4.

Die Errish überlebte den Tag nicht. Sie starb nicht an den Verletzungen, die sie im Kampf davongetragen hatte und die sich im nachhinein als viel weniger schwer herausstellten, als es im ersten Augenblick den Anschein gehabt hatte, sondern hörte einfach auf zu atmen, kaum eine Minute, nachdem sie das Bewußtsein wiedererlangt und begriffen hatte, wo sie war, und in welcher Lage. Niemand - Bradburn eingeschlossen, der all seine magische Kraft aufgewandt hatte, um genau das zu verhindern, was dann geschah - war sonderlich überrascht darüber. Die unglaubliche Gewalt, die eine Ehrwürdige Frau über ihren eigenen Körper hatte, war Legende; durch die pure Kraft ihres Willens kostete es eine Errish weniger Anstrengung, ihren Herzschlag zum Stehen zu bringen, als es Skar bereitet hätte, für wenige Minuten den Atem anzuhalten. Nein - was ihn erschreckte, das war die Schnelligkeit, mit der es geschah. Er war nicht dabei, aber Bradburn berichtete, daß sie nicht einmal versucht hatte zu fliehen - oder irgend etwas zu tun. Sie war erwacht, hatte begriffen, was geschehen war, und sich selbst getötet, sehr einfach, sehr schnell und sehr konsequent.

Del sagte kein Wort, als Bradburn mit der Nachricht vom Tode ihrer Gefangenen zu ihnen kam, sondern nickte nur, als wäre nur etwas eingetreten, was er mit aller Sicherheit erwartet hatte, und auch Skar verspürte eher Erleichterung als irgend etwas anderes; er bedauerte den Tod der Errish, aber sehr viel stärker war seine Genugtuung, mit ihr auch das entsetzliche schwarze Ding vernichtet zu wissen, das an ihr gehangen hatte. Bradburn hatte Befehl gegeben, die Tote zu verbrennen; zusammen mit allem, was mit ihr in Berührung gekommen war. Wie so vieles hielt Skar auch diese Vorsichtsmaßnahme für übertrieben, aber er widersprach nicht. Er war nicht mehr sicher, ob es wirklich richtig gewesen war, sie überhaupt hierher zu bringen.

»Es war das Netz«, erklärte Bradburn, nachdem er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war und eine Zeitlang vergeblich auf irgendeine Reaktion Dels gewartet hatte. »Ich bin sicher, daß es ...« Er zuckte hilflos die Schultern. »... sie irgendwie beeinflußt hat.«

»Dann hättest du dieses verdammte Ding von ihr herunterschneiden sollen, ehe sie das Bewußtsein wiedererlangte«, bemerkte Del. Es war nur ein Gedanke, den er laut aussprach, kein Vorwurf. Und Bradburn lächelte auch nur milde.

»Dann wäre sie erst recht gestorben«, hielt er dagegen. »Ich bin überzeugt, daß es sie getötet hätte.« Er seufzte, ließ sich auf den freien Stuhl neben Del sinken und griff nach dem Weinkrug. Seine Bewegungen wirkten sehr müde, als er sich einige wenige Schlucke der goldfarbenen Flüssigkeit in einen Becher einschenkte und trank, und seine Finger zitterten. Daß er überhaupt Wein trank, überraschte Skar. Er konnte sich nicht erinnern, den Gesichtslosen Prediger jemals irgend etwas anderes als Wasser trinken gesehen zu haben.

»Was war es?« fragte er.

Bradburn leerte seinen Becher, griff abermals nach dem Krug und schreckte mitten in der Bewegung zurück, als würde ihm erst jetzt klar, was er da überhaupt tat. Sein Blick war sehr unsicher, als er Skar ansah. Er wirkte verlegen. »Das Netz?« Skar nickte, und Bradburn fuhr nach einigen Sekunden des Überlegens fort: »Ich weiß es nicht. Eine Art... Parasit, vermute ich.«

»So eine Art Laus, wie?« Dels Spott war ziemlich deplaciert, und Bradburns Blick machte dies auch klar.

