21.

Es dauerte vier Stunden, bis die letzten Überlebenden des Satai-Heeres durch das Tor getaumelt waren, verfolgt von einer lebenden Lawine aus grüngeschuppten Quorrl, die sich selbst durch den wütenden Hagel aus Pfeilen und Bolzen kaum zurückhalten ließen, mit denen Dels Schützen sie überschütteten. Und es waren entsetzlich wenige.

Skar hatte ununterbrochen versucht, Titch zu erreichen: Er hatte seinen Namen in die Nacht hinausgebrüllt, so laut er nur konnte, hatte Leuchtsignale und Spiegelbotschaften auf das Quorrl-Heer hinabgesandt, und er hätte auch Boten zu Titch geschickt, hätten die Männer nur eine Chance gehabt, nicht von ihren eigenen Kameraden überranm zu werden, die in blinder Panik den schmalen Pfad zum Tor hinaufdrängten. Schließlich hatte er Befehl gegeben, eine Strickleiter auf der dem Heer abgewandten Seite der Burgmauer herunterzulassen, um auf diese Weise die Burg zu verlassen. Einer der Männer, welche die Leiter befestigen sollten, war mit einem Pfeil im Hals gestorben, bevor sie den Belagerungsring entdeckten, den die Quorrl rings um die Burg aufgerichtet hatten.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als hilflos zuzusehen, wie das sinnlose Töten weiterging. Es war genauso gekommen, wie er befürchtet hatte: Nachdem sich die Quorrl von ihrer ersten Überraschung erholt und zu wirksamem Widerstand zusammengeschlossen hatten, waren sie dazu übergegangen, Torians Krieger einfach niederzuwalzen, nur durch ihre pure Übermacht. Skar schätzte, daß nicht mehr als zwei Drittel des Heeres die Flucht in die Sicherheit der Burg gelungen war, und von denen, die entkamen, war kaum einer unverletzt. Es war weniger der Kriegskunst der Satai zuzuschreiben, daß wenigstens diese Männer überlebten, als vielmehr der simplen Tatsache, daß die Quorrl auf dem schmalen gewundenen Pfad zur Burg hinauf gar nicht so schnell vorrücken konnten, wie sie die Flüchtenden niedermetzelten. Das Gefühl der Hilflosigkeit, mit dem er alles mit ansehen mußte, brachte ihn fast um den Verstand.

»Du willst wirklich dort hinunter?«

Skar löste seinen Blick von der lebenden Mauer aus schuppigen Leibern, die nur widerwillig unter dem Hagel aus Pfeilen und brennenden Wurfgeschossen zurückwich, der sich von der Mauerkrone herab auf sie ergoß, drehte sich zu Kiina um und sah ihr ernst in die Augen. Er wußte, daß er eigentlich nicht einmal Zeit für diese wenigen Worte hatte - die Quorrl würden ihnen keine Gelegenheit lassen, sich zu erholen und neue Kräfte zu schöpfen. Skar war im Grunde sogar erstaunt darüber, daß sie nicht sofort angegriffen hatten, um die Mauer und ihre Besatzung einfach zu überrennen, wie sie es schon einmal getan hatten. Aber vielleicht ahnte Titch, daß hier irgend etwas ganz und gar nicht so war, wie es schien. Quorrl oder nicht. Titch war ein sehr intelligenter Mann. Der scheinbar so sinnlose Angriff der Satai und Veden mußte ihn maßlos verwirrt haben.

»Es ist unsere einzige Chance«, erklärte er.

