwegen würden Menschen sterben. Ist das deswegen vielleicht wahr? Einige der Schlammenschen haben behauptet, du hättest den Tod in ihr Dorf gebracht. Stimmt das, weil irgendwelche Narren es behaupten?«

»Was für ein Mensch ist das, der versucht, mich glauben zu machen, er sei meine eigene Mutter?« fragte er voller Bitterkeit.

Shota wirkte ehrlich verletzt. »Liebst du denn deine Mutter nicht?«

»Doch, natürlich.«

»Gibt es ein größeres Geschenk, als jemandem eine verlorene Liebe wiederzugeben? Hat es dir keine Freude bereitet, deine Mutter wiederzusehen? Hätte ich dir ein größeres Geschenk machen können? Habe ich eine Gegenleistung verlangt? Eine Bezahlung? Für einen Augenblick habe ich dir etwas Wunderschönes, Reines geschenkt, eine lebhafte Erinnerung an die Liebe zwischen deiner Mutter und dir, und das zu einem Preis, den du nie begreifen wirst. Und auch darin siehst du etwas Böses? Und zum Lohn willst du mir mit deinem Schwert den Kopf abschlagen!«

Richard mußte schlucken, sagte aber nichts. Er wich ihrem Blick aus und schämte sich plötzlich.

»Sind deine Gedanken so vergiftet von den Worten anderer? Von ihren Ängsten? Ich verlange nichts, als daß man mich an meinen Taten mißt, daß man mich als die nimmt, die ich bin. Ich lasse mich nicht von anderen anspucken. Richard, sei kein Soldat in dieser Armee der Narren.«

Sprachlos mußte Richard mit anhören, wie ihm seine eigene Überzeugung entgegenschallte.

»Sieh dich um«, sagte Shota und machte eine ausladende Handbewegung. »Ist dies ein Ort voller Häßlichkeit und Bosheit?«

»Ich habe nie etwas Schöneres gesehen«, gab Richard kleinlaut zu. »Aber das beweist noch nichts. Was ist zum Beispiel das dort oben?« Er zeigte mit dem Kinn nach oben auf den Wald.

Sie sah kurz hinüber. »Betrachte es als meinen Burggraben.« Shota lächelte stolz. »Es hält die Narren ab, die mir etwas anhaben könnten.«

Die schwerste Frage hob Richard sich für zuletzt auf. »Und er?« Er warf kurz einen Blick in den Schatten, wo Samuel hockte und sie aus gelben Augen beobachtete.

Sie sah Richard in die Augen und sagte voller Bedauern: »Samuel, komm her.«

Das widerwärtige Geschöpf huschte über den Rasen, drückte sich an die Seite seiner Herrin und gab dabei ein seltsam kehliges Gurgeln von sich. Samuel heftete seinen Blick auf das Schwert und ließ es nicht aus den Augen. Shota streichelte ihm zärtlich über den Kopf.

»Ich denke, es ist Zeit für eine förmliche Vorstellung. Richard, darf ich dir Samuel vorstellen, deinen Vorgänger. Den vorigen Sucher.«

Richard riß die Augen auf und blickte den Begleiter an. Er war sprachlos.

»Mein Schwert! Her damit!« Samuel wollte danach greifen. Shota sprach warnend seinen Namen aus, ohne den Blick von Richard zu nehmen, und sofort zog das Geschöpf seine Hand zurück und schmiegte sich wieder an ihre Seite. »Mein Schwert!« jammerte er leise vor sich hin.

»Warum sieht er so aus?« fragte Richard vorsichtig. Er hatte Angst vor der Antwort.

»Du weißt es wirklich nicht, hab’ ich recht?« Shota zog eine Braue hoch und betrachtete sein Gesicht. Ihr trauriges Lächeln kehrte zurück. »Die Magie. Hat dich der Zauberer nicht gewarnt?«

Richard schüttelte langsam den Kopf. Er brachte kein Wort hervor. Seine Zunge klebte am Gaumen.

