19

Der Nieselregen sammelte sich auf Richards Gesicht und lief an seiner Nase hinunter, blieb kitzelnd als Tröpfchen an der Spitze hängen. Genervt wischte er es fort. Er war so müde, daß er kaum noch wußte, was er tat. Nur eins wußte er sicher, er war nicht imstande, Kahlan, Zedd oder Chase zu finden. Er hatte unablässig gesucht, war endlose Pfade und Straßen in beiden Richtungen entlang gewandert, hatte sich im Zickzack dem Palast des Volkes genähert und doch kein Zeichen von ihnen gesehen. Überall gab es Wege und Pfade, und er wußte, daß er nur einen Bruchteil von ihnen abgesucht hatte. Nachts hatte er nur für ein paar Stunden haltgemacht, meist, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen, und selbst dann hatte er noch zu Fuß weitergesucht. Seit er seinen Bruder verlassen hatte, hatte die dichte Wolkendecke tief über dem Boden gehangen und die Sicht begrenzt. Er war wütend, daß der Himmel ausgerechnet jetzt verhangen war, wo er Scarlet nötiger denn je brauchte.

Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben, so als arbeite das Schicksal für Darken Rahl. Bestimmt hatte Rahl Kahlan inzwischen gefangen. Es war zu spät, sie befand sich längst im Palast des Volkes.

Er trieb das Pferd den Bergpfad hinauf, durch die hohen Nadelwälder, die auf dem steilen Untergrund wuchsen. Schwammiges Moos dämpfte das Geräusch der Hufe. In der Dunkelheit war fast nichts zu erkennen. Als er durch Dunkelheit und Nebel höher kam, wurde der Baumbestand spärlicher und setzte ihn dem kalten Wind aus, der den steilen Hang hinaufwehte. Er zerrte an seinem Umhang und heulte ihm in den Ohren. Dunkel wehten Wolken- und Nebelfetzen über den Pfad. Richard zog seine Kapuze über, um sich gegen die Widrigkeiten des Wetters zu schützen. Er konnte zwar nichts erkennen, wußte aber, daß er den höchsten Punkt des Passes erreicht hatte, und begann den Abstieg auf der anderen Seite.

Es war tief in der Nacht. Mit der Dämmerung begänne der erste Tag des Winters. Der letzte Tag der Freiheit.

Unter einem überhängenden Felsen entdeckte Richard eine geschützte Stelle und beschloß, vor seiner letzten Morgendämmerung noch ein paar Stunden zu schlafen. Ermattet glitt er vom nassen Rücken des Pferdes und band es an eine nahe Krüppelfichte, die sich in das hohe Gras duckte. Er nahm nicht einmal seinen Rucksack ab, sondern rollte sich einfach in seinem Umhang unter den Felsen und versuchte einzuschlafen. Dachte an Kahlan und daran, was er unternehmen mußte, um sie vor den Händen einer Mord-Sith zu bewahren. Sobald er Darken Rahl beim Öffnen des Kästchens geholfen hätte, das ihm die gesuchte Macht verschaffen würde, würde dieser ihn töten. Darken Rahl hatte ihm zwar versichert, er wäre frei und könne sein Leben leben — aber was für ein Leben wäre das, nachdem er von Kahlans Macht berührt worden war? Außerdem wußte er, daß Darken Rahl log. Rahl hatte vor, ihn zu töten. Hoffentlich ging es wenigstens schnell. Sein Entschluß, Darken Rahl zu helfen, wäre sicher auch Zedds Tod, aber wenigstens würden viele andere überleben. Leben unter der brutalen Herrschaft von Darken Rahl, trotzdem, sie würden leben. Richard ertrug die Vorstellung nicht, für den Tod von allen und jedem verantwortlich zu sein. Rahl hatte die Wahrheit gesagt, Richard war verraten worden, und wahrscheinlich wußte er auch, welches Kästchen ihn töten würde. Selbst wenn er log, durfte Richard nicht das Leben aller mit dieser einzigen Chance verspielen. Richard hatte keine Alternative mehr, ihm blieb nichts anderes übrig, als Darken Rahl zu helfen.