»Ja«, entgegnete er und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Aber eine, die hier sitzt.«

»Woher willst du das wissen, wenn du keine Ahnung hast, was es eigentlich war?« fragte Del scharf. Er war nervös, und wie es seine Art war, reagierte er mit Ungeduld und steigender Gereiztheit auf dieses Gefühl.

»Ich habe es gespürt«, antwortete Bradburn einfach. Dels scharfer Tonfall beeindruckte ihn nicht im mindesten, ebenso wie seine Gereiztheit einfach von ihm abzuprallen schien; obwohl er Del seit Jahren kannte und wissen mußte, daß er ihn damit nur noch mehr in Rage brachte.

»Gespürt, so?« fauchte Del. »Einfach so?«

»Einfach so.« Bradburn seufzte, warf Skar einen verzeihung-heischenden Blick zu und griff abermals nach dem Weinkrug. Diesmal schenkte er sich den Becher randvoll. Skar unterdrückte ein Lächeln. »Und ich kann denken«, fuhr Bradburn nach einigen Schlucken fort, ohne den Becher abzusetzen. »Und zwei und zwei zusammenzählen.«

»So? Und worauf kommst du? Auf sieben?«

Bradburn ignorierte die Spitze. »Ihr hättet einen der Drachen mitbringen sollen«, sagte er.

»Das wollte ich«, gab Del ärgerlich zurück. »Aber er paßte nicht in meine Satteltaschen.«

»Es hätte vieles erleichtert, wenn ich ihn mir hätte ansehen können«, fuhr er unbeeindruckt fort.

»Wozu?« fragte Skar, ehe Del abermals auffahren konnte. Bradburn zögerte einen Moment mit der Antwort. Dann zuckte er die Achseln. »Ich weiß es nicht«, gestand er. Plötzlich wurde er zornig. »Verdammt, auch ich kann nur raten, Del. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte! Die Errish waren immer unsere Freunde, und plötzlich greifen sie uns an!« Er deutete mit einer fast angewiderten Geste auf den silberfarbenen Scanner, der vor Del auf dem Tisch lag. »Sie haben diese Teufelswaffen niemals gegen Menschen eingesetzt, Del, niemals! Und ich habe niemals gehört, daß sie ihre Drachen in den Kampf geführt hätten, außer um sich zu verteidigen! Was soll ich noch glauben? Was ... was gilt noch, von den alten Werten, Del?«

»Vielleicht stehen sie auf der Seite der Sternengeborenen«, mutmaßte Del.

Bradburn schnaubte. »Unmöglich! Nicht die Errish!«

»Warum haben wir dann seit zwei Jahren keine von ihnen mehr gesehen?« fragte Del. Er beugte sich vor und funkelte Bradburn fast feindselig an. »Warum dringt seit zwei Jahren kein Wort mehr über die Grenzen des Drachenlandes? Warum ist keiner der Boten und Kundschafter zurückgekommen, die wir nach Elay geschickt haben? Warum -«

Er brach mitten im Satz ab, sah Bradburn betroffen an und ballte schließlich die Faust. Er tat es mit solchem Zorn, daß seine Muskeln dabei wie dicke Stricke durch die Haut traten, und trotzdem wirkte die Geste mehr als alles andere kraft- und hilflos. »Vielleicht haben Drasks Brüder sie auch schon in ihrer Gewalt«, murmelte er schließlich.

Bradburn lachte leise. »Die Zauberpriester? Unmöglich, Del. Sie haben es nicht geschafft, die Satai zu unterwandern; nicht einmal die Veden, obgleich sie ein abergläubisches Volk sind, das dafür bekannt ist, jeden Unsinn zu glauben. Denkst du wirklich, einer von ihnen hätte auch nur einen Fuß nach Elay hineinsetzen können, ohne daß die Errish nicht sofort gewußt hätten, was er wirklich will?«

»Nein«, gestand Del übellaunig. »Das glaube ich nicht. Aber verdammt noch mal, was ist dann in Elay geschehen? Wo sind die Errish und ihre Drachen?«

»Das Mädchen wird uns diese Fragen beantworten«, war sich Skar sicher. »Sobald es erwacht ist.« Er sah Bradburn an. »Wann?«