»Sie werden dich in Stücke reißen«, warnte Kiina voll Sorge. »Du wirst nicht einmal aus dem Tor herauskommen, Skar.«

»Vielleicht«, gab Skar zu. »Wahrscheinlich sogar. Aber dann sterbe ich nur kurze Zeit vor euch allen.«

»Unsinn!« widersprach Kiina erregt. »Wir sind drinnen, und sie sind draußen, oder? Wir können uns wochenlang halten und auf Verstärkung warten!«

»Verstärkung?« Skar lachte leise, aber nicht besonders humorvoll. Er trat an Kiina vorbei und beugte sich aus dem Fenster, um zu Del herabzusehen, der seines und die beiden Packpferde bereits vor das Tor geführt hatte. Auf den Rücken der beiden überzähligen Pferde lagen zwei große, in dunkle Zeltplanen eingehüllte Körper. Mehr als zwei Dutzend bewaffneter Männer bildeten einen dichtgestaffelten Kordon rings um sie herum, um zu verhindern, daß jemand einen Blick unter die Plane warf und erkannte, welche Last die beiden Pferde trugen. Außer Del, ihm selbst und den beiden Kriegern, die ihnen geholfen hatten, Torians und Jamaßens Leichen aus dem zerfallenen Netz herauszuschneiden und in die Zeltplanen zu hüllen, wußte niemand, was die beiden Bündel enthielten. Nicht einmal Kiina. Skar war der Meinung gewesen, daß sie genug mit Titchs Quorrl zu tun hatten. Sie brauchten nicht noch zwanzigtausend Satai und Veden, die in Panik gerieten. Er hob die Hand, um Del anzudeuten, daß er gleich käme, und wandte sich wieder zu Kiina um.

»Verstärkung?« fragte er noch einmal. »Woher denn? Diese Männer hier sind alles, was wir haben. Und was sie gegen die Quorrl ausrichten können, hast du ja gesehen. Außerdem haben wir nicht die Zeit, von der du sprichst. Titch wird keinen Tag brauchen, diese Burg zu stürmen. Er hat es schon einmal getan.«

»Unter deiner Führung, ja«, antwortete Kiina. »Und gegen Drasks lächerliche fünf- oder sechshundert Krieger. Jetzt -«

»Es reicht«, schnitt ihr Skar scharf das Wort ab, und zu seiner Überraschung verstummte Kiina tatsächlich. Plötzlich begriff er, daß es nur Angst gewesen war, die sie zu ihren Äußerungen verleitet hatte. Er hob die Hand, strich ihr fast zärtlich über das Haar und schob sie dann mit sanfter Gewalt aus dem Weg. Sie versuchte, sich an ihn zu klammern, aber damit hatte er gerechnet, und diesmal ließ er es nicht zu. Er winkte einen der Posten herbei und gab ihm mit Gesten zu verstehen, das Mädchen festzuhalten.

»Laß mich nicht allein, Skar!« schrie Kiina. »Bitte!«

Skar ging bis zur Tür, drehte sich noch einmal um und lächelte ihr zum Abschied zu. »Du kannst sie loslassen, sobald ich fort bin«, wies er den Mann an, der das zappelnde Mädchen mit sichtlicher Anstrengung festhielt. »Aber gib acht, daß sie keinen Unsinn macht. Ich werde versuchen wiederzukommen.«

Und damit wandte er sich um und rannte fast aus dem Zimmer. Als er auf den Hof hinaustrat, fand er Del bei dem, was in den letzten Wochen seine Lieblingsbeschäftigung geworden zu sein schien: Er stritt lautstark mit drei Männern, von denen einer den schwarzen Mantel der Satai und zwei andere das Scharlachrot der Veden trugen. Skar konnte nicht verstehen, worum es ging, aber er hatte die drei vorhin schon einmal gesehen, zusammen mit einem Dutzend anderen Unterführern des Heeres in Dels Thronkammer, und sie waren da genauso wütend gewesen wie jetzt. Vielleicht, überlegte er spöttisch, nahmen sie es Del immer noch übel, daß er von ihnen verlangt hatte, sich bis auf die Haut auszuziehen, bevor sie ihm gegenübertraten.

Er verscheuchte den Gedanken, trat neben Del und sah ihn und die drei Hauptleute der Reihe nach fragend an. »Was ist los?«

»Wir sind dagegen!« antwortete einer der Veden.

»Wogegen?« fragte Skar. »Gegen etwas Bestimmtes, oder prinzipiell gegen alles?«

Das Gesicht des schwarzhaarigen Veden verdüsterte sich. »Jetzt ist kaum der richtige Moment für alberne Wortspielereien, Satai«, sagte er betont. »Was du vorhast, ist Wahnsinn! Du willst hinuntergehen und mit diesen Tieren verhandeln?«

»Hast du eine bessere Idee?« fragte Skar.

