Mit dem Abend war die Kälte zurückgekommen. Skar und Kiina waren hinaufgegangen auf die Plattform des Turmes, hundert oder mehr Manneslängen über der Burg und die dreifache Höhe über dem Fluß, und sie waren in stummem Einvernehmen den ganzen Tag über dortgeblieben. Die Vorstellung, hier oben irgendwie in Sicherheit zu sein, war natürlich nur eine Illusion, aber Skar fühlte sich trotzdem erleichtert. Nachdem Del gegangen war, hatte er angefangen, sich wie lebendig eingemauert zu fühlen. Die Wände hatten ihm den Atem genommen, und wenn er zurücksah zu der Tür, die auf die Plattform hinausführte, hatte er das Empfinden, direkt in ein aufgerissenes steinernes Maul zu blicken. Vielleicht war der Vergleich nicht einmal so falsch, dachte er. Irgendwie war diese Burg viel mehr als ein gemauertes Gebäude. Sie war ein gewaltiges, steinernes Ungeheuer, das sie alle längst verschlungen hatte und ihnen nur noch vorgaukelte, am Leben und frei zu sein, während sie sich in Wahrheit nur noch in seinen Eingeweiden bewegten und aufs Verdautwerden warteten; gefressen waren sie schon.
Unruhig überquerte er zum -zigsten Male an diesem Abend den Turm und blickte auf die Ebene auf der anderen Seite der Burg hinab. Die hereinbrechende Dämmerung hatte sich über das Satai-Heer gelegt; jenseits des Flusses erstreckte sich nur noch Schwärze, in der stecknadelkopfgroße Lichter wie heruntergefallene Sterne blinzelten - die Feuer der Satai und Veden, die wenige Meilen vor der Burg zum letzten Mal ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Es waren erstaunlich wenige, dachte Skar. Nur ein paar hundert, bei einem Heer von zwanzigtausend Mann und fast doppelt so vielen Tieren.
Wie zum Ausgleich war das andere Ufer des Flusses fast taghell erleuchtet, so gut, daß er trotz der großen Entfernung die einzelnen Gestalten der Quorrl erkennen konnte, die sich dort bewegten.
Als hätte er noch nicht genug Sorgen, fragte er sich, was wohl geschehen würde, morgen, wenn das Heer herankam und auf die vierzigtausend Quorrl-Krieger traf, die dort unten lagerten. Er verscheuchte den Gedanken.
»Glaubst du wirklich, daß er kommt?«
Skar drehte sich von der Brüstung ab und sah Kiina an. Sie hatten wenig gesprochen in den Stunden, die sie hier oben verbracht hatten; einfach, weil es nichts mehr zu reden gab. Sie wußten beide, daß die Falle bereits zugeschnappt war. Sie konnten nur noch warten. Es dauerte Sekunden, bis Skar klar wurde, was Kiina überhaupt meinte - ihre Frage knüpfte an eine Bemerkung an, die er vor vielleicht einer halben Stunde gemacht hatte; daß er nämlich darauf hoffte, Titch würde erfahren, was hier passiert war, und kommen.
»Ich weiß es nicht«, gestand er. Und er wußte nicht einmal, ob er wirklich auf die Hilfe des Quorrl hoffen sollte. Daß Titch ihm seine geheimsten Gedanken offenbart hatte, mußte nicht unbedingt bedeuten, daß er ihm auch trauen konnte. Ganz und gar nicht.
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er noch einmal und fügte hinzu: »Wir könnten fliehen. Der Turm ist hoch, aber es ist nicht unmöglich, an der Wand hinunterzusteigen und die Mauer zu erreichen.«
Kiina überlegte einen Moment. »Für dich«, gab sie zu bedenken. »Für mich schon, Satai. Und du willst auch nicht wirklich fliehen, oder?«
Nein, das wollte er nicht. Er konnte all diese Männer nicht im Stich lassen. Er konnte Del nicht im Stich lassen, trotz allem. »Ich habe Angst«, sagte Kiina plötzlich.