»Dann solltest du mal mit ihm reden.«

Er zwang sich zu sprechen, es gelang nur mit Mühe. »Du meinst, die Magie könnte mir das antun?«

»Tut mir leid, Richard, aber darauf kann ich dir keine Antwort geben.« Sie seufzte tief. »Zu meinen Talenten gehört ein gewisser Blick für den Fluß der Zeit, für das Treiben der Ereignisse in die Zukunft. Hierbei aber handelt es sich um eine Art Magie, die Magie eines Zauberers, die ich nicht sehen kann. Ich bin blind für sie. Ich kann nicht erkennen, wie sie vorwärts treibt. Samuel war der letzte Sucher. Er kam auf der verzweifelten Suche nach Hilfe vor vielen Jahren hierher. Aber ich konnte nichts für ihn tun, außer ihn zu bemitleiden. Dann kam eines Tages plötzlich der alte Zauberer und holte das Schwert.« Sie zog bedeutungsvoll eine Braue hoch. »Eine sehr unangenehme Erfahrung — für uns beide. Ich muß gestehen, der alte Zauberer ist mir nicht in guter Erinnerung.« Ihre Züge lösten sich. »Bis diesem Tag betrachtete Samuel das Schwert der Wahrheit als sein Eigentum. Aber ich weiß es besser. Die Zauberer sind für alle Zeiten die Hüter des Schwertes und der ihm innewohnenden Magie. Sie übertragen seine Macht nur für eine gewisse Zeit sterblichen Menschen.«

Richard mußte daran denken, wie Zedd ihm erzählt hatte, er hätte das Schwert zurückgeholt, während der letzte vorgebliche Sucher von einer Hexe abgelenkt worden war. Dies war also der Sucher, dies war die Hexe. Kahlan hatte sich geirrt; es gab zumindest einen Zauberer, der sich nach Agaden wagte.

»Vielleicht weil er kein echter Sucher war«, brachte Richard hervor und versuchte sich zu beruhigen. Seine Zunge fühlte sich noch immer geschwollen an.

Sie dachte ehrlich besorgt darüber nach. »Vielleicht. Ich weiß es nicht mehr.«

»Das muß es sein«, hauchte er. »Es muß einfach. Zedd hätte mich sonst gewarnt. Er ist mein Freund.«

Sie blickte ihn voller Ernst an. »Richard, es steht Wichtigeres auf dem Spiel als nur eine Freundschaft. Zedd weiß das und du auch. Schließlich hast du diese Dinge über sein Leben gestellt, als du mußtest.«

Richard sah zu Zedd hinüber. Wie gerne hätte er mit ihm geredet. Er brauchte ihn so dringend. War es möglich? Hätte er die Suche nach dem Kästchen so einfach über Zedds Leben gestellt, ohne einen weiteren Gedanken darauf zu verschwenden? »Shota, du hast versprochen, ihn gehen zu lassen.«

Shota betrachtete ihn einen Augenblick lang. »Tut mir leid, Richard.« Sie deutete mit einer Geste auf Zedd. Zedd flackerte, dann war er verschwunden. »Es war nur eine Täuschung. Ich wollte dir etwas beweisen. Es war nicht wirklich der alte Zauberer.«

Richard hätte verärgert sein müssen, aber das war er nicht. Er fühlte sich durch die Täuschung ein wenig verletzt und war traurig, daß Zedd nicht hier bei ihm war. Dann fuhr es ihm eiskalt durch den Körper, er bekam eine Gänsehaut.

»Ist das wirklich Kahlan? Oder hast du sie bereits getötet und mir nur ein Bild, einen Trick, eine weitere Illusion vorgegaukelt?«

Shota atmete tief durch. »Leider«, seufzte sie, »ist sie durchaus wirklich. Und genau da liegt das Problem.«

Shota hakte sich bei ihm ein und führte ihn zu Kahlan. Sie blieben vor ihr stehen. Samuel folgte und stellte sich neben die beiden. Seine Arme waren so lang, daß er, während er aufrecht stehend mit seinen gelben Augen vom einen zum anderen blickte, mit den Fingern Kreise in den Staub zog.