Seine Rippen schmerzten noch immer von Dennas Folter. Das Liegen fiel ihm nach wie vor schwer, genau wie das Atmen. Seit er den Palast des Volkes verlassen hatte, verfolgten ihn im Schlaf Alpträume, Alpträume von Dennas Folter, genau wie sie es ihm versprochen hatte. Er träumte, hilflos dazuhängen, während Denna ihn traktierte, träumte von seiner Hilflosigkeit, sie daran zu hindern, träumte, niemals fliehen zu können. Er träumte, Michael stände daneben und sähe zu. Er träumte, wie auch Kahlan gefoltert wurde und Michael dabei zusah.

Er wachte schweißgebadet auf, zitternd vor Angst, und hörte sich winseln. Sonnenlicht fiel schräg unter den Felsvorsprung. Die orangefarbene Sonne schob sich gerade über den östlichen Horizont.

Richard stand auf, räkelte sich und betrachtete die Dämmerung des ersten Wintertages. Er befand sich hoch auf einem Berg. Die umliegenden Gipfel durchstießen eine tiefhängende Wolkendecke. Die Wolken erstreckten sich weit vor ihm bis zum östlichen Horizont wie ein orangegefärbtes Meer aus Grau.

Das Wolkenmeer wurde nur an einer einzigen Stelle durchbrochen — durch den Palast des Volkes. Von der Sonne beschienen erhob er sich in weiter Ferne stolz auf seiner Hochebene, überragte die Wolken, als wartete er auf ihn. Ein Gefühl der Kälte zog durch seinen Unterleib. Der Palast war noch sehr weit entfernt. Er hatte die Entfernung bis dorthin unterschätzt, es war viel weiter, als er gedacht hatte. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Sobald die Sonne im Zenit stand, konnten die Kästchen geöffnet werden.

Beim Umdrehen nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Das Pferd wieherte verängstigt. Geheul zerriß die Stille des Morgens. Herzhunde.

Richard zückte sein Schwert, als sie sich in Scharen über den Felsen stürzten. Er wollte zum Pferd, doch die Herzhunde hatten es bereits gerissen. Immer mehr stürmten wie blind auf ihn zu. Nur für einen winzigen Augenblick war er vor Schreck wie gelähmt, dann sprang er auf den Felsen, unter dem er geschlafen hatte. Die Hunde sprangen mit schnappenden Zähnen hinter ihm her. Die erste Angriffswelle streckte er nieder, dann, als immer weitere Hunde angriffen, zog er sich weiter nach oben auf den Felsen zurück. Richard pflügte mit dem Schwert durch die vorrückende, knurrende, heulende Meute. Es war wie ein Meer aus dunkelbraunem Fell, das in Wellen über ihn schwappte. Ungestüm drosch und stach er auf sie ein und versuchte gleichzeitig zurückzuweichen. Hinter ihm kamen Hunde über den Felsen. Er sprang zur Seite, als die beiden Meuten ineinanderprallten und sich bei dem Versuch zerfleischten, als erste an sein Herz heranzukommen.

Richard kletterte höher, hielt sich die Bestien vom Leib und tötete jede, die ihm zu nahe kam. Er wußte, daß es aussichtslos war; es waren mehr, als er je abwehren könnte. Er ließ dem Zorn der Magie des Schwertes freien Lauf und rückte wie besessen in ihre vordersten Reihen vor. Er durfte Kahlan nicht enttäuschen, nicht jetzt. Die Luft schien voller gelber Reißer, die nach ihm schnappten. Überall war Blut von dem Gemetzel. Die Welt färbte sich rot.

Und stand plötzlich in Flammen. Hunde heulten vor tödlicher Qual auf. Der Drache röhrte vor Wut. Scarlets Schatten wischte über ihm hinweg. Richards Schwert durchtrennte jeden Hund, der ihm zu nahe kam. Die Luft stank nach Blut und versengtem Fell.