»Wann immer ihr wollt«, antwortete der Prediger. »Ich habe ihr einen Trank gegeben, der sie schlafen läßt, bis ich sie aufwecke. Sie ist nicht schwer verwundet, aber völlig entkräftet. Ihrem Zustand nach zu urteilen, muß sie lange unterwegs gewesen sein. Besser«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu, »ihr laßt sie gründlich ausschlafen, ehe ihr sie befragt.«

»Es ist ein weiter Weg nach Elay«, stellte Del fest. -»Wenn sie aus Elay kommt.«

Skar sah auf. »Das klingt, als hättest du Angst davor.«

»Du nicht?« Del schnaubte. Seine Augen wurden schmal, und plötzlich war er gar nicht mehr der herrische, stets ein wenig ungeduldige Heerführer, sondern nur noch ein sehr besorgter Mann. Vielleicht sah Skar ihn auch nur so, weil er ihn so sehen wollte.

»Wenn das alles stimmt, Skar, dann ist die Lage in Elay schlimmer, als ich befürchtet habe. Die Errish nicht auf unserer Seite zu haben, ist arg genug. Sie zu Feinden zu haben, wäre... entsetzlich.«

Er stand auf, ging zum Fenster und blickte eine Weile wortlos auf den Hof hinab. Dann, ganz plötzlich, fuhr er herum und sah Bradburn an.

»Wir müssen mit diesem Mädchen reden«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete. »Geh und wecke sie auf. Niemand soll mit ihr reden, bevor Skar und ich nicht bei ihr waren.«

Bradburn nickte. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er mit Dels Entscheidung nicht einverstanden war, aber er widersprach nicht. »Gebt mir eine halbe Stunde«, bat er. »Und verlangt nicht zu viel von ihr. Sie wird völlig verängstigt sein.«

»Sie machte mir keinen sehr ängstlichen Eindruck, als sie mit dem Ding da auf uns gezielt hat«, warf Del mit einer ärgerlichen Geste auf den Scanner ein, der wie ein silbernes Spielzeug neben seinem Becher lag.

Bradburn seufzte nur. Aber er sah wohl ein, daß es reine Zeitverschwendung war, sich weiter mit Del zu streiten, denn er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Raum. Del setzte sich wieder, gähnte ungeniert und legte die Füße auf den Tisch. Nachlässig griff er nach dem Scanner und drehte ihn versonnen in den Fingern. Zwischen seinen gewaltigen Pranken wirkte die Waffe jetzt wirklich wie ein Kinderspielzeug; es fiel Skar für einen Moment schwer, sich vorzustellen, welch entsetzliche Macht unter dem harmlos schimmernden Metall lauerte. »Tu das weg«, sagte er. »Bitte.« Del zog die linke Augenbraue hoch und sah ihn an, und Skar fügte hinzu: »Es macht mich nervös.«

Del nickte, legte den Scanner aber nicht auf den Tisch zurück, wie Skar gehofft hatte, sondern schob ihn mit einer nachlässigen Geste unter den Gürtel. Skar runzelte mißbilligend die Stirn, verbiß sich aber eine entsprechende Bemerkung. Del wußte zehnmal besser als er, daß es gegen die Regeln der Satai verstieß, eine solche Waffe auch nur zu berühren. Aber er begriff auch, daß Dels so bewußt zur Schau gestellte Gelassenheit nur Maske war, und nicht einmal eine sehr gute. Hinter seinem abfälligen Grinsen brodelte es. Er wußte so gut wie Skar, daß das, was sie am Vormittag erlebt hatten, viel mehr als nur eine Episode in diesem Krieg war. Es war wichtig. Ungeheuer wichtig. Und es hatte irgend etwas mit dem zu tun, was Drask ihm hatte sagen wollen. »Dieses Netz macht mir Angst«, gestand Del plötzlich. Er lächelte noch immer, aber in seinen Augen flackerte es, und seine Hände lagen ein wenig zu entspannt auf den Armlehnen des Stuhles. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen, Skar. Aber ich weiß nicht mehr, wo.«

Skar nickte. Zum ersten Mal, seit sie in die Festung zurückgekommen waren, stimmte er vollkommen mit Del überein. Auch ihn beunruhigte die entsetzliche Veränderung, die mit den Errish vonstatten gegangen war, sehr viel mehr, als er zugeben wollte. Und es war nicht allein die Fremdartigkeit dieses sonderbaren - wie hatte Bradburn es genannt? -Parasiten, die ihn so erschreckte. Viel stärker quälte ihn der Gedanke, etwas ganz Ähnlichem schon einmal begegnet zu sein, vor sehr langer Zeit und unter keinen sehr guten Umständen.

