Blumenduft umgab sie, als sie den Garten des Lebens betraten. Zedd merkte sofort, daß etwas nicht stimmte. Es bestand kein Zweifel, alle drei Kästchen befanden sich in diesem Raum. Er hatte sich geirrt. Rahl hatte alle drei. Er spürte auch noch etwas anderes, etwas, das nicht hierhergehörte, dessen Kraft jedoch vermindert war, doch traute er seinem Gefühl nicht ganz. Dicht gefolgt von Chase blieb er Kahlan auf den Fersen, als sie den Pfad entlangging, zwischen den Bäumen hindurch, vorbei an den weinberankten Mauern und bunten Blumen. Sie kamen zu einer Rasenfläche. Kahlan blieb stehen.
Auf der anderen Seite der Rasenfläche war ein Kreis aus weißem Sand. Zauberersand. Noch nie hatte Zedd soviel davon an einem einzigen Ort gesehen, nie mehr als einen Beutel voll. Die Menge hier war zehn Königreiche wert. Winzige Flecken regenbogenfarbenen Lichts wurden reflektiert und in die Höhe geworfen. Mit wachsender Beklommenheit fragte sich Zedd, wozu Rahl soviel Zauberersand benötigte. Es fiel ihm schwer, den Blick davon zu lösen.
Hinter dem Zauberersand stand ein Opferaltar. Dort, auf dem steinernen Altar, standen die drei Kästchen der Ordnung. Zedd hatte das Gefühl, sein Herz würde einen Schlag aussetzen, als er sich überzeugte, daß dort wirklich alle drei beisammen standen. Von jedem war die Schutzhülle entfernt worden. Jedes war schwarz wie die Nacht.
Vor den Kästchen stand mit dem Rücken zu ihnen Darken Rahl. Der Anblick des Menschen, der Richard so gequält hatte, brachte Zedd schier zur Verzweiflung. Das senkrecht durch das Glasdach hereinfallende Sonnenlicht fiel auf das blonde Haar und den weißen Umhang und ließ beides erstrahlen. Rahl stand da und betrachtete die Kästchen, seinen Lohn.
Zedd spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Wie hatte Rahl das letzte Kästchen gefunden? Wie hatte er es an sich gebracht? Er verwarf die Fragen, sie waren ohne Bedeutung. Die Frage war, was blieb jetzt zu tun. Rahl besaß alle drei und konnte eines der Kästchen öffnen. Zedd beobachtete Kahlan, die zu Darken Rahl hinüberstarrte. Wenn sie Rahl tatsächlich mit ihrer Kraft berühren konnte, wären sie gerettet, doch er bezweifelte, daß sie dazu stark genug war. Zedd spürte, wie seine eigene Macht in diesem Palast, besonders in diesem Raum, praktisch nutzlos war. Dieser Ort war ein einziger gewaltiger Zauber, der sich gegen jeden Zauberer richtete, es sei denn, er war ein Rahl. Wenn jemand Rahl aufhalten konnte, dann Kahlan. Er spürte, wie der Blutrausch in ihr aufstieg, die blanke Raserei.
Kahlan betrat die Rasenfläche. Zedd und Chase folgten ihr, doch als sie den Sand gegenüber von Rahl erreicht hatten, blieb sie stehen und legte dem Zauberer die Hand auf die Brust.
»Ihr beide werdet hier warten.«
Zedd spürte den Zorn in ihrem Blick und begriff, weil er ihn teilte. Auch ihn quälte Richards Verlust.
Als Zedd den Kopf wieder hob, starrte er in die blauen Augen Darken Rahls. Die beiden hielten dem Blick des anderen für einen Augenblick stand. Rahls Blick wanderte weiter zu Kahlan, die mit vollkommen ruhigem Blick um den Kreis aus Sand herumging.
Chase beugte sich vor und flüsterte: »Was tun wir, wenn es nicht funktioniert?«
»Wir werden sterben.«
Zedds Hoffnung stieg, als er den besorgten Ausdruck auf Rahls Gesicht erblickte. Besorgnis und Angst, als er Kahlan mit dem doppelten Lichtblitz des Con Dar auf dem Gesicht erblickte. Zedd mußte grinsen. Damit hatte Rahl nicht gerechnet, und offenbar machte es ihm angst.
Die Sorge wurde zur Tat. Als Kahlan näher kam, zog Rahl plötzlich das Schwert der Wahrheit. Es sirrte beim Herausziehen, und es war weiß. Er hielt es vor sich und brachte Kahlan mit vorgehaltener Spitze zum Stehen.
Sie standen zu nah, um sich aufhalten zu lassen. Zedd mußte ihr helfen, das einzige einzusetzen, was sie retten konnte. Der Zauberer nahm alle Kraft zusammen, was nicht so viel war, wie er sich gewünscht hätte, und schleuderte einen Blitz über den weißen Zauberersand. Er legte seine gesamte Kraft hinein. Der blaue Blitz prallte gegen das Schwert und riß es Rahl aus der Hand. Es segelte durch die Luft und landete ein gutes Stück entfernt. Darken Rahl schrie Zedd etwas zu, dann drehte er sich zu Kahlan und sprach zu ihr. Aber keiner von beiden verstand etwas.
Darken Rahl wich zurück, als Kahlan vorrückte. Er stieß gegen den Altar, konnte nicht weiter nach hinten. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als Kahlan vor ihm stehenblieb.
Zedds Lächeln schwand. Irgend etwas stimmte nicht. Wie Rahl sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, erinnerte ihn an etwas.
Die Mutter Konfessor streckte die Hand aus und packte Rahl an der Kehle. »Das ist für Richard.«
Zedd riß die Augen auf. Eisige Kälte durchfuhr ihn. Er begriff, was nicht stimmte. Ihm stockte der Atem.
Das war nicht Darken Rahl.
Zedd schrie. »Kahlan, nein! Halt! Das ist…«
Ein Beben in der Luft, der Donner ohne Hall. Die Blätter in den Bäumen ringsum zitterten. Das Gras schlug Wellen, die sich nach außen fortsetzten.
»… Richard!« Zu spät erkannte der Zauberer die Wahrheit. Der Schmerz übermannte ihn.
»Herrin«, flüsterte er und sank vor ihr auf die Knie.
Zedd stand da wie erstarrt. Verzweiflung zermalmte die Erleichterung darüber, daß Richard noch lebte. Eine weinumrankte Tür in der Seitenmauer öffnete sich. Der echte Darken Rahl kam heraus, gefolgt von Michael und zwei kräftigen Wachen. Kahlan kniff verwirrt die Augen zusammen.
Das Feindesnetz begann zu flackern, und in einem Lichtschimmer verwandelte sich der unechte Darken Rahl in den, der er wirklich war, Richard.
Kahlan riß entsetzt die Augen auf und wich erschrocken zurück. Die Kraft des Con Dar ließ nach und war erloschen. Sie schrie auf, als sie erkannte, was sie getan hatte.
Die beiden Wachen traten hinter sie. Chase griff nach seinem Schwert. Er war auf der Stelle erstarrt, bevor seine Hand es erreicht hatte. Zedd hob die Hände, hatte aber nicht mehr genügend Kraft. Nichts geschah. Er rannte auf sie zu, aber noch bevor er zwei Schritte machen konnte, stieß er gegen eine unsichtbare Wand. Er war gefangen wie in einer Zelle aus Stein. Wütend verfluchte er seine eigene Dummheit.
Als sie merkte, was sie angerichtet hatte, riß Kahlan einem der Posten das Messer aus dem Gürtel. Mit einem gequälten Aufschrei hielt sie es mit beiden Händen in die Höhe, bereit, es sich in den Leib zu rammen.
Michael packte sie von hinten, entwand ihr das Messer und hielt es ihr an die Kehle. Richard wollte sich wütend auf seinen Bruder stürzen, prallte jedoch gegen eine unsichtbare Wand und wurde zurückgeschleudert. Kahlan hatte ihre ganze Kraft für den Con Dar aufgebraucht und war zu schwach, sich zu wehren. Sie sackte in Tränen aufgelöst zusammen. Einer der Wachen versuchte, ihr einen Knebel in den Mund zu schieben und sie daran zu hindern, Richards Namen auszusprechen.
Richard, auf den Knien, warf sich Darken Rahl vor die Füße, packte sein Gewand, flehte ihn an. »Tut ihr nichts! Bitte! Tut ihr nichts.«
Darken Rahl legte Richard eine Hand auf die Schulter. »Freut mich sehr, daß du wieder zurück bist, Richard. Ich hatte es mir fast gedacht. Ich bin froh, daß du dich entschlossen hast, mir zu helfen. Ich bewundere, wie sehr du dich deinen Freunden verpflichtet fühlst.«
Zedd war verwirrt. Wozu konnte Rahl Richards Hilfe benötigen?
»Bitte«, flehte Richard unter Tränen, »tut ihr nicht weh.«
»Nun, das liegt ganz bei dir.« Er entfernte Richards Hände von seinem Umhang.