Scarlet packte ihn mit der Kralle um die Taille und hob ihn aus der nach ihm springenden, schnappenden Meute. Richard keuchte, vom grimmigen Kampf erschöpft, während der Drache ihn zu einer Lichtung auf einem anderen Berg flog. Sachte setzte sie ihn auf dem Boden ab und landete.

Richard war den Tränen nahe. Er warf sich gegen ihre roten Schuppen, streichelte sie, legte den Kopf gegen sie. »Danke, meine Freundin. Du hast mir das Leben gerettet. Du hast vielen das Leben gerettet. Du bist ein Drache mit Ehrgefühl.«

»Wir haben eine Abmachung, das ist alles.« Sie schnaubte ein Rauchwölkchen. »Außerdem, irgend jemand muß dir schließlich helfen, allein gerätst du laufend in Schwierigkeiten.«

Richard mußte grinsen. »Du bist die schönste Bestie, die ich je gesehen habe.« Richard, der noch immer nicht wieder zu Atem gekommen war, zeigte auf die Hochebene. »Ich muß zum Palast des Volkes, Scarlet. Bringst du mich hin? Bitte!«

»Hast du deine Freunde nicht gefunden? Oder deinen Bruder?«

Er schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. »Mein Bruder hat mich verraten. Mich und alle anderen, und zwar an Darken Rahl. Ich wünschte, die Menschen hätten nur halb soviel Ehrgefühl wie Drachen.«

Scarlet stieß ein Knurren aus, das die Schuppen an ihrem Hals zum Vibrieren brachte. »Tut mir leid für dich, Richard. Steig auf. Ich bringe dich hin.«

Mit langsamen, steten Schlägen ihrer Flügel trug Scarlet ihn über das Meer aus Wolken, das die Azrith-Ebene bedeckte, und brachte ihn an den letzten Platz der Welt, den er aus freien Stücken aufgesucht hätte. Zu Pferd hätte ihn der Weg fast eine Tagesreise gekostet, auf dem Drachen dauerte er weniger als eine Stunde. Sie faltete ihre Flügel nach hinten und stieß hinab auf die Hochebene. Während des Sturzfluges zerrte der Wind an seinen Kleidern. Aus der Luft konnte Richard die wahren Ausmaße des Palastes des Volkes erkennen. Kaum zu glauben, daß er von Menschen erbaut worden war, selbst ein Traum schien ihm nicht gerecht zu werden. Er glich einer gewaltigen, zu einem einzigen Gebäudekomplex verschmolzenen Stadt.

Scarlet umkreiste die Hochebene, passierte Türme, Mauern, Dächer. Die Gebäude zogen in nicht enden wollender, schwindelerregender Vielfalt unter ihnen vorüber. Scarlet überflog die Außenmauer, stieß herab und landete flügelschlagend inmitten eines weitläufigen Innenhofs. Es waren weder Wachen noch sonst jemand zu sehen.

Richard glitt von ihren roten Schuppen herunter und landete auf den Füßen. Sie drehte den Kopf, neigte ihn zur Seite und sah ihn an. Ihre Ohren drehten sich nach vorn.

»Bist du sicher, daß ich dich hier allein lassen soll?« Richard nickte und senkte den Blick. Scarlet schnaubte. »Damit wären die sechs Tage dann vorbei. Wir sind quitt. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, wirst du Jagdbeute für mich sein.«

Richard lächelte sie an. »Das ist schon in Ordnung, meine Freundin. Aber dazu wirst du keine Gelegenheit haben. Ich werde noch heute sterben.«

Scarlet linste ihn aus einem ihrer gelben Augen an. »Laß es nicht soweit kommen, Richard Cypher. Ich würde dich gerne fressen.«

Richards Lächeln wurde breiter, als er eine glänzende Schuppe tätschelte. »Paß auf deinen Nachwuchs auf, sobald er geschlüpft ist. Ich würde ihn gerne sehen. Er wird bestimmt auch sehr schön sein, davon bin ich überzeugt. Ich weiß, du fliegst nicht gerne Menschen, weil das deinem Stolz widerstrebt, trotzdem möchte ich mich dafür bedanken, daß du mir die Freuden des Fliegens gezeigt hast. Ich betrachte es als eine Ehre.«