»Verdammt, es sind Quorrl!« schrie der Mann. »Niemand verhandelt mit Quorrl! Du hast gesehen, was passiert, wenn man versucht, sich mit diesen Bestien zu verbünden!«

»Ich habe nichts gesehen«, antwortete Skar. »Ich habe nur gesehen, wie ihr die Quorrl angegriffen habt. Und ich habe gesehen, wie ihr vor ihnen geflohen seid.«

»Schluß jetzt!« befahl Del scharf. »Skar geht, das ist entschieden.«

»So?« fragte der Vede böse. »Wer hat das entschieden?«

»Ich«, antwortete Del kalt. »Als Oberkommandierender dieses Heeres und Kriegsherr der Satai, dem ihr euch freiwillig unterstellt habt.« Er machte eine herrische Handbewegung, mit der er dem Veden das Wort abschnitt. »Und jetzt schweig und begib dich auf deinen Posten zurück.«

Der Mann schürzte wütend die Lippen. »Narr«, stieß er hervor. »Sie werden dir deinen Freund zurückschicken, in Stücke geschnitten, Hoher Satai!«

»Sollte das wirklich geschehen, dann kannst du ja dein Schwert nehmen und mich rächen, Vede«, entgegnete Skar. Mit einem kalten Lächeln und einer Geste auf die beiden beladenen Packpferde fügte er hinzu: »Und jetzt tu lieber, was der Hohe Satai dir befohlen hat - ehe er sich überlegt, den Quorrl vielleicht noch ein weiteres Geschenk zu überbringen. Zum Beispiel deinen Kopf.«

Er wandte sich brüsk um, scheuchte die Männer zurück, welche die Pferde umstanden, und stieg mit einer schwungvollen Bewegung in den Sattel. Del wechselte noch ein paar halblaute, aber nicht sehr ruhige Worte mit dem Veden und seinen beiden Begleitern und trat dann neben ihn.

»Du hast es dir wirklich gut überlegt?« fragte er. Die Frage war nur rhetorisch; Dels Art, ihm Glück zu wünschen. Es gab nichts zu überlegen. Sie wußten einer so gut wie der andere, daß sie einem ernstgemeinten Angriff der Quorrl keine zwei Stunden widerstehen würden. Skar antwortete gar nicht, sondern ergriff die Zügel seines und der beiden Packpferde und wollte losreiten, aber Del hielt ihn noch einmal zurück.

»Warte«, bat er. Langsam streckte er die Hand nach Skars Gürtel aus, zog das Tschekal an der Klinge aus der Scheide hervor und warf es zu Boden. Dann griff er unter seinen Mantel und holte die rubingeschmückte Waffe des Hohen Satai hervor, die er selbst ihm vor weniger als einem Tag abgenommen hatte. »Hier«, sagte er. »Es gehört dir.«

»Bist du sicher?« fragte Skar.

Del nickte ernst. »Hundertmal mehr als mir. Wenn ... wenn wir diesen Wahnsinn hier überleben, dann sollten wir miteinander reden.«

»Ja«, pflichtete ihm Skar trocken bei, während er die Waffe in seinen Gürtel schob. »Vor allem, um uns über gewisse pathetische Abschiedsszenen zu unterhalten, die ziemlich lächerlich wirken, wenn man dann doch davonkommt, nicht wahr?«

Del lachte, gab seinem Pferd einen leichten Klaps auf den Hals und trat zurück. Die Reihen der Satai und Veden teilten sich vor Skar, als er auf das Tor zuritt. Hinter ihm rief Del einen Befehl, und die beiden mächtigen, bronzenen Torflügel begannen sich zu teilen. Ein eiskalter Wind schlug Skar entgegen wie ein böses Omen, und die Morgensonne überschüttete den kleinen Platz vor dem Tor mit Strömen aus flüssigem Rot, als wäre in dieser Nacht noch nicht genug Blut geflossen. Seltsam - er hatte gar keine Angst.