Und das war nicht alles. Da waren die Drachen, Echsen einer Art, wie sie noch keiner von ihnen jemals zu Gesicht bekommen hatte, und die absonderlichen, erschreckenden Rüstungen der Errish, Rüstungen, die nicht nur dem Panzer menschengroßer Insekten nachempfunden, sondern auch aus dem entsprechenden Material gefertigt waren. Etwas in ihm wußte sehr wohl, was dieser Umstand bedeutete, aber er weigerte sich einfach, auch nur über die bloße Möglichkeit der Existenz menschengroßer Insekten nachzudenken.

»Willst du immer noch gehen?« fragte Del unvermittelt.

Die Frage überraschte Skar, denn nach allem hatte er damit jetzt zu allerletzt gerechnet. Er reagierte nicht, aber tief in sich wußte er die Antwort - er wollte, und er mußte gehen. Drask hatte recht gehabt, mit dem, was er sagte. Etwas war falsch, grundlegend falsch, an diesem ganzen Krieg. Nicht die Tatsache, daß sie ihn führten, denn sie hatten keine andere Wahl, wollten sie Enwor nicht der Herrschaft der Zauberpriester überlassen, und damit der Sternengeborenen, die unsichtbar hinter ihnen standen. Auch nicht die Art, wie sie ihn führten, denn sie hatten alle Vorteile auf ihrer Seite. Nach Drasks Tod und dem Fall der Trutzburg stand der Weg nach Osten für sie offen, und der Walze aus vierzigtausend Quorrl und fast zwanzigtausend Satai und Veden würde nichts widerstehen; ganz einfach, weil es auf ganz Enwor nichts gab, das dieser geballten Macht gewachsen wäre. Skar gab den Zauberpriestern und ihren Verbündeten drei Monate; vier, allerhöchstens.

Und doch: Dies alles mochte - logisch betrachtet - richtig sein, und trotzdem war es falsch. Sein Hiersein war falsch. Dieser Kampf war nicht mehr sein Kampf. Er war es niemals gewesen. Die Dinge, so weit er sie überhaupt jemals in der Hand gehabt hatte, begannen ihm zu entgleiten. Vom Kampf gegen Vela und den Dronte über sein Zusammentreffen mit dem Daij-Djan hin hatte sich eine Auseinandersetzung, die im Grunde nur ihn anging, zu einem Krieg entwickelt, der diese ganze Welt in Flammen zu setzen drohte. Aber es war falsch. Seine Rolle in diesem Spiel war eine andere; und er wußte sogar, welche. Das Wissen darum war in ihm, tief in seinem Inneren verborgen, zwar seinem bewußten Zugriff noch entzogen, aber da. Es war immer dagewesen, so wie dieses entsetzliche dräuende Ding in ihm immer dagewesen war, dieses Etwas, das die meiste Zeit schlief und nur manchmal erwachte; und jedesmal schrecklicher und stärker war als vorher.

Er mußte an das denken, was Drask gesagt hatte. Er war sicher, daß der alte Mann ihn nicht belogen hatte, aber wenn es stimmte, daß dieses Etwas in ihm Teil der Welt der Sternengeborenen war - war ein Zusammenleben mit ihnen dann überhaupt möglich? Er fand keine Antwort auf diese Frage, aber sie hinterließ etwas wie einen schlechten Geschmack in seiner Seele. Er war mit diesem Fluch geboren und hatte wahrlich Zeit genug gehabt, sich daran zu gewöhnen, und doch war es ihm niemals gelungen, diese schreckliche destruktive Macht, die in einem verborgenen Winkel seiner Seele lauerte, als einen Teil von sich selbst zu akzeptieren. Im Gegenteil - seine Angst davor wuchs beständig, und er war überzeugt, den Verstand zu verlieren und wahrscheinlich zu sterben, wenn er seinem dunklen Bruder jemals erlaubte, wirkliche Gewalt über ihn zu erlangen.