Shota betrachtete Kahlan einen Augenblick gedankenverloren. Sie schien über das Dilemma nachzudenken. Richard wollte nur, daß die Schlangen verschwanden. Trotz allem, was die Hexe über Hilfe und Freundschaft gesagt hatte, war Kahlan nach wie vor starr vor Angst, und das lag nicht an den Schlangen. Sie folgte Shota mit den Augen. Wie ein gefangenes Tier, das den Fallensteller sieht und nicht die Falle.

»Richard«, fragte Shota, ohne Kahlans starrem Blick auszuweichen, »könntest du sie töten, wenn du müßtest? Hättest du den Mut, sie zu töten, wenn sie deinen Erfolg gefährden würde? Wenn es um das Leben aller ginge? Sag jetzt die Wahrheit!«

Trotz ihres entwaffnenden Tons trafen Shotas Worte ihn wie ein Dolch aus Eis. Richard blickte in Kahlans aufgerissene Augen, dann musterte er die Frau neben sich. »Sie ist meine Führerin. Ich brauche sie«, sagte er schlicht, fast beiläufig.

Ein starrer Blick aus großen Mandelaugen. »Danach, Sucher, habe ich nicht gefragt.«

Richard sagte nichts. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Shota lächelte bedauernd. »Das habe ich mir gedacht. Deswegen war dein Wunsch ein Fehler.«

»Es war kein Fehler«, protestierte Richard. »Hätte ich ihn nicht auf diese Weise verwendet, du hättest sie getötet.«

»Stimmt«, nickte Shota voller Bitterkeit, »das hätte ich. Zedds Bild war eine Prüfung. Du hast sie bestanden, und als Belohnung habe ich dir einen Wunsch gewährt. Nicht, damit du etwas bekommst, was du dir wünschst, sondern damit ich dir eine Last abnehme, weil dir der Mut dafür fehlt. Das war die zweite Prüfung. Die, mein Lieber, hast du nicht bestanden. Deinem Wunsch muß ich entsprechen. Das ist dein Fehler. Du hättest zulassen sollen, daß ich sie an deiner Stelle töte.«

»Du bist wahnsinnig! Erst versuchst du mir einzureden, du seist nicht böse und ich soll dich an deinen Taten messen, und nun zeigst du dein wahres Gesicht und behauptest, ich hätte einen Fehler gemacht, weil ich nicht zugelassen habe, daß du Kahlan umbringst! Und aus welchem Grund? Hat sie dich irgendwie bedroht? Sie hat nichts dergleichen getan. Das würde sie auch nicht. Sie will nichts weiter, als Darken Rahl aufhalten, genau wie ich. Und wie du auch!«

Shota ließ ihn geduldig ausreden. Wieder stand dieser zeitlose Blick in ihren Augen. »Hast du nicht zugehört, als ich sagte, nicht alle Ereignisse sind das, was sie zu sein scheinen? Du urteilst wieder einmal vorschnell, ohne alle Tatsachen zu kennen.«

»Kahlan ist meine Freundin, alles andere zählt nicht.«

Shota holte Luft, als hätte sie Mühe, ruhig zu bleiben, so als spräche sie zu einem begriffsstutzigen Kind. Er kam sich irgendwie dumm vor, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