Er erreichte das Tor, wartete, bis sich die beiden Hälften weit genug geteilt hatten, um ihn und die beiden Packpferde bequem durchzulassen, und setzte sein Tier langsam in Trab. Sein Herz begann zu hämmern. Eine eisige, prickelnde Kälte breitete sich in seinem Körper und seinen Gliedern aus. Wenn es Furcht war, dann Furcht einer ganz anderen Art, als er sie bisher kennengelernt hatte.

Das Plateau vor ihm war voller Toter; Quorrl und Pferde, aber auch entsetzlich viele Gestalten in den knöchellangen Mänteln der Satai und Veden, und die Spur aus Leichen und Sterbenden zog sich den gewundenen Weg hinab, so weit er nur blicken konnte.

Und keine hundert Schritte vor ihm die Quorrl.

Es waren Tausende. Sie standen dicht an dicht, eine undurchdringliche waffenstarrende Mauer aus gigantischen, schuppigen Gestalten, und hinter der ersten Reihe erhob sich eine zweite, dritte, vierte... Das Heer zog sich den gewundenen Weg hinab bis an den Fluß und weiter an seinen Ufern entlang wie eine einzige, ungeheuerliche Masse, ein gigantisches, aus vieltausend Körpern bestehendes Tier, das nur auf ein Wort, eine einzige falsche Bewegung, wartete, um loszustürmen und die Burg und ihre Besatzung einfach zu überrennen. Plötzlich war Skar davon überzeugt, daß die Quorrl die Tore einfach durch ihr bloßes Herannahen aufsprengen konnten, wenn sie es wirklich wollten. Großer Gott, er hatte nie begriffen, was das hieß - vierzigtausend Quorrl! Vierzigtausend Giganten, jeder einzelne eine Kampfmaschine, die es mit einem Dutzend normaler Männer aufnehmen konnte!

Plötzlich gellten hinter ihm Schreie auf. Skar drehte sich im Sattel herum, zugehe in der gleichen Bewegung sein Pferd - und fuhr erschrocken zusammen, als er die schlanke Gestalt sah, die tief über den Rücken ihres Pferdes gebeugt über den Hof geprescht kam. Ihr blondes Haar wehte wie ein Schleier hinter ihr her, und in ihrer Hand blitzte ein Schwert, mit dem sie nach jedem schlug, der ihr den Weg zu versperren suchte.

»Kiina!« keuchte er. »Bist du...« Er riß beide Arme in die Höhe und brüllte, so laut er konnte: »Das Tor zu! Haltet sie auf!!«

Seine Worte kamen zu spät. Die Torflügel hatten längst begonnen, sich hinter ihm zu schließen, aber sie taten es so langsam, wie sie sich geöffnet hatten. Einer der Veden versuchte auch tatsächlich, sich Kiina in den Weg zu stellen, aber sie ritt ihn einfach über den Haufen, war mit einem Satz durch das Tor und zügelte ihr scheuendes Pferd unmittelbar neben ihm.

Skar griff mit der linken Hand nach dem Zügel des Tieres und brachte es mit einem Ruck zur Räson, packte Kiina dann bei der Schulter und versetzte ihr mit der anderen Hand eine schallende Ohrfeige.

»Bist du wahnsinnig geworden?« schrie er. »Willst du dich und uns alle umbringen?«

Kiina war unter seinem Hieb zurückgetaumelt und kämpfte einen Moment lang mühsam darum, nicht aus dem Sattel zu stürzen. Dann preßte sie die Hand gegen ihre Wange. In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie Skar ansah. Aber es war nur der Schmerz seines Schlages.

»Ich bleibe bei dir«, erklärte sie festentschlossen. »Du mußt mich schon fesseln, wenn du das verhindern willst, Skar.« Skar starrte sie an. Seine Gedanken überschlugen sich. Für einen Moment hatte er Lust, ganz genau das zu tun, was Kiina vorgeschlagen hatte, und sie auf den Rücken ihres Pferdes gebunden in die Festung zurückzuschicken. »Vielleicht sollte ich es tun«, grollte er.