»Warum antwortest du nicht?« fragte Del, der sein Schweigen vollkommen falsch deutete. »Kommen dir vielleicht Zweifel an Drasks Worten?«

Skar setzte zu einer ärgerlichen Entgegnung an, beließ es dann aber bei einem lautlosen Seufzen. Wie sollte er Del etwas erklären, was er selbst nicht verstand?

»Mir kommen Zweifel«, gab er zu, obwohl ihn eine innere Stimme warnte, überhaupt weiterzusprechen, »ob das alles hier richtig ist.«

Del blinzelte. Skar war sehr sicher, daß er jetzt auffahren würde, aber er starrte ihn nur für die Dauer eines Herzschlages lang verblüfft an und fragte dann: »Wie meinst du das?«

»Wir gehören nicht hierher«, antwortete Skar. »Ich nicht, und du nicht. Kein Satai sollte tun, was wir jetzt tun.«

»Was?« Del zog eine Grimasse. »Um die Freiheit Enwors kämpfen?«

Skar versuchte gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nicht so«, sagte er. »Die Quorrl, ja. Die Krieger aus Kohon, die sich uns angeschlossen haben, und die Veden, vielleicht. Aber nicht wir.« Er atmete tief ein und zögerte noch einmal, ehe er fortfuhr. Dels Ruhe mochte täuschen. Aber er hatte sich schon zu weit vorgewagt, um jetzt noch zurück zu können. Und er wußte, daß er die Kraft für einen zweiten Anlauf nicht mehr aufbringen würde. »Diese Männer dort unten, Del«, behauptete er sehr ernst, »das sind keine Satai.«

Das war es. Er hatte es erst laut aussprechen müssen, um zu begreifen, was er im Grunde die ganze Zeit über schon gewußt hatte. Plötzlich hörte er noch einmal die Worte des Mannes, der an Dels Seite geritten war: Es sind Drachen, Herr. Und sie haben Scanner. Und mit einem Male wußte er, was falsch war. Der Mann hatte recht gehabt, tausendmal recht, und er hatte es auf die drastischste nur vorstellbare Weise demonstriert, indem er nämlich unter den Toten war, die sie zusammen mit den erschlagenen Errish auf der Ebene begraben hatten. Und trotzdem hätte Skar es spätestens in diesem Moment klar erkennen müssen.

»Wir hätten diesen Angriff niemals führen dürfen«, sagte er. Del schwieg, aber er sah ihn ohne Zorn und eindeutig auffordernd an, so daß er neuen Mut faßte und weitersprach: »Nicht so, Del. Satai reiten nicht in einem Heer, sie -«

»Tun das, was du getan hast«, unterbrach ihn Del. »Ich weiß. Du hast recht. Wir beide, du und ich, sind vielleicht die einzigen echten Satai, die es in dieser Festung gibt. Vielleicht die letzten überhaupt.«

Es dauerte lang, bis Skar bereit war zu glauben, was er da gerade gehört hatte. Dels Worte, obwohl - oder vielleicht gerade weil - er sie in ruhigem, ja fast beiläufigem Ton gesprochen hatte, trafen ihn wie ein eiskalter Wasserguß. Skar starrte ihn fassungslos an. »Aber -«

»Du weißt nichts, Skar«, fiel ihm Del abermals ins Wort.