»Hör zu, Richard. Darken Rahl hat die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht. Hat er Erfolg, hat niemand die Macht, ihn aufzuhalten. Nie mehr. Viele Menschen werden sterben. Du. Ich. Es liegt in meinem eigenen Interesse, dir zu helfen, denn du hast als einziger eine Chance, ihn aufzuhalten. Wie oder warum, weiß ich nicht, aber ich sehe den Fluß der Macht. Du bist der einzige, der eine Chance hat. Deswegen mußt du noch lange nicht Erfolg haben. Wie klein die Chance auch sein mag, es liegt alles in deinen Händen. Du sollst auch wissen, daß es Kräfte gibt, die dich bezwingen könnten, bevor du deine Chance nutzen kannst. Der alte Zauberer hat nicht die Macht, Darken Rahl aufzuhalten. Deswegen hat er dir das Schwert gegeben. Ich habe nicht die Macht, Rahl aufzuhalten. Aber ich habe die Macht, dir zu helfen. Mehr will ich nicht. Damit helfe ich mir selbst. Ich will nicht sterben. Aber wenn Darken Rahl siegt, wird genau das geschehen.«

»Das weiß ich alles. Deswegen habe ich ja gesagt, du würdest mir die Frage beantworten, ohne daß ich dafür meinen Wunsch benutzen müßte.«

»Aber ich weiß noch andere Dinge, Richard, von denen du keine Ahnung hast.«

Sie betrachtete ihn mit einer Traurigkeit, die schmerzte. Ihre Augen besaßen das gleiche Feuer wie Kahlans, das Feuer der Intelligenz. Richard spürte ihren Drang, ihm zu helfen. Plötzlich machte ihm ihr Wissen angst. Nicht, weil es ihn vielleicht verletzen könnte, sondern weil es schlicht die Wahrheit war. Richard bemerkte, wie Samuel das Schwert anstarrte, und wurde sich plötzlich seiner linken Hand bewußt, die auf dem Heft ruhte. Er spürte, wie fest er es umklammert hielt und wie die hervorstehenden Buchstaben des Wortes ›Wahrheit‹ sich schmerzhaft in seine Handfläche drückten.

»Was sind das für Dinge, die du weißt, Shota?«

»Das Einfachste zuerst«, seufzte sie. »Du erinnerst dich, wie du das Zaubererfeuer mit dem Schwert aufgehalten hast. Diese Bewegung mußt du üben. Ich habe dir diese Aufgabe aus einem bestimmten Grund gestellt. Zedd wird das Zaubererfeuer gegen dich einsetzen. Nur wird es beim nächsten Mal ernst. Der Fluß der Zeit verrät nicht, wer gewinnen wird, nur daß du eine Chance hast, ihn zu schlagen.«

Richard riß die Augen auf. »Das kann unmöglich…«

»Doch«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Es ist ebenso wahr wie der Zahn, mit dem ein Vater dem Hüter des Buches zeigen wollte, wie es wirklich geholt wurde.«

Richard war bis aufs Mark erschüttert.

»Nein, ich kenne den Hüter des Buches nicht.« Sie sah ihn mit stechendem Blick an. »Den mußt du selber finden.«

Richard wagte kaum zu atmen, brachte es kaum über sich, die nächste Frage zu stellen. »Wenn das das Einfachste war, was ist dann das Schwerste?«

Das kastanienbraune Haar fiel Shota von der Schulter, als sie seinem Blick auswich und zu Kahlan hinüberschaute, die stocksteif dastand und die wimmelnden Schlangen ertrug. »Ich weiß, wer sie ist und wie sie für mich zur Gefahr werden kann…« Sie stockte und sah ihn an. »Ganz offensichtlich weißt du nicht, wer sie ist, sonst wärst du vielleicht nicht bei ihr. Kahlan verfügt über eine gewisse Kraft. Eine Zauberkraft.«

»Das weiß ich«, brachte Richard zögernd vor.

»Richard«, sagte Shota und suchte nach den richtigen Worten. Es fiel ihr schwer. »Ich bin eine Hexe. Wie gesagt, eine meiner Fähigkeiten ermöglicht es mir, die Dinge in ihrer Entwicklung vorauszusehen. Deshalb machen mir Narren angst.« Sie beugte sich vor, unangenehm weit vor. Ihr Atem duftete nach Rosen. »Bitte, Richard, sei keiner von diesen Narren. Fürchte dich nicht wegen Dingen vor mir, die ich nicht beherrschen kann. Ich kann die Wahrheit zukünftiger Ereignisse erkennen, aber ich bestimme oder beherrsche sie nicht. Und nur weil ich sie sehe, heißt das noch lange nicht, daß ich glücklich über sie bin. Nur durch unsere Handlungen im Hier und Jetzt können wir die Zukunft verändern. Du solltest weise genug sein, diese Wahrheit zu deinem Vorteil zu nutzen. Es hat keinen Sinn, mit dem Schicksal zu hadern.«

»Und welche Wahrheit kannst du erkennen, Shota?« flüsterte er.