»Ich werde alles tun. Alles. Tut ihr nur nicht weh!«
Ein Lächeln machte sich auf Darken Rahls Lippen breit. Er befeuchtete seine Fingerspitzen. Mit der anderen Hand fuhr er Richard durchs Haar. »Tut mir leid, daß es so kommen mußte, Richard. Wirklich. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, dich in deinem ursprünglichen Zustand um mich zu haben. Du merkst es vielleicht nicht, aber wir beide sind uns sehr ähnlich. Ich fürchte jedoch, daß du Opfer des ersten Gesetzes der Magie geworden bist.«
»Tut Herrin Kahlan nichts«, winselte Richard. »Bitte.«
»Wenn du tust, was ich dir sage, werde ich mein Versprechen halten, und man wird sie gut behandeln. Vielleicht verwandle ich dich sogar in etwas Ansehnliches, etwas, was du gerne sein möchtest, vielleicht ein Schoßhündchen. Möglicherweise lasse ich dich sogar bei uns im Schlafzimmer schlafen, damit du siehst, wie ich Wort halte. Vielleicht nenne ich im Gedenken an dich sogar meinen Sohn nach dir, schließlich hast du mir geholfen. Wie gefällt dir das? Richard Rahl. Es hat eine gewisse Ironie, findest du nicht auch?«
»Macht mit mir, was immer Euch beliebt, aber bitte tut Herrin Kahlan nichts. Sagt, was Ihr verlangt, bitte.«
Darken Rahl tätschelte Richards Kopf. »Bald, mein Sohn. Bald. Warte hier.«
Darken Rahl ließ Richard auf den Knien sitzen und ging um den Kreis aus weißem Sand herum zu Zedd. Als er näher kam, fixierte er den alten Mann mit seinen blauen Augen. Zedd fühlte sich leer, ausgehöhlt.
Rahl blieb vor ihm stehen, befeuchtete seine Finger und strich sich damit über die Brauen.
»Wie lautetet dein Name, alter Mann?«
Zedd starrte zurück, seine Hoffnungen waren dahin. »Zeddicus Zu’l Zorander.« Er reckte das Kinn empor. »Ich war es, der deinen Vater getötet hat.«
Darken Rahl nickte. »Weißt du auch, daß dein Zaubererfeuer mich versengt hat? Weißt du, daß es mich beinahe getötet hätte, als ich noch ein kleines Kind war? Und daß ich monatelange Qualen erlitten habe? Und daß ich bis zum heutigen Tag die Narben deiner Untaten trage, sowohl körperlich als auch seelisch?«
»Es tut mir leid, daß ich einem Kind weh getan habe, unabhängig davon, wer dieses Kind war. In diesem Fall möchte ich es jedoch vorzeitige Bestrafung nennen.«
Rahls Gesicht blieb freundlich, der Hauch eines Lächelns umspielte noch immer seine Lippen. »Wir werden sehr viel Zeit miteinander verbringen, du und ich. Ich werde dir beibringen, welche Qualen ich durchlitten habe, und mehr. Danach wirst du wissen, wie es gewesen ist.«
Zedd sah ihn bitter an. »Nichts könnte den Qualen gleichen, die du mir schon jetzt bereitet hast.«
Darken Rahl befeuchtete seine Finger und drehte sich um. »Wir werden sehen.«
Zedd mußte in verzweifelter Ohnmacht mit ansehen, wie Rahl sich wieder vor Richard aufbaute. »Richard!« schrie Zedd. »Hilf ihm nicht! Kahlan würde lieber sterben, als daß du ihm hilfst!«
Richard warf dem Zauberer einen leeren Blick zu, bevor er zu Darken Rahl aufschaute. »Ich tue alles, wenn Ihr ihr nichts tut.«
Darken Rahl gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben. »Du hast mein Wort, mein Sohn. Wenn du tust, was ich verlange.« Richard nickte. »Sprich den Text des Buches der Gezählten Schatten.«
Zedd geriet vor Schreck ins Wanken. Richard drehte sich zu Kahlan um.
»Was soll ich tun, Herrin?«
Kahlan versuchte, sich aus Michaels Griff, von dem Messer an ihrer Kehle, zu befreien, schrie gedämpfte Laute in den Knebel.
Rahls Stimme war ruhig, gelassen. »Sprich den Text des Buches der Gezählten Schatten, Richard, oder ich werde Michael Anweisung geben, mit dem Abschneiden ihrer Finger zu beginnen, einen nach dem anderen. Je länger du schweigst…«
Richards Blick ging zu Rahl zurück. Der Sucher hatte Panik in den Augen.
»Die Überprüfung der Richtigkeit der Worte des Buches der Gezählten Schatten, so sie gesprochen werden von einem anderen als jenem, der über die Kästchen gebietet, kann nur gewährleistet werden durch den Einsatz eines Konfessors…«
Zedd sank zu Boden. Er konnte nicht glauben, was er dort hörte. Er hörte, wie Richard das Buch vortrug, und wußte, daß es stimmte, er erkannte die für Bücher der Magie einzigartige Wortstellung. Richard konnte sich das unmöglich ausgedacht haben. Es handelte sich tatsächlich um das Buch der Gezählten Schatten. Zedd fehlte die Kraft, sich zu fragen, woher Richard es kannte.
Die Welt, wie sie sie kannten, ging ihrem Ende entgegen. Dies war der erste Tag der Herrschaft von Rahl. Alles war verloren. Darken Rahl hatte gesiegt. Die Welt gehörte ihm.
Zedd saß wie benommen da und hörte zu. Einige der Wörter waren selbst Magie, und niemand außer einem, der die Gabe besaß, hätte sie sich merken können — auf gewisse magische Schlüsselwörter hin würden sie per Zauberkraft gelöscht. Als Schutz vor unvorhersehbaren Ereignissen. Als Schutz dagegen, daß sich einfach irgend jemand die Magie aus diesem Buche aneignete. Richards Vortrag bewies, daß er dazu geboren war. Aus der Magie und für sie. Sosehr er sie auch haßte, er war selbst Teil der Magie, genau wie es in den Prophezeiungen geheißen hatte.
Zedd bedauerte die Dinge, die er getan hatte. Er bedauerte, versucht zu haben, Richard vor denjenigen zu schützen, die ihn vielleicht hätten mißbrauchen wollen, vorausgesetzt, sie hätten geahnt, was er darstellte. Wer mit der Gabe geboren wurde, war in jungen Jahren immer verwundbar. Darken Rahl war dafür das beste Beispiel. Zedd hatte sich voller Absicht entschieden, Richard nicht auszubilden, um ihn zu schützen. Zedd hatte immer gehofft und befürchtet, Richard könnte die Gabe besitzen, hatte aber darauf vertraut, er wäre erwachsen, bevor sie sich offenbarte. Dann hätte Zedd ihm alles zeigen können, wenn er stark und alt genug dafür gewesen wäre. Ohne daß die Gefahr bestand, daß es ihn umbrachte. Vergebens. Es war nichts Gutes dabei herausgekommen. Vermutlich hatte Zedd immer geahnt, daß Richard die Gabe besaß und etwas Besonderes war. Das wußte jeder, der ihn kannte. Außergewöhnlich. Das Mal der Magie.
Zedd weinte vor Glück, daß ihm wenigstens diese Zeit mit Richard beschieden gewesen war. Die vielen schönen Jahre. Die besten in seinem Leben. Die Jahre ohne Magie. Jemand hatte ihn ohne Furcht geliebt, nur um seiner selbst willen. Als Freund.
Richard trug das Buch ohne Zögern oder das geringste Stocken vor. Zedd staunte, wie perfekt er es beherrschte, und erwischte sich dabei, daß er stolz darauf war, auch wenn es ihm anders lieber gewesen wäre. Große Teile des Vertrages befaßten sich mit Dingen, die bereits abgeschlossen waren, wie dem Entfernen der Schutzhüllen der Kästchen. Darken Rahl unterbrach ihn trotzdem nicht, trieb ihn, aus Angst, er könnte etwas verpassen, an diesen Stellen auch nicht zu größerer Eile. Er ließ Richard den Text so vortragen, wie er wollte, stand nur stumm da und hörte aufmerksam zu. Gelegentlich ließ Rahl ihn eine Passage wiederholen, um sicherzugehen, daß er sie richtig verstanden hatte. Dann stand er wieder in Gedanken versunken da, während Richard ihm über Sonnenwinkel, Wolken und Winde berichtete.
Der Nachmittag zog sich dahin. Richard trug vor, Rahl stand vor ihm und lauschte, Michael hatte Kahlan das Messer an die Kehle gesetzt, während zwei Wachen ihre Arme hielten, Chase stand da wie erstarrt, seine Hand auf halbem Weg zum Schwert eingefroren, und Zedd hockte dem Untergang geweiht auf dem Boden, eingesperrt in sein unsichtbares Verlies. Die Prozedur des Öffnens der Kästchen würde offenbar länger dauern, als er gedacht hatte. Sie würde die ganze Nacht in Anspruch nehmen. Zaubersprüche mußten gezeichnet werden. Aus diesem Grund benötigte Rahl auch solche Mengen Zauberersand. Die Kästchen mußten in einer ganz bestimmten Stellung ausgerichtet werden, damit die erste Sonne des Winters sie berührte und so ihre Position bestimmte, sobald sie einen Schatten warfen.