Skar wollte ihre Bemerkung mit einer Handbewegung abtun - aber dann nahm er sie statt dessen in die Arme und drückte sie behutsam an sich. Sie zitterte ganz leicht, und ihr Atem strich heiß über seinen Hals. »Ich auch«, gestand er. »Aber es gibt nichts, was wir noch tun könnten.«
»Es ist genau wie in Elay«, flüsterte Kiina. »Dort begann es ganz genau so. Freunde wurden zu Feinden, und Mütter bekämpften ihre Töchter.« Sie löste sich aus seiner Umarmung und sah ihm von unten her ins Gesicht. Wieder fiel Skar auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter war; und nicht nur äußerlich. Sie hatte Angst, sie war fast wahnsinnig vor Angst, aber trotzdem war sie stark. Ganz egal, was geschah, dieses Mädchen würde nicht aufgeben. »Aber dort gab es keinen, der uns hätte warnen können«, fügte sie nach kurzer Pause hinzu.
»Es hätte nichts genutzt«, antwortete Skar traurig. »Du hast Del erlebt.«
»Das habe ich.« Kiina nickte. »Ich verstehe nicht, wie ihr einmal Freunde gewesen sein könnt, Skar.«
»Wir sind es noch«, erwiderte Skar. »Das war nicht Del, der uns gefangengenommen hat, Kindchen. Er ist nicht verantwortlich für das, was er tut. Es ist dieser Ort. Etwas hier will nicht, daß wir gehen.«
»Es ist wie ein Spinnennetz«, verglich Kiina. »Du kannst strampeln, so sehr du willst, aber du verstrickst dich immer tiefer in seine Maschen. Ich habe Angst.«
Skar lächelte. »Uns wird nichts geschehen«, beruhigte er sie. »Heute noch nicht.« Er deutete auf die Lichtpunkte des Satai-Heeres weit draußen in der Ebene. »Es will sie. Es wird warten, bis sie alle hier sind.«
»Und wenn nicht?«
»Wer immer diese Falle aufgebaut hat, wäre ziemlich dumm, sie jetzt schon zuschnappen zu lassen«, erwiderte Skar überzeugt. »Wir sind nur fünfhundert, hier in der Burg. Ein Nichts gegen das Heer dort draußen. Nein -« Er schüttelte noch einmal und sehr überzeugt den Kopf. »- noch sind wir sicher. Und wenn ich hier heraus könnte, dann könnte ich vielleicht sogar etwas tun. Ich weiß nur nicht genau, was«, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu. »Vielleicht die Burg anzünden.«
Tatsächlich hatte er kurz mit diesem Gedanken gespielt. Es war irgendwo hier drinnen, vielleicht überall, und es würde ihnen nichts mehr antun können, sobald sie die Burg verlassen hatten. Aber die Festung war einfach zu groß, als daß ein einzelner Mann ihr nennenswerten Schaden zufügen konnte. Und sie war massiv erbaut, einzig und allein aus Stein, der bekanntlich nicht besonders gut brannte.
Aber ihm waren auch noch andere, kaum weniger verrückte Gedanken durch den Kopf geschossen, die eigentlich allesamt nur eines gemeinsam hatten: Sie waren undurchführbar. Er zweifelte nicht daran, daß er mit Gewalt ausbrechen konnte, wenn es wirklich sein mußte, und auch Del mußte wissen, daß ihn die vier Mann, die er zu seiner und Kiinas Bewachung unter der Treppe zurückgelassen hatte, nicht wirklich aufhalten konnten. Aber wenn er sich seinen Weg aus diesem Turm heraus erkämpfte, dann würde er damit genau das tun, was seine Feinde von ihm erwarteten. Nein, dachte er: Del - beziehungsweise die Macht, die sich seiner bediente - hatte ihn gründlich außer Gefecht gesetzt.
»Was ist das?« fragte Kiina plötzlich.