Plötzlich klang er doch zornig, aber es war ein Zorn, der nicht ihm galt, sondern wie etwas herausbrach, das schon lange Zeit in ihm brodelte. »Du hast nicht erlebt, was in den letzten Jahren geschehen ist!«

»Vielleicht bin ich deshalb der einzige, der noch sieht, was hier geschieht.«

»Was siehst du, Skar?« schnappte Del. »Ein Heer aus Quorrl und Satai, das sich anschickt, diese verfluchten Magierkönige dorthin zurückzujagen, wo sie hergekommen sind, und -«

»Ich sehe ein Heer, das es nicht geben dürfte«, unterbrach ihn Skar. »Die Satai sind keine Soldaten, die nach Belieben Heere aufstellen und diejenigen bestrafen, die ihnen nicht passen. Wir haben uns niemals in Dinge eingemischt, die uns nichts angehen.« Del seufzte. Er war noch immer zornig, aber jetzt mischte sich auch so etwas wie Trauer in seinen Blick. »Du weißt nichts«, wiederholte er. »Du warst jahrelang verschwunden, Skar. Du... du hast nicht erlebt, wie sie sich die Macht erschlichen haben, erst in einer Stadt hier und einer Festung da, dann in einem kleinen Land, dann...« Er schwieg einen Moment und ballte die Fäuste, als wäre ihm allein die Erinnerung schon unerträglich. »Wenn du gehen willst«, fuhr er schließlich fort, »dann reite nach Ikne. Geh nach Ikne oder Denwar oder Orkala oder in eine der anderen großen Städte und sieh dir an, was sie den Menschen dort angetan haben. Enwor war einmal frei. O ja, es war eine wilde Welt, eine, die dich schneller umbringen konnte, als du dir träumen läßt, aber sie war frei, Skar. Heute sind Besh-Ikne und die Länder, über welche die Zauberpriester herrschen, ein einziges Sklavenlager. Wir hatten keine Wahl. Glaubst du, es war meine Entscheidung?« Er sprang auf, versetzte seinem Stuhl einen wütenden Tritt und riß den schwarzen Umhang von seiner Schulter.

»Glaubst du, ich habe dieses Ding hier gewollt?« fragte er aufgebracht. »O nein, ganz bestimmt nicht. Aber ich mußte es nehmen. Ich mußte es nehmen, um Enwor zu retten. Um die Satai zu retten, Skar.« Er beugte sich erregt vor, stützte die Hände auf der Tischplatte ab und fuhr, fast schreiend, fort: »Sie hätten nicht an der Küste Halt gemacht. Früher oder später hätten sie uns vernichtet, so, wie sie wahrscheinlich schon die Errish vernichtet haben.«

»Und deshalb habt ihr euch zu einem Heer zusammengetan?« Das Wort ihr erschreckte ihn selbst, denn es verdeutlichte mehr als alles andere, daß ei sich nicht einmal mehr mit den Männern in den schwarzen Mänteln der Satai identifizierte.

»Nein«, antwortete Del. »Oder ja, auch. Sicherlich.« Er seufzte, richtete sich wieder auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Er wirkte verstört, und Skar begriff, daß er der Wahrheit näher gekommen war, als Del wahrhaben wollte. »Natürlich auch deshalb«, wiederholte Del noch einmal, und ohne ihn anzusehen. »Jedermann hat das Recht, um sein Überleben zu kämpfen, oder? Aber es war nicht der Hauptgrund. Ich... war dabei, als die Entscheidung fiel, Skar. Ich war auf dem Berg der Götter. Glaube mir, wir hatten keine andere Wahl.«

»Und diese... diese Söldner?« Skar gab sich nicht einmal Mühe, die Verachtung zu verhehlen, die er für die Männer empfand, die er hierher geführt hatte. Sein Gewissen meldete sich heftig zu Wort, denn schließlich waren sie es, die diese Burg für sie zurückerobert hatten, und trotzdem. Er verachtete sie, weil sie die Silbersterne der Satai trugen, das heilige Zeichen, das niemand, niemand! freveln durfte. Wäre es anders gewesen, hätten sie sich als das zu ihnen gesellt, was sie waren, nämlich bezahlte Krieger oder einfach nur Männer, die um die Freiheit ihres Landes kämpften, hätte er sich mit seinem Leben für jeden einzelnen von ihnen eingesetzt. So nicht.