Jedes Kästchen warf einen anderen Schatten, obwohl sie alle gleich aussahen. Als die Sonne am Himmel tiefer sank, wuchsen die Schattenfinger aus jedem Kästchen heraus. Aus dem ersten wuchs ein einzelner Schattenfinger, aus dem zweiten deren zwei, aus dem dritten drei. Jetzt wurde ihm klar, warum es das Buch der Gezählten Schatten hieß. Die Kästchen wurden durch die Anzahl ihrer Schatten unterschieden.
Darken Rahl unterbrach Richard jeweils an den entsprechenden Stellen, an denen die Zaubersprüche in den Zauberersand gezeichnet werden mußten. Einige der Zaubersprüche waren mit Namen bezeichnet, die Zedd noch nie gehört hatte. Rahl dagegen schon. Er zeichnete ohne Zögern. Als sich die Dunkelheit senkte, entzündete er einen Ring aus Fackeln um den Sand und zeichnete in ihrem Licht die Zaubersprüche, so wie sie abgerufen wurden. Alle standen schweigend da und verfolgten, wie er vorsichtig in den Sand kratzte. Zedd war beeindruckt von Rahls Geschick und mehr als beunruhigt, als er die Runen der Unterwelt erkannte.
Die geometrischen Muster waren komplex. Zedd wußte, daß sie fehlerlos und in der richtigen Reihenfolge gezeichnet werden mußten, jeder Strich zur rechten Zeit, in der richtigen Abfolge. Ein Fehler konnte nicht gelöscht und mit einem zweiten Versuch behoben werden. Jeder Fehler bedeutete den Tod. Zedd hatte Zauberer gekannt, die aus Angst, einen fatalen Fehler zu machen, Jahre auf das Studium eines Zaubers verwandt hatten, bevor sie es wagten, ihn in den Zauberersand zu zeichnen. Rahl schien nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben. Mit sicherer Hand führte er präzise Bewegungen aus. Zedd hatte noch nie einen Zauberer mit solcher Begabung gesehen. Wenigstens, so dachte er bitter, würden sie vom Allerbesten umgebracht werden. Er konnte nicht anders, er mußte das meisterhafte Geschick bewundern. Ein solches Höchstmaß an Fertigkeit hatte er noch nie gesehen.
All diese Bemühungen dienten lediglich dazu festzustellen, welches Kästchen Rahl wählen mußte. Im Buch hieß es, er könne eines nach dem anderen öffnen. Aus anderen Anleitungsbüchern wußte Zedd, all dieser Umstand stellte nur eine Vorsichtsmaßnahme dagegen dar, daß die Magie leichtfertig mißbraucht wurde. Niemand sollte einfach beschließen können, sich zum Herrscher der Welt aufzuschwingen, und in einem Buch der Magie nachlesen können, wie das funktionierte. Darken Rahl hatte sich fast sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet. Vermutlich hatte sein Vater schon mit der Unterweisung begonnen, als er noch sehr jung war. Hätte doch bloß das Zaubererfeuer nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn getötet. Einen Augenblick lang hing Zedd diesem Gedanken nach, dann verwarf er ihn.
Bei Tagesanbruch, als alle Zaubersprüche gezeichnet waren, wurden die Kästchen darauf gestellt, jedes einzelne, unterschieden durch die Anzahl der Schatten, die es warf, auf eine eigene Zeichnung. Zaubersprüche wurden gesprochen. Als die Sonnenstrahlen des zweiten Wintertages den Stein beleuchteten, wurden die Kästchen wieder auf den Altar zurückgestellt. Zu seiner Überraschung stellte Zedd fest, daß die Kästchen jetzt eine andere Zahl an Schatten warfen als am Tag zuvor — eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Die Kästchen wurden wie angegeben aufgestellt, dasjenige, welches nur einen einzigen Schatten warf, links, jenes, das zwei warf, in der Mitte und das mit den drei Schatten ganz nach rechts.
Darken starrte auf die schwarzen Kästchen. »Fahre fort.«
Richard sprach ohne Zögern weiter. »Ist dies geschehen, so ist die Ordnung bereit, beherrscht zu werden. Wo ein Schatten nicht genügt zum Gewinn der Macht und zum Erhalt des Lebens des Spielers und drei mehr sind, als alles Leben dulden kann, erzielt man Ausgewogenheit durch Öffnen eines Kästchens mit zwei Schatten: einen für dich selbst, den anderen für jene Welt, die dir kraft der Macht der Ordnung gehören soll. Eine Welt unter einer Herrschaft, das meint, das Kästchen mit zwei Schatten. Öffne es, und du wirst deinen gerechten Lohn erhalten.«
Darken Rahl wandte sich langsam Richard zu. »Fahre fort.«
Richard machte ein verständnisloses Gesicht. »Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Das ist das Ende.«
»Das ist vollkommen unmöglich.«
»Doch, Meister Rahl. Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Das ist das Ende, die letzten Worte.«
Rahl packte Richard an der Kehle. »Hast du auch alles auswendig gelernt? Das ganze Buch?«
»Ja, Meister Rahl.«
Rahl wurde rot vor Wut. »Ausgeschlossen! Das ist niemals das richtige Kästchen! Das Kästchen mit zwei Schatten ist dasjenige, das mich töten wird! Ich habe dir doch gesagt, daß ich soviel schon weiß! Ich weiß, welches mich umbringen wird!«
»Ich habe Euch alles wahrheitsgemäß vorgetragen. Jedes einzelne Wort.«
Darken Rahl ließ seine Kehle los. »Ich glaube dir nicht.« Er sah zu Michael hinüber. »Schneide ihr die Kehle durch.« Richard ließ sich mit einem Aufschrei auf die Knie fallen. »Bitte! Ihr habt mir Euer Wort gegeben! Ihr habt gesagt, wenn ich es Euch erzähle, würdet Ihr ihr nichts tun! Bitte! Ich habe Euch die Wahrheit gesagt!«
Rahl hielt Michael mit einer Handbewegung zurück, ließ Richard jedoch nicht aus den Augen. »Ich glaube dir nicht. Ich werde sie aufschlitzen, es sei denn, du sagst mir die Wahrheit, und zwar sofort. Ich werde deine Herrin töten.«
»Nein!« schrie Richard. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt! Etwas anderes kann ich Euch nicht sagen, es wäre gelogen!«
»Deine letzte Chance, Richard. Sag mir die Wahrheit, oder sie stirbt.«
»Ich kann Euch nichts anderes sagen«, jammerte Richard. »Alles andere wäre gelogen. Ich habe Euch jedes Wort wahrheitsgemäß vorgetragen.«
Zedd erhob sich. Er betrachtete das Messer an Kahlans Kehle, ihre weit aufgerissenen, grünen Augen, den zögernden Darken Rahl. Offenbar hatte Rahl einen Teil seines Wissens aus einer anderen Quelle als dem Buch der Gezählten Schatten, und dieses Wissen stimmte nicht mit dem aus dem Buch überein. Das war nichts Ungewöhnliches, sicher wußte Darken Rahl das auch. Bei Unstimmigkeiten hatte die Aussage aus dem Anleitungsbuch für diesen speziellen Zauber immer Vorrang. Sich anders zu verhalten, war stets ein tödlicher Fehler, es war eine Sicherung zum Schutz des Zaubers. Gegen jede Aussicht hoffte Zedd, Rahl wäre so überheblich, sich gegen das Buch zu wenden.
Das Lächeln kehrte auf Darken Rahls Gesicht zurück. Er befeuchtete seine Fingerspitzen, fuhr sich damit über die Augenbrauen. »Also schön, Richard. Ich mußte nur sichergehen, daß du die Wahrheit sagst.«
»Das tue ich. Ich schwöre es bei Herrin Kahlans Leben. Jedes Wort, das ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit.«
Rahl nickte. Er gab Michael einen Wink mit der Hand. Michael senkte das Messer. Kahlan schloß die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Rahl wandte sich mit einem tiefen Seufzer den Kästchen zu.
»Endlich«, flüsterte er. »Die Magie der Ordnung gehört mir.«
Zedd konnte es nicht sehen, aber er wußte, daß Darken Rahl den Deckel des mittleren Kästchens, das mit den zwei Schatten, öffnete. Er sah es an dem Licht, das daraus hervorströmte. Goldenes Licht stieg in die Höhe und legte sich wie eine Zentnerlast über Darken Rahl und tauchte ihn in einen goldenen Glanz. Er drehte sich lächelnd um. Das Licht um ihn folgte seinen Bewegungen. Er ging leicht in die Höhe, gerade genug, um seine Füße zu entlasten, und schwebte mit ausgestreckten Armen zur Mitte des Zauberersandes, wo das Licht ihn langsam zu umkreisen begann. Er drehte sich mit dem Gesicht zu Richard.
»Ich danke dir, mein Sohn, daß du zurückgekommen bist und Vater Rahl geholfen hast. Du wirst für deine Hilfe belohnt werden, wie ich es versprochen habe. Du hast mir gegeben, was mir gehört. Das spüre ich. Es ist phantastisch. Ich spüre die Kraft.«
Richard stand teilnahmslos da und sah zu. Zedd sank wieder zu Boden. Was hatte Richard nur getan? Wie konnte er nur? Wie konnte er Rahl die Magie der Ordnung überlassen? Und die Herrschaft über die Welt? Er war von einem Konfessor berührt worden, das mußte es sein, er hatte sich nicht mehr in der Hand. Es war vorbei. Zedd vergab ihm. Hätte er die Kraft dazu gehabt, Zedd hätte ein Lebensfeuer entfacht und sein Leben dafür geopfert. Doch hier besaß er keine Macht, nicht im Angesicht von Meister Rahl. Er fühlte sich sehr müde, sehr alt. Er würde keine Gelegenheit erhalten, viel älter zu werden. Dafür würde Darken Rahl sorgen. Doch er trauerte nicht um sich selbst — sondern um all die anderen.