Skar schrak aus seinen Gedanken hoch und folgte Kiinas Blick. Sie sah an ihm vorbei zum Fluß hinab, auf das Lager der Quorrl, und auch Skar erkannte sofort, daß sich dort etwas verändert hatte - er wußte nicht was, aber das undurchschaubare Muster aus grün und graugeschuppten Gestalten und behäbiger Bewegung hatte sich irgendwie... verändert.
Besorgter, als er zuzugeben bereit war, trat er neben Kiina an die Brüstung heran und beugte sich vor, so weit er konnte. Der Wind biß ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er hob die Hand über die Augen, kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen und konzentrierte sich, um mehr Einzelheiten ausmachen zu können. Es gelang ihm nicht. Das Lager war einfach zu weit entfernt, und die Nacht zu dunkel. Gegen die sie belagernde Finsternis wirkten die Lagerfeuer und Fackeln grell und blendeten ihn mehr, als sie ihn sehen ließen. Aber Kiina und sein erster Eindruck hatten recht - etwas geschah dort unten. Er wußte noch immer nicht, was es war, aber eines wußte er genau: Es war kein Wandel zum Guten hin. Alles wirkte plötzlich ein winziges bißchen hektischer, unruhiger, nervöser. Das Muster aus vierzigtausend Quorrl-Körpern war in Bewegung geraten wie buntfarbener Sand, der im Sieb eines Goldwäschers zitterte.
»Was tun sie?« fragte Kiina ängstlich.
Skar zuckte mit den Achseln und versuchte fast verzweifelt, mehr Einzelheiten zu erkennen. Nach einer Weile glaubte er ein Muster in der quirlenden Bewegung dort unten auszumachen - eine nur durch die riesige Entfernung langsam scheinende Wellenbewegung, die sich wie die Halbkreise eines am Ufer ins Wasser geworfenen Steines vom jenseitigen Rand des Lagers her durch die gesamte Masse der Quorrl-Armee zogen. Die Quorrl... flohen vor etwas dachte Skar verwirrt. Aber wovor? Und - Er erkannte es, eine halbe Sekunde bevor Kiina gellend aufschrie und mit dem ausgestreckten Arm nach unten deutete. Eine schnurgerade Reihe daumennagelgroßer Reitergestalten war aus der Dunkelheit herausgebrochen und verfolgte mit angelegten Lanzen die flüchtenden Quorrl, gefolgt von einer zweiten, dritten und vierten Schlachtreihe gepanzerter Reiter. Und hinter ihnen, getrennt durch wenige Zoll, die auch in Wirklichkeit nicht mehr als zwei-, dreihundert Schritte sein konnten - hinter diesen drei-, oder vierhundert Veden-Reitern brachen Tausende und Abertausende schwarzgekleideter Gestalten aus der Nacht heraus! -
»Nein!« stammelte Skar. »Das... das sind ... das sind unsere eigenen Leute, Kiina! SIE GREIFEN DIE QUORRL AN!!« Er fuhr herum, packte Kiina mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß sie erschrocken aufschrie. »Es sind Satai, Kiina!« schrie er noch einmal. »Es ist das Heer aus Denwar! Und sie greifen Titch an!«
Kiina versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und sagte etwas, das Skar nicht einmal verstand. Er ließ sie los, stürzte wieder zur Brüstung und sah nach Westen. Das Muster aus Lagerfeuern jenseits des Flusses brannte noch immer so ruhig und unverändert wie bisher, aber er begriff plötzlich, warum es so wenige waren. Es konnten nur ein paar Dutzend, allerhöchstens wenige hundert Männer sein, die wirklich dort draußen auf der Ebene zurückgeblieben waren - der weitaus größte Teil des Heeres mußte den Fluß außer Sichtweite überschritten und einen Bogen geschlagen haben, um den Quorrl in den Rücken zu fallen. Aber warum? Warum nur?