Sie nickte. »Das Fliegen macht mir auch Spaß.« Sie stieß ein Rauchwölkchen aus. »Es gibt nicht viele wie dich, Richard Cypher. Ich habe noch keinen gesehen, der es mit dir aufnehmen könnte.«

»Ich bin der Sucher. Der letzte Sucher.«

Sie nickte mit ihrem großen Kopf. »Paß auf dich auf, Sucher. Du hast die Gabe. Nutze sie. Nutze alles, was du hast, um dich zu wehren. Gib nicht nach. Laß dich nicht von ihm beherrschen. Wenn du stirbst, dann stirb kämpfend, mit allem, was du hast, all deinem Wissen. So wie es die Drachen tun.«

»Wenn es nur so einfach wäre.« Richard blickte zu dem roten Drachen hoch. »Scarlet, hast du Darken Rahl vor dem Fall der Grenze nach Westland geflogen?«

Sie nickte. »Mehrere Male.«

»Wohin hast du ihn gebracht?«

»Zu einem Haus, größer als alle anderen. Es war aus weißen Steinen, mit einem Schieferdach. Einmal habe ich ihn zu einem anderen Haus gebracht. Einem einfachen Haus. Dort hat er einen Mann getötet. Ich habe die Schreie gehört. Und dann noch einmal zu einem anderen einfachen Haus.«

Michaels Haus, das seines Vaters und sein eigenes.

Das zu hören tat weh. Richard starrte auf seine Füße und nickte. »Danke, Scarlet.« Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und sah zu ihr hoch. »Sollte Darken Rahl jemals wieder versuchen, dich zu beherrschen, dann hoffe ich, daß wenigstens dein kleiner Drache in Sicherheit ist und du bis zum Tod kämpfen kannst. Du bist zu erhaben, um von jemandem beherrscht zu werden.«

Mit einem Grinsen stieg Scarlet auf in die Lüfte. Richard sah ihr nach, als sie oben kreisend auf ihn herabblickte. Dann schwenkte ihr Kopf nach Westen, und der Rest folgte. Richard sah ihr noch ein paar Minuten nach. Sie wurde kleiner und kleiner. Dann drehte er sich zum Palast um.

Richard musterte die Wachen vor einem der Eingänge und bereitete sich auf einen Kampf vor, doch sie nickten ihm nur höflich zu. Er war ein zurückkehrender Gast. Die riesigen Hallen schluckten ihn.

Er wußte in etwa, wo sich der Wintergarten befand, in dem Darken Rahl die Kästchen aufbewahrte, und diese Richtung schlug er ein. Lange Zeit erkannte er die Hallen nicht wieder, doch nach einer Weile sahen einige bekannt aus. Er erkannte die Bögen und Säulen, die Stätten der Andacht. Er durchquerte den Korridor, an dem sich Dennas Quartier befand.

Er war in Gedanken wie benommen von der überwältigenden Entscheidung, die er getroffen hatte. Schon die Vorstellung, derjenige zu sein, welcher Darken Rahl die Macht der Ordnung überlassen würde, war überwältigend. Er wußte, daß er Kahlan dadurch vor einem schlimmeren Schicksal und viele andere vor dem Tod bewahrte, trotzdem kam er sich vor wie ein Verräter. Wie schön wäre es gewesen, wenn irgend jemand anderes Darken Rahl helfen könnte. Aber das war nicht möglich. Nur er allein befand sich im Besitz der Antworten, die Rahl brauchte.

An der Gebetsstätte mit dem kleinen Teich machte er halt, starrte auf das kräuselnde Wasser und beobachtete die Fische, die durch das Wasser glitten. Kämpfe mit allem, was du hast, hatte Scarlet gesagt. Was konnte er dadurch gewinnen? Was konnte überhaupt jemand dadurch gewinnen? Am Ende wäre es das gleiche oder schlimmer. Sein eigenes Leben durfte er aufs Spiel setzen, aber nicht das aller anderen. Und Kahlans schon gar nicht. Er war gekommen, um Darken Rahl zu helfen, und genau das mußte er tun. Sein Entschluß war gefaßt.