In goldenes Licht getaucht erhob sich Darken Rahl einige Fuß vom Erdboden über dem Zauberersand. Er hatte ein selbstgefälliges Grinsen auf dem Gesicht, seine blauen Augen funkelten. Verzückt rollte er den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und ließ sein blondes Haar hinunterhängen. Funkelndes Licht umkreiste ihn.
Der weiße Sand färbte sich golden und wurde immer dunkler, bis hin zu einem verbrannten Braun. Das Licht um Rahl dunkelte nach zu Bernstein. Dann senkte er den Kopf, schlug die Augen auf, und sein Lächeln erstarb.
Der Zauberersand war schwarz verkohlt. Der Erdboden bebte.
Richards Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er ging und holte sich das Schwert der Wahrheit zurück, und der Zorn der Magie des Schwertes durchströmte ihn. Zedd sprang auf. Das Licht rings um Darken Rahl wurde zu einem häßlichen Braun. Er riß seine blauen Augen auf.
Aus dem Erdboden entwich ein klagendes Grollen. Im schwarzen Sand unter Rahls Füßen tat sich ein Spalt auf. Violettes Licht schoß empor, hüllte ihn ein. Schreiend wand er sich darin.
Richards Brust hob sich. Er stand wie gebannt da und sah zu.
Zedds unsichtbares Verlies zersprang. Plötzlich hatte auch Chases Hand ihre Reise zu seinem Schwert beendet und riß es heraus, als er auf Kahlan zustürzte. Die beiden Wachen ließen ihre Arme los und stellten sich ihm auf halbem Weg. Michael wurde blaß. Wie gelähmt mußte er mit ansehen, wie Chase einen der Männer niederstreckte. Kahlan bohrte Michael den Ellenbogen in den Unterleib, packte das Messer und drehte es ihm aus der Hand. Unbewaffnet sah Michael sich mit wirrem Blick und ruckartigen Bewegungen seines Kopfes um, dann stürzte er einen Pfad zwischen den Bäumen entlang. Chase und der zweite Wachmann stürzten zu Boden und wälzten sich stöhnend und jeder mit tödlicher Absicht herum. Die Wache stieß einen Schrei aus. Chase kam wieder auf die Beine. Die Wache nicht. Chase warf einen kurzen Blick auf Darken Rahl, dann stürzte er denselben Weg entlang, den auch Michael genommen hatte. Aus den Augenwinkeln sah Zedd Kahlans Kleid aufblitzen. Sie verschwand in entgegengesetzter Richtung.
Zedd stand genauso da wie Richard. Wie gebannt hingen ihre Blicke an Darken Rahl, der sich abmühte, gefangen im Zugriff der Magie der Ordnung. Violettes Licht und dunkle Schatten hielten ihn fest in der Luft über dem schwarzen Loch.
»Richard!« kreischte Rahl. »Was hast du getan!«
Der Sucher trat näher an den Kreis aus schwarzem Sand. »Nur das, was Ihr von mir verlangt habt, Meister Rahl«, antwortete er unschuldig. »Ich habe Euch erzählt, was Ihr hören wolltet.«
»Aber es war die Wahrheit! Du hast die Worte wahrheitsgemäß wiedergegeben!«
Richard nickte. »Ja, das habe ich. Ich habe nur ein paar ausgelassen. Den größten Teil des letzten Abschnitts. Sei gewarnt. Die Wirkung der Kästchen ist fließend. Sie verändert sich mit der Absicht. Um Herrscher von allen zu werden, auf daß du ihnen helfen kannst, schiebe eines der Kästchen nach rechts. Um Herrscher von allen zu werden, auf daß sie deinem Geheiß folgen, schiebe eines der Kästchen nach links. Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Dein Wissen war richtig. Das Kästchen mit den zwei Schatten war es, das dich töten würde.«
»Aber du mußtest genau das tun, was ich sage! Du warst von der Kraft eines Konfessors berührt worden!«
Richard mußte grinsen. »Tatsächlich? Das erste Gesetz der Magie. Es ist das erste Gesetz, weil es das wichtigste ist. Ihr hättet Euch besser dagegen schützen sollen. Das ist der Preis der Überheblichkeit. Ich habe meine Verletzbarkeit angenommen, Ihr dagegen nicht. Die Wahl, vor die Ihr mich gestellt habt, hat mir nicht gefallen. Nach Euren Regeln konnte ich nicht gewinnen, also habe ich neue gemacht. Im Buch steht, daß die Wahrheit durch Hinzuziehen eines Konfessors bestätigt werden muß. Ihr habt bloß geglaubt, das getan zu haben. Das erste Gesetz der Magie. Ihr habt es geglaubt, weil Ihr es habt glauben wollen. Ich habe Euch besiegt.«
»Das darf nicht sein! Unmöglich! Woher hättest du wissen sollen, wie das geht?«
»Ihr habt es mir selbst beigebracht: nichts hat nur eine Dimension, auch Magie nicht. Betrachte das Ganze, habt Ihr gesagt, nichts, was existiert, hat nur eine Seite.« Richard schüttelte langsam den Kopf. »Ihr hättet mir nie etwas beibringen sollen, was ich nicht wissen durfte. Wenn Ihr mir etwas beibringt, steht es mir auch frei, davon Gebrauch zu machen. Danke, Vater Rahl, daß Ihr mir das Wichtigste beigebracht habt, das ich je wissen werde – wie ich Kahlan lieben kann.«
Darken Rahls Gesicht war schmerzverzerrt. »Wo steckt Kahlan?«
Zedd zeigte mit seinem langen Finger. »Ich habe sie in diese Richtung fortlaufen sehen.«
Richard ließ das Schwert in die Scheide zurückgleiten und betrachtete die von Schatten und Licht gehaltene Gestalt. »Lebt wohl, Vater Rahl. Ich denke, Ihr werdet auch sterben, ohne daß ich dabei zuschaue.«
»Richard!« kreischte Rahl dem aufbrechenden Sucher hinterher. »Richard!«
Zedd blieb mit Darken Rahl allein. Er sah, wie durchsichtige Finger aus Rauch sich um die weißen Gewänder wanden und ihm die Arme an den Körper preßten. Zedd trat näher, und die blauen Augen schwenkten zu dem alten Zauberer herüber.
»Zeddicus Zu’l Zorander, bis hierhin hast du gewonnen, aber vielleicht noch nicht alles.«
»Überheblich bis zum Ende?«
Rahl grinste. »Sag mir, wer er ist.«
Zedd zuckte mit den Schultern. »Der Sucher.«
Rahl grölte vor Lachen, zappelte dabei schmerzgequält. Seine blauen Augen fanden Zedd ein weiteres Mal. »Er ist dein Sohn, hab’ ich recht? Wenigstens bin ich von Zaubererblut geschlagen worden. Du bist sein Vater.«
Zedd schüttelte langsam den Kopf, ein nachdenkliches Lächeln kam auf seine Lippen. »Er ist mein Enkel.«
»Du lügst! Warum hast du ein Netz um ihn gelegt und die Identität seines Vaters verborgen, wenn du es nicht selbst bist!«
»Ich habe ein Netz um ihn gelegt, weil ich nicht wollte, daß er erfährt, wer dieser blauäugige Bastard ist, der seine Mutter vergewaltigt und ihm so das Leben geschenkt hat.«
Darken Rahl riß die Augen auf. »Deine Tochter wurde umgebracht. Das hat mir mein Vater erzählt.«
»Ein kleiner Trick, damit sie sicher war.« Zedds Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Obwohl du nicht wußtest, wer sie war, hast du sie geschändet. Ohne es zu wollen, hast du ihr Glück gebracht. Richard.«
»Ich bin sein Vater?« flüsterte Rahl.