»Bitte«, sagte Kiina schnippisch. »Schlag mich nieder, oder nimm mich mit. Ich bleibe bei dir. Das waren deine eigenen Worte, Skar. Schon vergessen? Ich soll bei dir bleiben, ganz egal, was passiert.«

»Aber das -« Skar brach ab, ballte ratlos die Faust und drehte sich resignierend im Sattel herum. Plötzlich fühlte er sich hilflos wie nie zuvor in seinem Leben. Er wußte einfach nicht mehr, was er tun sollte.

»Ich bleibe nicht dort drinnen, Skar«, betonte Kiina noch einmal. »Wenn ich schon sterben muß, dann an deiner Seite.« Hinter ihr fiel das Tor mit einem Laut wie das Schlagen einer riesigen bronzenen Glocke vollends zu. Skar hörte das Scharren des gewaltigen Riegels; fast, wie um ihre Worte zu unterstreichen. »Du wirst da genauso tot sein wie irgendwo anders«, antwortete Skar, mit einer Ruhe, die ihn selbst ein wenig erstaunte. Langsam wandte er sich wieder den Quorrl zu. Die Schlachtreihe der Schuppenkrieger hatte sich nicht bewegt, aber er glaubte, die Blicke Hunderter und Aberhunderter schmaler geschlitzer Schlangenaugen wie die Berührung kleiner glühender Hände zu spüren. Was, dachte er, wenn Torian recht gehabt hatte? Wenn es keine gemeinsame Basis zwischen ihnen gab?

Schließlich gab er nach: »Wie du willst, Kiina. Bleib immer dicht hinter mir. Und du sagst oder tust nichts, hast du das verstanden? Überhaupt nichts, ganz egal, was passiert!« Er sah Kiina bei diesen Worten nicht an, aber er fühlte, wie sie nickte, und ritt langsam weiter. Sein Pferd begann zu scheuen, als er es zwang, auf die Toten zu treten, die den Platz vor dem Tor bedeckten, aber er brachte das Tier mit brutaler Kraft dazu, weiterzugehen.

Ganz langsam kam die vorderste Reihe der Quorrl näher. Skars Herz begann zu hämmern. Seine Handflächen wurden so feucht, daß er Mühe hatte, den Zügel zu halten, und plötzlich hatte er Angst, ganz entsetzliche Angst sogar. Die Bedrohung, die von den Quorrl ausging, war fast greifbar.

Als er sich den Kriegern bis auf zehn Schritte genähert hatte, teilte sich die lebende Mauer. Ein schmaler, von grün- und graugeschuppten Körpern gebildeter Korridor öffnete sich, durch den Skar und Kiina hindurchreiten konnten. Skar mußte sich nicht umdrehen, um zu wissen, daß er sich hinter ihnen wieder schloß. Er spürte, wie Kiina ihr Pferd dichter an das seine herandrängte. Er konnte ihre Angst fast riechen.

Sie ritten nicht sehr weit. Sie waren noch in Sichtweite der Burg, noch diesseits der ersten Wegbiegung, als sich der lebende Korridor vor ihnen verbreiterte, um einer zweiten, berittenen Gestalt Platz zu machen.

Obwohl Skar schon vorher gewußt hatte, wem er gegenüberstand, erkannte er Titch kaum wieder. Der Quorrl saß im Sattel eines Pferdes, gegen das selbst Skars Schlachtroß wie ein Pony wirkte. Er war von Kopf bis Fuß in schimmerndes Gold gehüllt, ebenso wie sein Pferd, trug Schwert, Schild, Lanze und Morgenstern, und der ungeheuerliche Panzer und all diese Waffen ließen ihn noch größer und bedrohlicher erscheinen, als er ohnehin schon war. Die Augen hinter dem »T« förmigen Sichtschlitz seines Helmes blickten kalt, ohne die mindeste Spur von Mitleid oder Verständnis, aber auch ohne Haß. Wenigstens redete sich Skar dies mit aller Macht ein.