Ungläubig starrte er wieder auf den Lagerplatz der Quorrl hinab. Durch die Nacht wehten jetzt die ersten Schreie und der Lärm des losbrechenden Kampfes herauf, begleitet von einem dumpfen, mehr und mehr anschwellenden Raunen und Dröhnen, das Skar nur zu gut kannte - es war das Geräusch der Schlacht, die Kampfschreie aus Tausenden von Kehlen, die sich zu einer schrecklichen Todesmelodie vereinten. Die Veden-Reiter hatten die Reihen der Quorrl mittlerweile durchbrochen und begannen, sich zu einem spitzen V zu formieren, um das Lager in zwei Hälften zu spalten, zwischen die die nachdrängenden Krieger dringen konnten. Aber Skar sah auch, daß sich unter den Quorrl bereits der erste Widerstand zu formieren begann: Hier und da bildeten sich kleine Gruppen, die dem ungestümen Anprall der Reiterei standzuhalten versuchten; natürlich vergeblich. Sie wurden einfach über den Haufen geritten. Aber die bisher fast mathematisch ausgerichtete Schlachtreihe der Veden bekam Beulen und Einbuchtungen, und ihr Ansturm verlor langsam, aber unerbittlich an Schwung. Skar wußte, daß sich das Blatt sehr schnell wenden konnte, wenn sich die Quorrl erst einmal wirklich von ihrem Schrecken erholt hatten. Immerhin waren sie den Männern aus Denwar um mehr als das Doppelte überlegen, allein an Zahl. Wie das Verhältnis ihrer Kampfkraft aussehen mochte, wagte sich Skar erst gar nicht vorzustellen.
Er fuhr herum, war mit einem Sprung bei der Tür und trat sie kurzerhand ein. Der Mann, der dahinter gestanden hatte, wurde einfach gegen die Wand geschleudert und brach stöhnend zusammen. Skar schleuderte ihn mit einem Fußtritt vollends zu Boden, sprang über ihn hinweg und überlegte sich einen Augenblick zu spät, daß es vielleicht klug gewesen wäre, sein Schwert an sich zu nehmen. Aber er verschwendete keine Zeit damit, noch einmal zurückzulaufen. Immer zwei-, drei-, manchmal vier Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Treppe hinunter, hastete den Korridor zu seinem Zimmer entlang und stürmte daran vorbei. Weit hinter ihm klangen Kiinas Schreie auf, die ihm verzweifelt nachrief, auf sie zu warten, aber er achtete auch darauf nicht. Der Lärm der Schlacht war jetzt auch hier drinnen zu hören, wie ein fernes, noch nicht eindeutig zu identifizierendes Summen. Aber er wurde lauter. Skar rannte weiter, über die nächste Treppe hinunter und die folgende und erreichte endlich die Tür, die auf den Hof hinausführte.
Seine Hoffnung, die Wächter einfach überraschen zu können, erfüllte sich nicht. Einer der Männer sah in seine Richtung, als er die Treppe hinuntergepoltert kam, und gab einen halblauten, warnenden Ruf von sich. Die vier Krieger zogen gleichzeitig ihre Waffen und formierten sich zu einem Halbkreis, dessen offene Seite auf ihn zeigte.
Skar trat dem ersten die Beine unter dem Leib weg, entrang dem zweiten das Schwert, wobei er sich einen tiefen, blutenden Schnitt im Oberschenkel einhandelte, und schwang die Waffe zu einem wütenden Hieb, der den beiden anderen Kriegern gleichzeitig die Klingen aus den Händen prellte. Das Ganze ging so schnell, daß sich der erste Krieger noch nicht einmal halb vom Boden hochgerappelt hatte, als seine drei Kameraden auch schon entwaffnet vor Skar standen.
»Die Tür auf!« schrie Skar. »Schnell!«
Einer der Satai hob beinahe flehend die Hände. »Herr, wir dürfen Euch -«
Skar schlug ihm den Schwertknauf ins Gesicht. Der Mann brach keuchend zusammen, und Skar richtete die Spitze der erbeuteten Waffe auf einen zweiten Satai.