»Ich wußte, daß ich dir nichts anhaben konnte, als du meine Tochter vergewaltigt hattest, daher war mein erster Gedanke, sie zu trösten, sie zu beschützen. Deswegen habe ich sie nach Westland gebracht. Sie lernte einen jungen Mann kennen, einen Witwer mit einem kleinen Sohn. George Cypher war ein rechtschaffener, gütiger Mann, und ich war stolz, ihn als Mann meiner Tochter zu bekommen. George liebte Richard wie seinen eigenen Sohn, aber er kannte die Wahrheit. Nur nicht über mich. Er wußte nicht, wer ich war, das blieb verborgen unter dem Netz. Ich hätte Richard für die Verbrechen seines Vaters hassen können, entschied mich aber statt dessen, ihn um seiner selbst willen zu lieben. Er hat sich zu einem prächtigen Mann entwickelt, findest du nicht? Du bist von eben dem Erben besiegt worden, den du dir immer gewünscht hast. Einem Erben, der mit der Gabe geboren wurde. Das ist sehr selten. Richard ist der wahre Sucher. Vom Blut der Rahls hat er die Kraft des Zorns, die Fähigkeit zur Gewalt. Aber sie wird ausgeglichen durch das Blut der Zorander, der Fähigkeit zu lieben, zu verstehen, zu vergeben.«
Darken Rahl schimmerte inmitten der Schatten der Magie der Ordnung. Er wand sich gequält, als er durchsichtig wurde wie Rauch. »Man stelle sich vor, die Geschlechter derer von Rahl und Zorander, im Blute vereint. Trotzdem ist er mein Erbe. In gewisser Hinsicht«, brachte er hervor, »habe ich gesiegt.«
Zedd schüttelte den Kopf. »Du hast verloren, in mehr als einer Hinsicht.«
Dampf, Rauch und Schatten vermischten sich zu einem tosenden Wirbel. Der Erdboden bebte heftig. Der mittlerweile pechschwarze Zauberersand wurde in den Strudel hineingezogen. Das Ganze rotierte über dem Strudel, und die Geräusche der Welt des Lebens und des Todes vermengten sich zu einem gräßlichen Geheul.
Darken Rahls Stimme wurde hohl, leer, tot. »Lies die Prophezeiungen, alter Mann, noch ist nichts so endgültig, wie du vielleicht glaubst. Ich bin ein Agent.«
Inmitten der wirbelnden Masse zündete ein blendender Lichtpunkt. Zedd schützte seine Augen. Balken weißglühenden Lichts schossen in die Höhe, durch die Fenster in der Decke in den Himmel sowie nach unten in die Schwärze des Abgrunds. Ein Blitz ließ alles ringsum weiß erglühen, dann war es still.
Vorsichtig nahm Zedd die Hand von den Augen. Es war verschwunden. Das Ganze war nicht mehr da. Die Wintersonne wärmte den Erdboden, wo noch Augenblicke zuvor der schwarze Abgrund gewesen war. Der Zauberersand war nicht mehr da. Nur noch der Kreis aus nacktem Erdboden, den er bedeckt hatte, war zu sehen.
Er stand vor dem Altar, breitete im Sonnenlicht die Arme aus und schloß die Augen.
»Ich rufe die Netze zurück. Ich bin der, der ich vorher war, Zeddicus Z’ul Zorander, Zauberer der ersten Ordnung. Laß es alle noch einmal wissen. Und die übrigen auch.«
Richard war es, der sie fand. Sie kniete vor einem der verlassenen Gebetsteiche, den Knebel immer noch um ihren Hals, wo sie ihn hatte hängen lassen, nachdem sie ihn sich aus dem Mund gerissen hatte. Kahlan hockte zusammengesunken da und weinte, das lange Haar fiel ihr über die Schultern, während sie sich vorbeugte. Das Messer hielt sie mit beiden Händen gepackt, die Spitze auf ihre Brust gerichtet. Ihre Schultern schüttelten sich unter ihrem Schluchzen. Richard blieb neben den Falten ihres weißen Kleides stehen.
»Tu es nicht«, flüsterte er.
»Ich muß. Ich liebe dich.« Kahlan stöhnte leise. »Ich habe dich mit meiner Kraft berührt. Lieber sterbe ich, als daß ich deine Herrin werde. Es gibt keinen anderen Weg, dich freizulassen.« Ein tränenreiches Schütteln. »Ich möchte, daß du mir einen Kuß gibst und dann gehst. Du sollst nicht dabeisein.«
»Nein.«
Sie hob abrupt den Kopf. »Was hast du gesagt?« flüsterte sie ungläubig.
Richard stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe ›nein‹ gesagt. Solange du diese alberne Kriegsbemalung auf dem Gesicht hast, werde ich dir keinen Kuß geben. Sie hätte mich fast zu Tode erschreckt.«
Sie starrte ihn aus ihren grünen Augen ungläubig an. »Du kannst dich mir nicht widersetzen, ich habe dich mit meiner Kraft berührt.«
Richard hockte sich dicht neben sie. Er band ihr den Knebel vom Hals. »Schön, du hast mir befohlen, dich zu küssen« — er tauchte den Fetzen ins Wasser — »und ich habe gesagt, kommt nicht in Frage, solange du dieses Zeug im Gesicht hast.« Er begann, ihr die Blitze aus dem Gesicht zu wischen. »Es gibt also keine andere Lösung, sie müssen weg.«
Sie blieb wie erstarrt auf den Knien sitzen, während er ihr das Rot aus dem Gesicht wischte. Als er fertig war, sah Richard ihr in die aufgerissenen Augen. Er warf den Fetzen fort, kniete sich vor sie hin und schlang ihr die Arme um die Hüfte.
»Richard, ich habe dich mit meiner Zauberkraft berührt. Ich habe es gehört. Wie ist es möglich, daß die Kraft dich nicht übermannt hat?«
»Weil ich geschützt war.«
»Geschützt? Wodurch?«
»Durch meine Liebe zu dir. Ich habe erkannt, daß ich dich mehr liebe als das Leben selbst und mich lieber deiner Zauberkraft überlassen würde, als ohne dich zu leben. Nichts, was die Zauberkräfte mir hätten anhaben können, wäre schlimmer gewesen als ein Leben ohne dich. Ich war bereit, mich dir vollkommen hinzugeben. Ich habe der Kraft alles gegeben, was ich hatte. Als ich wußte, wie sehr ich dich liebe und bereit war, mich dir unter allen Bedingungen zu unterwerfen, habe ich begriffen, daß mir die Magie nichts anhaben konnte. Ich war dir bereits ergeben, sie brauchte mich nicht mehr zu verändern. Ich war geschützt, weil du mich längst berührt hattest — mit deiner Liebe. Ich war vollkommen sicher, daß du genauso empfindest, daher hatte ich überhaupt keine Angst. Hätte ich Zweifel gehabt, hätte mich die Magie in diesen Spalt gerissen, aber ich war mir sicher. Meine Liebe für dich hat mich vor der Magie bewahrt.«
Sie schenkte ihm ihr ganz besonderes Lächeln. »So hast du empfunden? Du hattest keinen Zweifel?«
Richard erwiderte das Lächeln. »Ich muß zugeben, als ich die Blitze auf deinem Gesicht gesehen habe, da war ich einen Augenblick lang besorgt. Ich wußte nicht, was sie darstellten, was sie bedeuteten. Ich zog das Schwert, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Aber dann habe ich gemerkt, daß es keine Rolle spielte, du warst noch immer Kahlan, und ich habe dich noch immer geliebt, egal, was passiert war. Mehr als alles andere wollte ich, daß du mich berührst, damit ich dir meine Liebe und Hingabe beweisen konnte, aber wegen Darken Rahl mußte ich dir eine kleine Komödie vorspielen.«
»Diese Symbole besagen, daß auch ich bereit bin, mich dir völlig hinzugeben«, hauchte sie.
Kahlan schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuß. Aneinandergeschmiegt knieten sie auf den Steinplatten vor dem Gebetsteich. Richard küßte sie auf den zarten Mund, wie er es sich tausend Male erträumt hatte. Er küßte sie, bis ihm schwindelig wurde, ohne darauf zu achten, daß verwirrte Passanten sie beobachteten.
Richard hatte keine Ahnung, wie lange sie dort gekniet und sich umarmt hatten, beschloß aber schließlich, daß sie sich auf die Suche nach Zedd machen sollten. Den Arm um seine Hüfte und den Kopf an ihn gelehnt, schlenderten sie zurück zum Garten des Lebens und gaben sich noch einen Kuß, bevor sie durch die Pforten traten.
Zedd stand da, eine Hand in seine knochige Hüfte gestemmt, mit der anderen sich das Kinn reibend, und musterte den Altar und die anderen Dinge dahinter. Kahlan fiel vor ihm auf die Knie, ergriff seine Hand und küßte sie.