Er ritt auf zwei Schritte an den Quorrl heran, zügelte sein Pferd und versuchte vergeblich, Titchs Blick ebenso gelassen standzuhalten, wie der Quorrl ihn ansah. Skar schauderte, als er die Kälte spürte, die von der Gestalt des gigantischen Schuppenkriegers ausging.

»Warum bist du gekommen, Mensch?« fragte Titch. Skar fuhr unmerklich zusammen, als er die Anrede hörte. »Um zu sterben?«

»Um zu leben«, antwortete Skar. »Wenn ich sterben wollte, wäre ich in der Burg geblieben.«

»Vielleicht wäre das klüger gewesen«, erwiderte Titch kalt. »Möglicherweise hättest du dort länger gelebt als hier. Was willst du? Um Gnade flehen?«

»Nein«, entgegnete Skar leise. »Um zu reden. Mit dir, Titch.« Titch starrte ihn an. »Reden?« Er schwieg einen Moment, lachte dann, ganz ganz leise. »O ja, reden«, wiederholte er. »So, wie du mit Trash geredet hast, wie? Es gibt nichts mehr zu reden zwischen uns, Mensch. Ihr habt geredet, gestern nacht. Dreitausend meiner Brüder liegen erschlagen unten am Fluß.«

»Und dreimal so viele werden sterben, wenn du diese Burg stürmen läßt!« gab ihm Skar erregt zu bedenken. »Titch, bitte hör mir zu. Laß mich nur einen Moment erklären!«

»Erklären?« Titch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will sie nicht hören, deine Erklärungen, Mensch. Ich will keine Worte mehr hören! Es waren Worte, die uns hierhergebracht haben! Worte, feine, geschliffene Worte, die uns glauben ließen, die alte Feindschaft zwischen euch und uns könnte begraben werden. Worte!« Er spie aus.

»Titch, wir sind nicht eure Feinde!« beschwor Skar ihn. »Dieser Angriff heute nacht war ein fürchterlicher Irrtum, glaube mir. Wir sind getäuscht worden, wir alle. Du und ich, und Del und... und auch die Männer, die euch angriffen. Sieh sie dir an!« Und damit zerrte er mit einem Ruck die Zeltplane herunter, die Torians verstümmelten Körper bisher verborgen hatte. Kiina schrie entsetzt auf und schlug die Hand vor den Mund, ehe sie erkannte, was darunter zum Vorschein kam, und auch einige der umstehenden Quorrl prallten erschrocken zurück. Skar drehte sich zur anderen Seite und riß auch die zweite Plane herunter. Aber die Reaktion, auf die er gehofft hatte, kam nicht. Titch blickte die grausige Fracht der beiden Tiere eine geraume Zeit schweigend an. Skar hätte seine rechte Hand darum gegeben, hätte er in diesem Moment gewußt, was hinter der goldenen Kampfmaske des Quorrl vorging.

»Wer ist das?« fragte Titch schließlich.

»Der Kommandant des Heeres«, antwortete Skar. »Und sein Berater. Sie waren es, die den Angriff auf euch befahlen. Torian wußte es nicht einmal besser. Er glaubte, von euch in eine Falle gelockt worden zu sein.«

»Ich weiß«, antwortete Titch.

Skar erstarrte. »Du... weißt?«

Der Quorrl deutete mit einer Handbewegung auf die beiden Toten. »Ich wußte nichts davon«, schränkte er ein. »Aber ich wußte, daß etwas geschehen war. Ich war drüben auf der anderen Seite des Flusses. Ich habe die toten Drachen gesehen. Und die Quorrl.«

»Aber dann... dann weißt du doch, daß es nicht unsere Schuld war!« sagte Skar. »Man hat uns getäuscht, Titch. Wir sind auf eine Kriegslist hereingefallen, die -«

»Was ändert das?« unterbrach ihn Titch. Skar starrte ihn fassungslos an, und Titch wiederholte noch einmal: »Was ändert das, Mensch? Nichts. Es macht es eher noch schlimmer.«