»Was sollten wir tun?« fragte Del voller Wut. »Ein halbes Dutzend Männer losschicken und mit ihnen einen Krieg gewinnen?«

»Aber -«

»Verdammt, Skar, was glaubst du, wie viele Satai es noch gibt?« brüllte Del plötzlich. Sein Gesicht flammte vor Zorn und Schmerz. »Sie haben uns gejagt wie die Tiere! Sie haben uns abgeschlachtet, in den Jahren, in denen du fort warst. Sie haben Geldpreise auf unsere Köpfe gesetzt und uns für vogelfrei erklärt. Ich bin nicht aus Langeweile zu den Verbotenen Inseln gegangen, ich bin dorthin geflohen! Und ich war einer der letzten, dem es gelang«, fügte er etwas leiser hinzu.

Skar war erschüttert. In all den Wochen, die er jetzt zurück war, hatte Del nicht ein Wort von alledem erwähnt; weder er noch einer der anderen Satai oder Quorrl, mit denen er gesprochen hatte. Er versuchte sich vorzustellen, was Del ihm gerade erzählt hatte, aber es gelang ihm nicht.

»Wie viele?« fragte er mühsam. Seine Zunge war plötzlich trocken und weigerte sich fast, ihm zu gehorchen. Sein Herz hämmerte. »Wie viele von uns gibt es noch?«

»Ich weiß es nicht«, räumte Del düster ein. »Fünfzig, hundert, vielleicht auch nur noch dich und mich. Wir waren niemals viele, aber jetzt sind wir...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Nichts mehr. Diese Männer dort draußen, dieses riesige Heer, das in wenigen Tagen zu uns stoßen wird, und diejenigen, welche Denwar und Kohon besetzt halten - du hast recht. Sie sind keine Satai. Es sind ... Krieger. Söldner. Einfache Männer, die unserem Ruf folgten, und ja, verdammt noch mal, auch eine Menge Raufbolde und Gesindel, die der Verlockung nicht widerstehen konnten. Wir haben versucht, die Schlimmsten wegzuschicken, aber auch wir machen Fehler. Wir brauchten sie.«

»Aber warum?« fragte Skar erschüttert. »Warum den heiligen Mantel der Satai, Del?! Warum habt ihr sie nicht einfach genommen und ausgebildet und in irgendeine Uniform gesteckt, und -« Plötzlich schrie auch er. »Weißt du, was passieren wird, wenn das alles hier vorüber ist? Die Satai werden nie wieder das sein, was sie einmal waren! Die Menschen hassen sie schon jetzt, und die meisten haben Angst vor uns!«

»Ich weiß«, antwortete Del leise. »Wir werden sie fortschicken, wenn alles vorüber ist. Der Kontrakt läuft zehn Jahre, und -«

»Und danach werden sie ihre Mäntel ablegen und vergessen, daß sie einmal Satai waren, wie?« höhnte Skar. »Stell dich nicht dumm. Ihr habt die Satai vernichtet, und das weißt du!«

Del starrte ihn an, aber Skar suchte vergeblich nach Zorn oder Vorwurf in seinem Blick. »Vielleicht hast du recht«, meinte er, sehr leise und voller Trauer und Niedergeschlagenheit. »Aber wenn wir Enwor damit retten, dann war es das Opfer wert.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, antwortete Skar wutentbrannt. »Das sind doch nur leere Sprüche, Del. Der Unsinn, den du vielleicht den anderen erzählen kannst, aber nicht mir. Das hier ist...« Er hob die Hände, als versuche er nach den Worten zu greifen, die er nicht fand. »... nicht mehr Enwor«, stieß er schließlich hervor.

»Doch«, widersprach Del, sehr leise, sehr ernst und jetzt ohne die mindeste Spur von Zorn. »Du täuschst dich, Skar«, beschwor er ihn. »Diese Welt ist dieselbe geblieben. Du bist es, der sich verändert hat.«

»Habe ich das?«

Del nickte. In seinem Blick war etwas, das Skar nicht deuten konnte und das ihm Angst einjagte; nein - nicht Angst: eine sonderbare Mischung aus Trauer und Verzweiflung, das Gefühl, etwas verloren zu haben, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es da war.

»Wir waren einmal Freunde, Skar«, sagte Del. »Erinnerst du dich noch?«

»Sind wir das jetzt nicht mehr?«

Del antwortete nicht.

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