Die Glocke schlug zum Gebet. Richard beobachtete, wie sich die Menschen ringsum sammelten, sich verneigten und ihren Gesang anstimmten. Zwei Mord-Sith in roter Lederkleidung kamen herbei, blieben stehen und musterten ihn. Jetzt nur keinen Ärger. Er kniete nieder, berührte mit der Stirn die Steinplatten und stimmte seine Gebete an. Da er seinen Beschluß bereits gefaßt hatte, gab es keinen Grund zum Nachdenken, und er entließ seinen Verstand in die Leere. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir

Immer wieder sang er die Worte, ließ sich vollkommen gehen, ließ seine Sorgen los. Er wurde ruhig im Geist, fand den Frieden in seinem Innern und wurde eins mit ihm.

Ein Gedanke ließ ihm die Worte in der Kehle stocken.

Wenn er schon ein Gebet sprach, dann eines, daß ihm etwas bedeutete. Er veränderte den Text.

»Führe mich, Kahlan. Lehre mich, Kahlan. Kahlan, beschütze mich. In deinem Licht werde ich gedeihen. Deine Gnade gebe mir Schutz. Deine Weisheit beschämt mich. Ich lebe nur, dich zu lieben. Mein Leben gehört dir.«

Die Erkenntnis war wie ein Schock. Plötzlich hockte er mit aufgerissenen Augen auf seinen Hacken.

Er wußte, was er zu tun hatte.

Zedd hatte es ihm gesagt, er hatte ihm klargemacht, die meisten der Dinge, die die Menschen glaubten, seien falsch. Das erste Gesetz der Magie. Er war lange genug der Narr gewesen, hatte lange genug auf andere gehört. Er war nicht länger bereit, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

Er stand auf. Er war von ganzem Herzen überzeugt. Aufgeregt machte er kehrt und stakste durch die Menschen, die kniend ihr Glaubensbekenntnis herunterleierten.

Die beiden Mord-Sith erhoben sich. Sie stellten sich ihm in den Weg, mit entschlossener Miene, Schulter an Schulter. Er blieb abrupt stehen. Die mit den blonden Haaren und den blauen Augen hob ihren Strafer in einer bedrohlichen Geste und fuchtelte vor ihm damit herum.

»Es ist niemandem gestattet, eine Andacht zu versäumen. Niemandem.«

Richard erwiderte den drohenden Blick. »Ich bin der Sucher.« Er hob die Faust mit Dennas Strafer. »Dennas Gemahl. Ich bin es, der sie getötet hat. Mit jener Magie, mit der sie mich hielt. Ich habe zum letzten Mal zu Vater Rahl gebetet. Deine nächste Bewegung wird darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst. Entscheide dich.«

Die kalten, blauen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. Die beiden Mord-Sith sahen sich an. Sie traten zur Seite. Richard marschierte davon, in den Garten des Lebens, zu Darken Rahl.

Zedd suchte aufmerksam die Felsränder ab, als sie die Straße an der Flanke der Hochebene hinaufgingen. Je höher sie kamen, desto heller erstrahlte die Umgebung. Die drei verließen den Nebel und traten hinaus in die Vormittagssonne. Vor ihnen wurde eine Zugbrücke heruntergelassen, und die Kette ratterte über die Zahnräder, als sich der Brückenbogen über einen Einschnitt senkte. Chase lockerte das Kurzschwert in der Scheide auf seinem Rücken, als die heruntergelassene Brücke den Blick auf ein paar Dutzend Soldaten freigab, die auf der anderen Seite warteten. Keiner der Soldaten griff zur Waffe, auch versperrten sie nicht den Weg, sondern blieben bequem an den Seiten stehen und schienen sich für die drei nicht zu interessieren.

Kahlan schenkte ihnen im Vorübergehen keinerlei Beachtung. Chase dagegen schon. Er sah aus wie ein Mann, der jeden Augenblick zu einem Gemetzel bereit war. Die Wachen nickten ihm zu und lächelten ihn höflich an.