»Aber ... aber verstehst du denn nicht?!« mischte sich Kiina ein. »Es war nicht -«

»Schweig, Menschenjunges!« donnerte Titch. »Es ändert nichts! Ihr glaubt, im Recht zu sein, nur weil es unsere Krieger waren, deren sich das Netz bediente? Ihr glaubt, es würde alles entschuldigen, nur weil ihr getäuscht worden seid?« Erregt beugte er sich im Sattel vor. »Verrate mir eines, Menschenjunges - wären es eure Leute gewesen, die euch getäuscht hätten, würdet ihr dann auch einfach den Angriff befohlen haben? Oder hättet ihr gefragt? Hättet ihr vielleicht einen Mann ausgeschickt, um festzustellen, was überhaupt passiert ist?«

Kiina wollte antworten, aber Skar machte eine rasche, beruhigende Geste. »Nicht, Kiina«, bat er. »Er hat recht.« Er wandte sich wieder an den Quorrl. »Das haben wir«, versicherte er. »Torian hat zehn Männer ausgeschickt. Keiner von ihnen hat die Burg erreicht.«

»Und das war dann genug«, antwortete Titch. Er lachte böse. »Belüg dich nicht selbst, Skar. Ihr hättet einen Weg gefunden, wären es Menschen gewesen, denen ihr mißtrautet. Aber es waren ja nur Quorrl. Es waren ja nur dumme Tiere, von denen ihr nichts anderes erwarten konntet, nicht wahr? Sie haben ja nichts anderes getan als das, worauf ihr sowieso gewartet habt!« Fast eine Minute lang sah Skar den Quorrl nur an. Dann senkte er fast beschämt den Kopf. »Du hast recht«, gestand er ein. »Es ... es tut mir leid.«

»O ja«, höhnte Titch. »Und damit vergessen wir alles, wie?« Er versetzte Torians Leichnam einen Fußtritt, der das Packpferd scheuen ließ. »Wir tun einfach so, als wäre nichts geschehen. Es war alles nur ein schrecklicher Irrtum, und es ist ja nichts passiert. Es sind ja nur ein paar tausend Quorrl gestorben, und die anderen reichen allemal, den Krieg für euch zu gewinnen.«

»Titch, bitte«, rief Skar beschwörend. »Ich verstehe deinen Schmerz, aber du ... du machst alles nur schlimmer.«

Titchs Wutausbruch verging so schnell, wie er gekommen war. Plötzlich blickten die Augen hinter dem schmalen »T« in seiner Maske wieder kalt und unbarmherzig wie Stahl.

»Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht mache ich es auch nur wieder richtig, Mensch.«

»Es sind mehr von unseren Kriegern gestorben als von euren«, hielt Skar ihm entgegen. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er spürte, daß Titch nicht nachgeben würde. Und das allerschlimmste war vielleicht, daß er den Quorrl sogar verstand; irgendwie.

»Und es werden noch mehr sterben, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht«, antwortete Titch ruhig. »Reite zurück, Skar. Geh zurück zu deinen Freunden und richte ihnen aus, daß sie drei Stunden Zeit haben, sich auf den Kampf vorzubereiten. Ich erwarte euch unten am Fluß, wenn die Sonne im Zenit steht.«

»Du weißt, daß sie nicht kommen werden«, entgegnete Skar. »Dann kommen wir«, antwortete Titch hart. »Geh, Skar. Ich schenke dir das Leben, und diesem Menschenjungen an deiner Seite auch.« Er deutete auf Kiina. »Du kannst gehen, Mädchen aus Elay. Meine Krieger werden dich nicht behelligen. Geh zurück in deine Heimat. Du bist frei.«

»Ich bleibe bei Skar«, antwortete Kiina trotzig. Skar wußte, daß ihr diese Worte leid tun würden, aber er erwiderte nichts. Er fühlte sich nur noch leer und müde.

»Dann stirbst du mit ihm«, schloß Titch kalt. »Und jetzt geht. Reitet zurück in die Burg und sagt ihnen, daß die Quorrl kommen werden, um ihnen zu bringen, was sie von ihnen erwarten.«

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