»Zedd, er liebt mich! Er hat herausgefunden, wie es trotz der Magie funktionieren kann. Es gab einen Weg, und er hat ihn gefunden.«
Zedd runzelte die Stirn und blickte auf sie herab. »Er hat schließlich lange genug dafür gebraucht.«
Kahlan kam wieder auf die Beine. »Du hast gewußt, wie es geht?«
Die Frage schien Zedd zu empören. »Ich bin ein Zauberer der ersten Ordnung. Natürlich wußte ich, wie es geht.«
»Und du hast es uns nie erzählt?«
Zedd mußte grinsen. »Hätte ich es euch erzählt, meine Liebe, dann hätte es nicht funktioniert. Das Vorwissen hätte die Saat des Zweifels gesät. Und aus diesem einen Körnchen wäre das Scheitern erwachsen. Um die Magie als wahrer Geliebter einer Konfessorin umgehen zu können, muß man sich ihr vollkommen hingeben. Ohne den absoluten, selbstlosen Willen dazu, und trotz des Wissens um die möglichen Folgen, würde es nicht funktionieren.«
»Du scheinst eine ganze Menge darüber zu wissen«, meinte Kahlan stirnrunzelnd. »Davon habe ich noch nie gehört. Wie oft kommt das vor?«
Zedd rieb sich nachdenklich das Kinn und blickte zu den Fenstern hinauf. »Soweit ich weiß, ist es bis jetzt nur ein einziges Mal passiert.« Er senkte den Blick und sah die beiden an. »Aber man darf es niemandem erzählen. Egal, wieviel Schmerz es bereiten, welche Folgen es haben kann, man darf es nicht erzählen. Sobald nur ein anderer etwas davon weiß, könnte es weitergegeben werden, und die Möglichkeit wäre allen für immer verschlossen. Dies ist eben die Ironie der Magie, man muß das Scheitern akzeptieren, bevor man Erfolg haben kann. Gleichzeitig ist das eine der Bürden der Magie: man muß die Ergebnisse, ja, sogar den Tod von anderen akzeptieren, um die Hoffnung auf die Zukunft bewahren zu können. Die Möglichkeiten und das Leben der jetzt noch Ungeborenen sind der Preis des Egoismus.«
Kahlan nickte. »Ich gelobe es.«
»Ich auch«, meinte Richard. »Ist es damit vorbei, Zedd? Mit Darken Rahl, meine ich. Ist er tot?«
Zedd warf Richard einen Blick zu, den dieser unerwartet unangenehm fand. »Darken Rahl ist tot.« Zedd legte Richard seine dürre Hand auf die Schulter und packte ihn fest mit seinen knochigen Fingern. »Du hast alles richtig gemacht, Richard, alles. Du hast mich vor Angst fast um den Verstand gebracht. Noch nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen.«
Richard strahlte vor Stolz. »Es war doch nur ein einfacher Trick.«
Zedd nickte. Sein wildaussehendes Haar stieb in alle Richtungen davon. »Das war mehr als ein Trick, mein Junge. Und schon gar kein einfacher.«
Sie drehten sich alle um, als sie jemanden kommen hörten. Chase kam und schleppte Michael am Kragen herein. Seine verdreckten weißen Hosen und sein schmutziges weißes Hemd verrieten, daß er nicht freiwillig mitgekommen war. Chase verpaßte ihm einen Stoß und zwang ihn vor Richard zu Boden.
Richards Stimmung wurde düster, als er seinen Bruder ansah. Michael hob den Blick und sah Richard voller Verachtung an.
»Ich werde es nicht zulassen, daß man mich auf diese Weise mißhandelt, mein kleiner Bruder.« Seine Stimme klang so überheblich wie immer. »Du hast keine Ahnung, auf was du dich eingelassen hast, keinen Schimmer von meinen Plänen. Du weißt nicht, wie ich allen durch die Vereinigung von Westland und D’Hara geholfen hätte. Du hast das Volk zu sinnlosem Leiden verdammt, das Darken Rahl ihnen hätte ersparen können. Du bist ein Narr.«
Richard dachte darüber nach, was er alles hatte durchmachen müssen, was Zedd, Chase und Kahlan hatten durchmachen müssen. Er mußte an all jene denken, die durch Rahls Hände gestorben waren, sowie die zahllosen Toten, von denen er nie etwas hören würde. All das Leid, die Grausamkeit und Brutalität. Er mußte an all die Tyrannen denken, die unter Darken Rahl hatten gedeihen können, angefangen von Darken Rahl selbst bis hin zu Prinzessin Violet. Er dachte an die Menschen, die er getötet hatte. Beim Gedanken an das, was er hatte tun müssen, verspürte er Kummer und Qual.
Das metallische Klirren des Schwertes der Wahrheit füllte die Luft. Michael riß die Augen auf, als er sah, daß die Spitze auf seine Kehle gerichtet war.
Richard beugte sich ein wenig dichter zu seinem Bruder herüber. »Grüße mich mit dem Gruß des Verlierers, Michael.«
Michaels Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Lieber sterbe ich.«
Richard nickte und richtete sich auf. Er blickte seinem Bruder tief in die Augen, als er das Schwert fortnahm. Richard hielt seinen Zorn im Zaum und versuchte, das Schwert weiß zu färben. Es ging nicht. Er ließ die Klinge zurück in die Scheide gleiten.
»Ich bin froh, daß wir beide etwas gemeinsam haben, Michael.
Wir würden beide für unsere Überzeugungen sterben.« Er löste den Blick von Michael und musterte die große, geschwungene Streitaxt an Chase’ Gürtel. Er hob den Kopf und blickte dem Grenzposten in das entschlossene Gesicht. »Richte ihn«, sagte er leise. »Bringe seinen Kopf seiner Leibgarde. Sag ihnen, er sei auf meinen Befehl hin wegen Verrats an Westland hingerichtet worden. Westland wird sich einen neuen Obersten Rat suchen müssen.«
Chase vergrub seine riesige Faust in Michaels Haar. Michael stieß einen Schrei aus, sank auf die Knie und entbot den Salut des Verlierers.
»Richard! Ich flehe dich an, du bist doch mein Bruder. Du darfst nicht zulassen, daß er mich tötet! Es tut mir leid, vergib mir. Ich habe mich geirrt. Bitte, Richard, vergib mir.«
Richard blickte auf seinen Bruder herab, der zitternd vor ihm auf den Knien lag und die Hände flehend in den Himmel reckte. Richard nahm den Strafer in die Faust, spürte den Schmerz, den er ihm bereitete, und akzeptierte ihn. Erinnerungen blitzten bildhaft durch sein Gedächtnis. »Darken Rahl hat dir gesagt, was er mit mir tun würde. Du hast Bescheid gewußt. Du hast gewußt, was mit mir geschehen würde, und es war dir egal, weil du dir einen persönlichen Vorteil davon versprochen hast. Michael, ich vergebe dir alles, was du mir angetan hast.« Michael sackte erleichtert zusammen. Der Sucher richtete sich auf. »Aber was du anderen angetan hast, kann ich dir unmöglich vergeben. Wegen deiner Taten haben andere ihr Leben eingebüßt. Wegen dieser Verbrechen wirst du hingerichtet werden, nicht wegen derer gegen mich.«
Michael schrie auf und kreischte, während Chase ihn fortschleppte. Zitternd, gequält verfolgte Richard, wie sein Bruder zur Hinrichtung geführt wurde.
Zedd hob die Hand und legte sie auf Richards Hand, die den Strafer hielt. »Laß ihn los, Richard.«
Richards Gedanken überdeckten den Schmerz, den er ihm bereitete. Er blickte Zedd an, der vor ihm stand und seine knochige, ledrige Hand auf seine gelegt hatte, Zedd sah Dinge in den Augen seines Freundes, die er dort noch nie gesehen hatte: er verstand Richards Schmerz. Richard ließ den Strafer los.
Kahlans Blick fiel auf ihn, als er wieder um seinen Hals baumelte. »Richard, mußt du dieses Ding wirklich behalten?«
»Im Augenblick ja.Ich habe es jemandem versprochen, den ich getötet habe. Jemandem, der mir beigebracht hat, wie sehr ich dich liebe. Darken Rahl hat geglaubt, mich hiermit besiegen zu können. Statt dessen hat er mir gezeigt, wie ich ihn besiegen kann. Wenn ich ihn jetzt fortwerfe, würde ich leugnen, was in meinem Innersten steckt.«
Kahlan legte ihm die Hand auf den Arm. »Im Augenblick verstehe ich das nicht, aber irgendwann werde ich es verstehen, ganz bestimmt.«
Zedd strich sich verärgert seinen Umhang glatt. »Verdammt! In einem so großen Gebäude müßte es doch eigentlich etwas zu essen geben, meint ihr nicht auch?«
Richard grinste, legte den beiden einen Arm um die Schulter und führte sie aus dem Garten des Lebens. Er brachte sie zu einem Speisesaal, an den er sich noch erinnerte. Die Leute saßen an den Tischen, als hätte sich nichts verändert. In einer Ecke fanden die drei einen freien Tisch. Diener brachten Platten mit Reis, Gemüse, braunem Brot, Käse, Schalen mit dampfender Gewürzsuppe. Die überraschten Diener brachten lächelnd laufend Nachschub, sobald Zedd entschlossen die Teller mit den Speisen geleert hatte.
Richard probierte den Käse und stellte zu seiner Überraschung fest, daß ihm von dem Geschmack schlecht wurde. Er warf ihn auf den Tisch zurück und machte ein angewidertes Gesicht.
»Was ist?« wollte Zedd wissen.
»Das ist bestimmt der widerlichste Käse, den ich je probiert habe!«
Zedd schnupperte daran und biß ein Stück ab. »Mit dem Käse ist alles in Ordnung, mein Junge.«
»Schön, dann iß du ihn doch.«
Zedd war nur zu bereit. Richard und Kahlan aßen Gewürzsuppe und Schwarzbrot und sahen ihrem alten Freund schmunzelnd beim Essen zu. Endlich hatte Zedd genug, und sie setzten ihren Weg aus dem Palast des Volkes fort.
Während sie durch die Hallen liefen, ertönten die Glocken in einem einzigen, langen Schlag und riefen die Menschen zur Andacht. Kahlan verfolgte argwöhnisch, wie alles auf den Plätzen zusammenkam, sich zur Mitte hin verneigte und den Gesang anstimmte. Richard hatte die Worte des Gebetes verändert und verspürte den Sog, dieses nervöse Verlangen nicht mehr, sich zu diesen Menschen zu gesellen. Sie passierten eine Reihe von Plätzen, die alle voller betender Menschen waren. Richard überlegte, ob er nicht etwas dagegen unternehmen, sie irgendwie daran hindern müßte, entschied dann aber, daß er das Wichtigste bereits getan hatte.