Der Grenzposten beugte sich ein wenig zu Zedd hinüber, behielt die gut bewaffneten Soldaten aber im Blick. »Das gefällt mir nicht. Es ist zu einfach.«

Zedd grinste. »Wenn Darken Rahl uns umbringen will, muß er uns erst dorthin gehen lassen, wo wir getötet werden sollen.«

Chase sah den Zauberer stirnrunzelnd an. »Sehr ermutigend.«

Zedd legte Chase die Hand auf die Schulter. »Es wäre kein Ehrverlust, mein Freund. Kehr um, bevor sich die Pforten für immer hinter uns schließen.«

Chase warf sich in die Brust. »Nicht, bis alles erledigt ist.«

Zedd nickte und beschleunigte seine Schritte, um dicht hinter Kahlan zu bleiben. Als sie den oberen Rand der Hochebene erreicht hatten, standen sie vor einer gewaltigen Mauer, die sich zu beiden Seiten erstreckte. Auf den Befestigungsanlagen wimmelte es von Soldaten. Kahlan ging ohne Zögern zum Tor. Zwei Soldaten mühten sich mit dem Gewicht des gewaltigen Tores ab und drückten auf, als sie näher kam. Sie schritt ohne Zögern hindurch.

Chase funkelte den Hauptmann der Wachen an. »Laßt du eigentlich jeden rein?«

Der Hauptmann starrte ihn überrascht an. »Sie wird erwartet. Von Meister Rahl.«

Chase folgte ihr mit einem Grunzen. »Damit wäre der Überraschungseffekt wohl dahin.«

»Ein Zauberer mit Rahls Fähigkeiten läßt sich nicht überraschen.«

Chase packte Zedd am Arm. »Zauberer! Rahl ist ein Zauberer?«

Zedd sah ihn stirnrunzelnd an. »Natürlich. Wie soll er sonst deiner Ansicht nach die Zauberkräfte beherrschen? Er stammt aus einem alten Zauberergeschlecht.«

Chase wirkte genervt. »Ich dachte, Zauberer wären dazu da, den Menschen zu helfen, und nicht, sie zu beherrschen.«

Zedd stieß einen langen Atem aus. »Zauberer galten als Herrscher, bis dann einige von uns beschlossen, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen. Es kam zur Spaltung, dem Krieg der Zauberer, wie man es nannte. Ein paar auf der anderen Seite haben überlebt, gingen weiter den alten Methoden nach, nahmen sich Macht für sich selbst, beherrschten die Menschen weiterhin. Darken Rahl ist ein direkter Nachfahre dieses Geschlechtes — dem Hause Rahl. Er wurde mit der Gabe geboren; er ist ein Mensch, der keinerlei Gewissen kennt.«

Chase wurde still, als sie eine breite Treppe hinaufstiegen, zwischen den Schatten gekehlter Säulen hindurchschritten und durch einen Eingang traten, der mit aus Stein gehauenen Weinblättern umrankt war. Sie betraten die Halle. Chase sah sich nach allen Seiten um, erstaunt über die Größe, die Schönheit und die schier überwältigenden Ausmaße des polierten Steins, der sie umgab. Kahlan schritt mitten durch die weitläufige Halle, ohne einen Blick dafür zu haben. Ihr Kleid wehte nach hinten, als sei es flüssig, das leise Geräusch ihrer Stiefel verhallte flüsternd in der höhlenähnlichen Weite.

Menschen in weißen Gewändern schlenderten durch die Gänge.

Einige saßen auf Marmorbänken, andere knieten an Plätzen mit einem Stein und einer Glocke und beteten. Sie alle trugen das selige Lächeln göttlicher Verblendung; die friedliche Maske jener, denen Gewißheit und Glaube falsche Sicherheit verleihen. Die Wahrheit war für sie nur ein vorüberziehender Dunst, der im Licht ihres selbstgenügsamen Denkens verbrannte. Gefolgsleute, Anhänger Darken Rahls, einer wie der andere. Die meisten schenkten den dreien keine Beachtung, nickten ihnen bestenfalls mit leerem Blick zu.