Ihre Augen hatten eine Kraft, daß ihm der Atem stockte. Ihre Stimme war schneidend wie eine Klinge.

»Kahlan besitzt eine Kraft, und wenn sie nicht getötet wird, dann wird sie diese Kraft gegen dich einsetzen.« Sie sah ihm tief in die Augen, während sie sprach. »An dieser Wahrheit besteht kein Zweifel. Dein Schwert kann dich vor dem Zaubererfeuer beschützen, aber nicht vor ihrer Berührung.«

Die Worte versetzten Richard einen Stich, der sein Herz zu durchbohren schien.

»Nein!« hauchte Kahlan. Sie sahen beide zu ihr herüber. Kahlan verzog gequält das Gesicht. »Das würde ich nie tun, Shota! Ich schwöre, das könnte ich ihm unmöglich antun!«

Tränen liefen ihr die Wangen herab. Shota trat vor sie, steckte die Hand zwischen den Schlangen hindurch und berührte zart ihr Gesicht, um sie zu trösten.

»Ich fürchte, du wirst es dennoch tun, mein Kind. Es sei denn, man tötet dich.« Mit dem Daumen wischte sie eine herunterkullernde Träne fort. »Einmal warst du bereits nahe dran«, sagte Shota mit überraschendem Mitgefühl. »Um Haaresbreite.« Sie nickte leicht. »Es stimmt doch, oder? Sag es ihm. Sag ihm, ob ich die Wahrheit spreche.«

Kahlan blickte Richard an. Er sah ihr tief in die unergründlichen grünen Augen und mußte an die drei Gelegenheiten denken, als er das Schwert gehalten und sie ihn berührt hatte. Wie zur Warnung war die Magie zurückgeschreckt. Letztes Mal, bei den Schlammenschen und dem Angriff der Schattenwesen, war es so stark gewesen, daß er das Schwert fast durch sie hindurchgezogen hätte, bevor er gemerkt hatte, wer sie war. Kahlan runzelte die Stirn und wich seinem starren Blick aus. Sie biß sich auf die Unterlippe und stöhnte leise.

»Es ist also wahr?« fragte Richard kaum hörbar. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. »Du hättest um Haaresbreite deine Kraft gegen mich eingesetzt, wie Shota behauptet?«

Kahlans Gesicht verlor alle Farbe. Sie stieß ein lautes, gequältes Stöhnen aus. Dann schloß sie die Augen und begann, lange und klagend zu weinen. »Bitte, Shota. Töte mich. Du mußt es tun. Ich habe geschworen, Richard zu schützen, damit er Rahl aufhalten kann. Bitte«, flehte sie mit ersticktem Schluchzen. »Es ist die einzige Möglichkeit. Du mußt mich töten.«

»Das kann ich nicht«, flüsterte Shota. »Ich habe einen Wunsch gewährt. Einen sehr törichten.«

Es zerriß Richard förmlich, als er hörte, wie Kahlan um ihren eigenen Tod flehte. Der Klumpen in seinem Hals drohte, ihn zu ersticken.

Plötzlich stieß Kahlan einen Schrei aus und warf die Arme in die Luft, damit die Schlangen sie bissen. Richard griff noch nach ihnen, doch sie waren verschwunden. Kahlan streckte die Arme aus und suchte nach den Schlangen, die nicht länger da waren.