Die drei verließen die höhlenartigen Hallen und traten hinaus in die Wintersonne. Vor ihnen ergoß sich eine riesige Freitreppe in die endlose Weite des Innenhofes. Die drei blieben am obersten Rand stehen. Richard stockte der Atem, als er sah, welche Menschenmassen sich dort versammelt hatten.
Tausende von Männern standen in Reih und Glied über den ganzen Platz verteilt. An deren Spitze, am Fuße der Treppen, stand Michaels Leibgarde, die vormals Heimatgarde genannt worden war, bevor Michael ihr den neuen Namen gegeben hatte. Ihre Kettenhemden, Schilde und gelben Banner leuchteten hell in der Sonne. Hinter ihnen standen nahezu tausend Mann der Westlandarmee. Vor ihnen allen stand mit verschränkten Armen Chase und blickte die Treppen hinauf. Neben ihm hatte man einen Pfahl mit Michaels Kopf in die Erde gerammt. Richard stand da, von der Stille wie gelähmt. Hätte ein Mann ganz hinten, eine halbe Meile entfernt, gehustet, er hätte es gehört.
Zedd legte ihm die Hand auf die Schulter und drängte ihn die Treppe hinunter. Es fühlte sich ein wenig zu sehr an, als würde er geschoben. Kahlan ergriff seinen Arm, drückte ihn und begann erhobenen Hauptes, die Folge von Stufen und ausgedehnten Absätzen hinunterzusteigen. Chase sah Richard in die Augen. Neben ihm entdeckte Richard Rachel. Sie hielt mit einem Arm sein Bein umklammert, in der anderen Hand hielt sie Sara. Siddin hielt die andere Hand der Puppe. Er entdeckte Kahlan, riß sich los und kam ihr entgegengelaufen. Sie empfing ihn lachend mit offenen Armen und hob ihn hoch. Er grinste Richard an und stammelte etwas, das Richard nicht verstand, dann schlang er Kahlan die Arme um den Hals. Nachdem sie ihn liebkost und ihm etwas zugeflüstert hatte, setzte sie ihn ab und hielt ihn fest an der Hand.
Der Hauptmann der Heimatgarde trat vor. »Die Heimatgarde steht bereit, Euch ihre Ergebenheit zu schwören.«
Der Kommandant der Westlandarmee stellte sich neben den Hauptmann. »Die Armee Westlands ebenfalls.«
Ein Offizier aus D’Hara trat vor. »Und die Streitmacht D’Haras.«
Richard starrte sie benommen an, ungläubig. Er spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg.
»Niemand wird irgend jemandem seine Ergebenheit schwören, und erst recht nicht mir. Ich bin ein Waldführer. Sonst nichts. Bekommt das endlich in eure Köpfe. Ein Waldführer!«
Richard ließ den Blick über das Meer von Köpfen schweifen. Er sah zu Michaels blutverkrustetem Kopf auf dem Pfahl hinüber. Er schloß einen Augenblick lang die Augen, dann wandte er sich an einige Männer der Heimatgarde und zeigte auf den Kopf.
»Vergrabt dieses Ding mit seinen anderen Überresten.« Niemand rührte sich. »Jetzt gleich!«
Sie sprangen herbei und stürzten zum Kopf. Richard sah den Offizier aus D’Hara an, der vor ihm stand. Alle warteten.
»Gebt bekannt, daß alle Feindseligkeiten beendet sind. Der Krieg ist vorbei. Sorgt dafür, daß alle Truppen in ihre Heimat zurückkehren und sämtliche Besatzungstruppen zurückgezogen werden. Ich erwarte, daß jeder, ob Soldat oder General, der Verbrechen gegen hilflose Menschen begangen hat, vor Gericht gestellt und nach dem Gesetz bestraft wird, sollte er für schuldig befunden werden. Die Streitkräfte D’Haras sollen helfen, jenen Menschen, die ansonsten über Winter verhungern würden, Lebensmittel zu bringen. Feuer ist nicht mehr ungesetzlich. Sollten sich irgendwelche Truppen, denen Ihr begegnet, diesen Befehlen widersetzen, werdet Ihr Euch um sie kümmern müssen.« Richard deutete auf den Kommandanten der Westlandarmee. »Nehmt Eure Truppen und helft ihm. Zusammen seid Ihr stark genug, um Euch gegen jeden durchzusetzen.« Die beiden Offiziere starrten sich an. Richard beugte sich vor. »Von allein wird es nicht geschehen.«
Die beiden Männer legten zum Gruß die Faust übers Herz und verneigten sich.
Der Offizier aus D’Hara hob den Kopf und sah Richard in die Augen. Er hatte die Faust noch immer über dem Herzen. »Wie Ihr befehlt, Meister Rahl.«
Richard machte ein überraschtes Gesicht, dann tat er es als unwesentlich ab. Vermutlich war der Mann zu sehr daran gewöhnt, ›Meister Rahl‹ zu sagen.
Richard bemerkte an der Seite einen Posten. Er erkannte den Mann wieder. Er war Hauptmann der Wachmannschaft gewesen, als Richard den Palast des Volkes verlassen hatte. Er war es gewesen, der ihm ein Pferd angeboten und ihn vor dem Drachen gewarnt hatte. Richard gab ihm ein Zeichen, vorzutreten. Der Mann kam herbei und nahm Haltung an. Er wirkte ein wenig besorgt.
»Ich habe eine Aufgabe für dich.« Der Mann wartete schweigend. »Ich denke, es ist genau das richtige für dich. Ich möchte, daß du alle MordSiths zusammentrommelst. Ausnahmslos alle.«
»Jawohl, Sir.« Er wirkte ein wenig blaß. »Sie werden alle bei Sonnenaufgang hingerichtet werden.«
»Nein! Ich will nicht, daß sie hingerichtet werden!«
Der Mann machte ein ungläubiges Gesicht. »Was soll ich dann mit ihnen tun?«
»Du wirst ihre Strafer vernichten. Jeden einzelnen. Ich will nie wieder einen davon sehen.« Er hielt den hoch, der um seinen Hals hing. »Bis auf diesen einen. Dann wirst du ihnen neue Kleider besorgen. Verbrenne die Kleider der Mord-Sith bis auf den letzten Fetzen. Sie sollen freundlich und mit Respekt behandelt werden.«
Der Mann riß die Augen auf. »Freundlich«, hauchte er, »und mit Respekt?«
»Genau das habe ich gesagt. Sie sollen eine Aufgabe bekommen, bei der sie Menschen dienlich sein können, und man wird ihnen beibringen, die Menschen auf die gleiche Weise zu behandeln, wie man sie behandelt, freundlich und mit Respekt. Wie du das anstellst, weiß ich nicht, du wirst dir etwas einfallen lassen müssen. Du scheinst ein kluger Kopf zu sein. Noch Fragen?«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Und wenn sie sich weigern, sich zu ändern?«
Richard sah den Mann wütend an. »Sag ihnen, wenn sie lieber auf dem alten Weg bleiben wollen, als einen neuen zu beschreiten, dann werden sie am Ende ihres Weges dem Sucher begegnen.«
Der Posten grinste, legte die Faust zum Gruß auf sein Herz und verneigte sich zackig.
Zedd beugte sich vor. »Richard, die Strafer sind magisch, man kann sie nicht einfach so vernichten.«
»Dann hilf du ihm, Zedd. Hilf ihm, sie zu vernichten, oder schließe sie fort, was auch immer. Einverstanden? Ich will nicht, daß noch irgend jemand mit einem Strafer verletzt wird.«
Zedd lächelte verhalten und verneigte sich. »Dabei helfe ich gern, mein Junge.« Zedd zögerte und strich sich mit einem seiner langen Finger übers Kinn. Leise fragte er: »Richard, meinst du wirklich, das funktioniert? Die Truppen zurückzurufen mit Hilfe der Westlandarmee?«
»Vielleicht auch nicht. Aber beim ersten Gesetz der Magie weiß man nie, außerdem gewinnen wir so Zeit, bis wir alle nach Hause gebracht haben und du die Grenze wieder errichten kannst. Dann sind wir endlich wieder sicher. Und fertig mit der Magie.«
Im Himmel donnerte es. Richard schaute nach oben und sah Scarlet am Himmel kreisen. Der dunkelrote Drache kreiste spiralförmig durch die schneidende Luft. Die Männer wichen zurück, schrien und liefen durcheinander, als sie sahen, daß er vor den Stufen landen würde. Flügelschlagend setzte Scarlet vor Richard, Zedd, Kahlan, Chase und den beiden Kindern auf.