Zedd entdeckte zwei Mord-Sith, die in ihrer roten Lederkleidung stolz durch einen Nebengang auf sie zumarschiert kamen. Als sie Kahlan mit den Doppelblitzen des Con Dar auf ihrem Gesicht entdeckten, erbleichten die beiden, machten kehrt und waren rasch verschwunden.

Ihr Weg führte sie zu einer Kreuzung, wo sich viele Gänge sternförmig trafen. Bemalte Fenster in der Mittelachse über ihren Köpfen ließen das Sonnenlicht herein, das in bunten Balken in die höhlenähnliche Zentralkuppel strömte.

Kahlan blieb stehen und sah den Zauberer aus ihren grünen Augen an. »Wohin?«

Zedd zeigte in einen Gang auf der rechten Seite. Kahlan wollte ohne Zögern weiter.

»Woher weißt du, wohin wir müssen?« wollte Chase wissen.

»Zwei Gründe. Erstens ist der Palast des Volkes nach einem Muster gebaut, daß ich wiedererkannt habe, dem Muster eines magischen Zaubers. Der gesamte Palast ist ein gewaltiger, auf dem Boden gezeichneter Zauber. Es handelt sich um einen Zauber der Macht, der Darken Rahl beschützen, ihm hier Sicherheit geben und seine Macht vergrößern soll. Der Zauber wurde gezeichnet, um ihn vor anderen Zauberern zu schützen. Ich habe hier nur wenig Macht. Ich bin praktisch hilflos. Das Zentrum ist ein Ort mit dem Namen Garten des Lebens. Dort wird Darken Rahl sich aufhalten.«

Chase machte ein besorgtes Gesicht. »Und der zweite?«

Zedd zögerte. »Die Kästchen. Man hat ihre Schutzhülle entfernt. Ich kann sie spüren. Auch sie befinden sich im Garten des Lebens.« Irgend etwas stimmte nicht. Er wußte, wie es war, ein Kästchen zu spüren, zwei müßten zweimal so stark sein, aber es war anders. Es war dreimal so stark.

Der Zauberer leitete die Mutter Konfessor durch die richtigen hallenartigen Gänge, die richtigen Treppen hinauf. Jeder Gang, jedes neue Stockwerk waren mit Stein verkleidet, einzig in Farbe und Art unterschieden sie sich. An manchen Stellen ragten die Säulen mehrere Stockwerke in die Höhe. Balkone dazwischen blickten in die Halle hinab. Die Treppen waren sämtlich aus Marmor, jede in einer anderen Farbe. Sie kamen an riesigen Statuen vorbei, die wie steinerne Wachen an den Wänden zu beiden Seiten standen. Die drei liefen mehrere Stunden lang und arbeiteten sich immer weiter ins Zentrum des Palastes des Volkes vor. Es war unmöglich, einen direkten Weg zu wählen, es gab ihn nicht.

Endlich kamen sie zu einer verschlossenen Doppeltür, in die eine Landschaftsszene geschnitzt und die mit Gold überzogen war. Kahlan blieb stehen und sah den Zauberer an.

»Hier ist es, meine Liebe. Der Garten des Lebens. Die Kästchen sind dort drinnen und Darken Rahl ebenfalls.«

Sie sah die beiden durchdringend an. »Danke, Zedd, und dir auch, Chase.«

Kahlan wollte die Tür öffnen, doch Zedd legte ihr sachte die Hand auf die Schulter und drehte sie herum. »Darken Rahl hat nur zwei der Kästchen. Er wird bald nicht mehr leben. Es sei denn, du hilfst ihm.«

Ihre Augen glühten wie kaltes Feuer inmitten der gezackten, roten Blitze, die auf ihr entschlossenes Gesicht gemalt waren. »Dann habe ich keine Zeit zu verlieren.«

Sie stieß die Türen auf und schritt mitten in den Garten des Lebens.

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