»Tut mir leid, Kahlan. Hätte ich sie dich beißen lassen, hätte ich den Wunsch nicht erfüllt, den ich gewährt habe.«

Kahlan sank auf die Knie, vergrub weinend das Gesicht im Boden, krallte sich in die Erde. »Es tut mir so leid, Richard«, schluchzte sie. Sie klammerte sich an seine Hosen. »Bitte, Richard«, schluchzte sie. »Bitte. Ich habe geschworen, dich zu schützen. So viele sind bereits gestorben. Nimm das Schwert und töte mich. Tu es. Bitte, Richard, töte mich.«

»Kahlan … niemals könnte ich…« Er brachte kein weiteres Wort hervor.

»Richard«, sagte Shota, selbst den Tränen nahe, »wenn sie nicht getötet wird, bevor Rahl die Kästchen öffnet, wird sie ihre Kraft gegen dich einsetzen. Das ist absolut sicher. Absolut. Dabei bleibt es, solange sie lebt. Ich habe dir deinen Wunsch gewährt, ich kann sie also nicht töten. Das mußt du tun.«

»Nein!« brüllte er.

Kahlan schrie gequält auf und zog ihr Messer. Sie wollte es sich gerade in den Körper rammen, als Richard ihr Handgelenk packte.

»Bitte, Richard…«, jammerte sie, an ihn gelehnt. »Du verstehst nicht. Ich muß es tun. Wenn ich lebe, bin ich verantwortlich für das, was Rahl tut. Für alles, was geschehen wird.«

Richard zog sie am Handgelenk hoch, drückte sie weinend an sich und bog ihr den Arm auf den Rücken, damit sie das Messer nicht gegen sich erheben konnte. Er warf Shota einen wütenden Blick zu. Sie stand einfach nur da, ließ die Arme schlaff herabhängen und sah zu. War das überhaupt möglich? Konnte es stimmen? Hätte er bloß auf Kahlan gehört und wäre nie hergekommen.

Er lockerte den Griff um Kahlans Arm, als er merkte, daß er ihr weh tat. Wie benommen überlegte er, ob er zulassen sollte, daß sie sich tötete. Seine Hand zitterte.

»Bitte, Richard«, sagte Shota mit Tränen in den Augen. »Von mir aus hasse mich für das, was ich bin, aber hasse mich nicht dafür, daß ich dir die Wahrheit gesagt habe.«

»Die Wahrheit, so wie du sie siehst, Shota! Aber vielleicht nicht die Wahrheit, so wie sie werden wird. Ich werde Kahlan nicht auf dein Wort hin töten.«

Shota nickte traurig und sah ihn aus feuchten Augen an.

»Königin Milena besitzt das letzte Kästchen der Ordnung.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Aber sei gewarnt: sie wird es nicht mehr lange haben. Vorausgesetzt, du bist bereit, die Wahrheit zu glauben, wie ich sie sehe.« Sie blickte auf ihren Begleiter hinab. »Samuel«, sagte sie sanft, »führe sie aus Agaden hinaus. Nimm ihnen nichts weg, was ihnen gehört. Ich wäre sehr verstimmt, wenn du das tätest. Damit meine ich auch das Schwert der Wahrheit.«

Richard sah, wie ihr eine Träne die Wange hinunterlief, als sie sich umdrehte und die Straße hinaufging. Mitten im Schritt hielt sie inne und blieb einen Augenblick lang stehen. Ihr wunderschönes kastanienbraunes Haar fiel ihr auf die Schultern und über den Rücken ihres schleierartigen Kleides. Dann hob sie den Kopf, ohne sich jedoch umzuschauen.

»Wenn dies vorüber ist«, sagte sie mit vor Gefühl brechender Stimme, »und du solltest tatsächlich gewinnen … komm nie wieder hierher. Wenn du es doch tust … werde ich dich töten.«

Dann ging sie weiter, zu ihrem Palast.

»Shota«, flüsterte er heiser, »es tut mir leid.«

Sie blieb weder stehen, noch drehte sie sich um, sondern ging einfach weiter.

Загрузка...