»Richard! Richard!« rief Scarlet, von einem Bein auf das andere hüpfend, die Flügel ausgebreitet, zitternd vor Erregung. Ihr riesiger roter Kopf schwenkte zu ihm herüber. »Mein Junges ist geschlüpft! Ein wunderhübscher kleiner Kerl, genau wie du es gesagt hast. Ich möchte, daß du mitkommst und ihn dir ansiehst! Er ist so kräftig, ich wette, in einem Monat kann er fliegen!« Plötzlich schien Scarlet all die Menschen zu bemerken. Ihr Kopf schwenkte herum und musterte sie. Sie kniff die großen gelben Augen ungläubig zusammen, dann schwenkte sie den Kopf wieder herunter zu Richard. »Gibt es Ärger? Brauchen wir ein wenig Drachenfeuer?«
Richard mußte grinsen. »Nein. Es ist alles in Ordnung.«
»Also schön, dann steig auf, und ich nehme dich mit, damit du dir den Kleinen ansehen kannst.«
Richard legte den Arm um Kahlans Hüfte. »Gerne, wenn du Kahlan auch mitnimmst.«
Scarlet musterte Kahlan von Kopf bis Fuß. »Wenn sie zu dir gehört, ist sie willkommen.«
»Richard«, sagte Kahlan, »was wird aus Siddin? Weselan und Savidlin werden schon krank vor Sorge um ihn sein.« Sie sah ihm tief in die Augen, beugte sich vor und flüsterte: »Außerdem haben wir im Haus der Seelen noch etwas zu erledigen. Ich glaube, dort liegt immer noch ein Apfel, den wir noch nicht aufgegessen haben.« Ihr Arm legte sich fester um seine Hüfte, ihre Lippen verzogen sich zu einem verhalten schelmischen Lächeln. Das Lächeln raubte ihm den Atem.
Richard hatte Schwierigkeiten, den Blick von ihr zu lösen und Scarlet anzusehen. »Dieser Kleine hier wurde von den Schlammenschen entführt, als du Darken Rahl dorthin gebracht hast. Seine Mutter ist ebenso darauf bedacht, ihn zurückzubekommen, wie du auf dein Ei versessen warst. Könntest du uns dorthin bringen, nachdem wir uns deinen kleinen Drachen angesehen haben?«
Scarlet musterte Siddin mit ihren großen Augen. »Ich denke, ich kann verstehen, daß seine Mutter besorgt ist. Ist so gut wie erledigt. Steigt auf.«
Zedd trat vor, die Hände in die Hüften gestemmt, seine Stimme fassungslos. »Du läßt Menschen auf dir fliegen? Ein roter Drache? Du bringst ihn hin, wohin er will?«
Scarlet umhüllte den Zauberer mit einer Rauchwolke und zwang ihn einen Schritt zurück. »Einen Menschen nicht. Aber das hier ist der Sucher. Er befehligt mich. Er befehligt den Wind. Diesen Mann hier würde ich bis in die Unterwelt fliegen, wenn es sein müßte.«
Richard hielt sich an den Dornen fest und stieg auf Scarlets Schultern, als sie sich für ihn bückte. Kahlan reichte Siddin nach oben. Richard nahm ihn auf den Schoß und ergriff Kahlans Hand, als sie das Bein hinter ihm über Scarlets Rücken schwang. Sie legte ihm die Arme um die Hüften, drückte die Hände gegen seine Brust, den Kopf an seine Schulter, schmiegte sich fest an ihn.
Richard beugte sich ein wenig zu Zedd. »Paß auf dich auf, mein Freund.« Er lächelte. »Der Vogelmann wird zufrieden sein, daß ich am Ende doch noch eine Frau von den Schlammenschen zum Weib genommen habe. Wo werde ich dich finden?«
Zedd reckte seinen dünnen Arm nach oben, bekam Richards Knöchel zu fassen und tätschelte ihn. »Ich werde in Aydindril sein. Komm mich besuchen, wenn du fertig bist.«
Richard beugte sich noch weiter vor und sah ihn an, so streng es ging. »Und dann werden wir uns unterhalten. Und zwar sehr ausführlich.«
Zedd nickte lächelnd. »Ja, ich denke, das werden wir tun.«
Richard lächelte Rachel an, winkte ihr und Chase zu, dann versetzte er einer von Scarlets Schuppen einen Klaps. »Und jetzt los, meine rote Freundin!«
Scarlet stieß röhrend einen Feuerball aus, dann stieg sie in die Lüfte, Richards Träume und sein Glück auf dem Rücken.
Zedd stand da und beobachtete, wie der Drache am Himmel immer kleiner wurde — seine Sorgen behielt er für sich. Chase strich Rachel übers Haar, dann verschränkte er die Arme, zog eine Braue hoch und sah den Zauberer an.
»Für einen Waldführer erteilt er eine Menge Befehle.«
Zedd mußte lachen. »Ja, das stimmt.«
Ein kleiner, kahlköpfiger Mann kam winkend den Abhang aus Stufen herabgerannt. »Zauberer Zorander! Zauberer Zorander!« Schließlich stand er keuchend vor ihnen. »Zauberer Zorander.«
»Was gibt’s?« fragte Zedd mißtrauisch.
Er hatte Mühe, seinen Atem wiederzufinden. »Zauberer Zorander, es gibt Ärger.«
»Was für einen Ärger? Und wer bist du?«
Er beugte sich verschwörerisch vor, senkte die Stimme. »Ich bin der Leiter der Bediensteten in der Gruft. Es gibt Ärger.« Sein Blick schweifte umher. »In der Gruft.«
»In welcher Gruft?«
Die Frage schien ihn zu überraschen. »In der Gruft von Panis Rahl, Meister Rahls Großvater, natürlich.«
Zedd runzelte die Stirn. »Und um was für einen Ärger handelt es sich?«
Der Leiter der Gruftdiener hielt sich nervös den Finger auf die Lippen. »Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen, Zauberer Zorander, aber meine Leute würden niemals lügen.«
»Was ist denn los!« fuhr Zedd ihn an. »Sag mir endlich, was los ist!«
Wieder zuckten seine Augen umher, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Die Mauern, Zauberer Zorander. Die Mauern!«
Zedd biß die Zähne zusammen. »Was ist mit den Mauern?«
Er sah den Zauberer mit großen Augen an. »Sie scheinen zu schmelzen, Zauberer Zorander. Die Mauern der Gruft scheinen zu schmelzen.«
Zedd richtete sich auf. »Verdammt! Habt ihr weißen Stein zur Hand, weißen Stein aus dem Steinbruch der Propheten?«
Der Mann nickte heftig. »Natürlich.«
Zedd griff in seinen Umhang und holte einen kleinen Beutel hervor. »Versiegelt den Grabeingang mit weißem Gestein aus dem Steinbruch der Propheten.«
»Vollständig?« hauchte er ungläubig.
»Ja. Vollständig. Sonst schmilzt der ganze Palast.« Er gab dem Mann den Beutel. »Mische diesen magischen Staub unter den Mörtel. Es muß vor Sonnenuntergang erledigt sein, verstanden? Er muß bis Sonnenuntergang vollständig versiegelt sein.«
Der Mann nickte, riß Zedd den Beutel aus der Hand und rannte die Stufen hinauf, so schnell ihn die kurzen Beine trugen. Auf dem Weg nach oben begegnete ihm ein anderer, größerer Mann, der die Hände in den gegenüberliegenden Ärmeln seines weißen Umhanges stecken hatte. Chase warf Zedd einen wütenden Blick zu und bohrte ihm seinen kräftigen Finger in die Brust.
»Panis Rahl, Meister Rahls Großvater?«
Zedd räusperte sich verlegen. »Nun ja, ich denke, wir werden uns unterhalten müssen.«
Der Mann in dem weißen Umhang kam näher. »Zauberer Zorander, ist Meister Rahl in der Nähe? Es gibt einiges zu besprechen.«
Zedd warf dem Drachen einen letzten Blick zu, bevor er am Himmel verschwand. »Meister Rahl wird einige Zeit nicht hier sein.«
»Aber er wird zurückkehren?«
»Ja.« Zedd blickte wieder in das erwartungsvolle Gesicht des Mannes. »Ja, er wird zurückkommen. Bis dahin werdet ihr ohne ihn auskommen müssen.«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Daran sind wir hier im Palast des Volkes gewöhnt — darauf zu warten, daß der Meister zurückkehrt.« Er machte kehrt und wollte gehen, blieb jedoch stehen, als Zedd ihn zurückrief.
»Ich verhungere, ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen. Kann man hier irgendwo etwas zu essen bekommen?«
Lächelnd deutete der Mann auf den Eingang am Palast. »Aber natürlich, Zauberer Zorander, Erlaubt mir, Euch zu einem Speisesaal zu bringen.«
»Wie war’s, Chase. Möchtest du nicht auch etwas essen?«
Der Grenzposten schaute zu Rachel hinunter. »Und? Möchtest du?« Sie mußte grinsen und nickte. »Also gut, Zedd. Und wohin führt dich deine Reise?«
Zedd zupfte verlegen sein Gewand zurecht. »Ich werde Adie besuchen.«
Chase zog eine Braue hoch. »Ein bißchen Ruhe und Entspannung?« grinste er.
Zedd konnte nicht anders, er mußte ebenfalls grinsen. »Das auch. Außerdem muß ich sie nach Aydindril bringen, in das magische Versteck. Wir müssen eine ganze Menge nachlesen.«
»Wozu in aller Welt willst du Adie nach Aydindril bringen, in das magische Versteck, noch dazu, um zu lesen?«
Zedd warf dem Grenzposten einen Seitenblick zu. »Weil sie mehr als jeder andere über die Unterwelt weiß.«