Diesmal zögerte der Krieger nicht. Hastig bückte er sich nach seinem Kameraden, der auf die Knie gefallen war und die Hände gegen die Wange preßte, zog einen Schlüssel aus seinem Gürtel und entriegelte damit das wuchtige Schloß. Skar versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen die Tür prallen ließ und sie damit aufstieß, warf den beiden anderen Satai einen letzten, warnenden Blick zu und stürmte auf den Hof hinaus.
In der Festung herrschte Chaos. Der Lärm der Schlacht wehte so laut aus dem Tal herauf, als tobe sie unmittelbar vor den Toren der Burg, und auf dem Hof schienen Hunderte von Gestalten zu sein, die schreiend - und, wie Skar mit einem Blick registrierte - ziemlich kopf- und ziellos durcheinanderliefen.
Er hörte einen erleichterten Ausruf hinter sich, wandte den Kopf und erkannte Kiina, in deren Hand jetzt ebenfalls ein Schwert blitzte. Mit einer Geste gab er ihr zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollte, winkte sie aber dann doch zu sich heran. Besser, sie war bei ihm, bei dem Chaos, das hier gleich losbrechen würde.
»Kannst du damit umgehen?« fragte er mit einer Geste auf die Waffe in Kiinas Hand.
»Nicht so gut wie du, aber gut genug«, antwortete Kiina. »In Ordnung. Bleib immer dicht bei mir.« Er packte den erstbesten Krieger, der an ihm vorbeistürmte, grob am Arm und zerrte ihn zu sich herum. »Wo ist Del?«
»Ich weiß es nicht«, gab der Satai zur Antwort. »Oder doch - er muß auf dem Tor sein. Ich sah ihn den Wehrgang hinaufstürmen. Was ist geschehen, Herr? Greifen die Quorrl an?«
Skar rannte los, ohne ihn auch nur einer Antwort zu würdigen. Kiina fiel nach wenigen Schritten hinter ihm zurück, holte aber wieder auf, als er den Hof überquert hatte und die schmale Holztreppe zum Wehrgang hinauflief.
Oben auf der Mauer herrschte ein heilloses Durcheinander. Skar entdeckte Del schon von weitem - seine hünenhafte Gestalt überragte die der anderen Satai wie ein Fels -, aber es kostete ihn wertvolle Minuten, sich zu ihm durchzukämpfen. Kiina war abermals irgendwo in dem Durcheinander verschwunden, aber Skar war zuversichtlich, daß sie ihn finden würde. Sie hatte die Worte des Satai so gut gehört wie er.
»Was ist los?« fragte er, als er Del erreichte.
Del fuhr zusammen, blickte ihn eine halbe Sekunde lang überrascht an - und atmete dann fast erleichtert auf. Er verlor kein Wort darüber, wie Skar hierhergekommen sei. »Ich weiß es nicht«, gestand er mit einer Geste nach Osten. »Die Männer aus Denwar greifen die Quorrl an. Aber ich verstehe es einfach nicht. Sie ... sie müssen wahnsinnig geworden sein.«
Skar sah wieder ins Tal hinab. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seit er den Turm verlassen hatte, aber selbst diese kurze Zeitspanne hatte bereits ausgereicht, seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen - von dem schwungvollen Angriff, den er von oben aus beobachtet hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Er konnte von hier aus sehr viel weniger Einzelheiten erkennen als von der Höhe des Turmes, aber er sah immerhin, daß sich die beiden Heere ineinander festgebissen zu haben schienen. Auf der Ebene unterhalb der Burg war keine geordnete Schlachtformation mehr zu entdecken, sondern nur ein einziges, großes Getümmel, in dem Freund und Feind kaum mehr zu unterscheiden waren. Aber Skars Phantasie und Erfahrung reichten durchaus, sich auszumalen, was dort geschah. Wäre er an Titchs Stelle, dann hätte er die Spaltung seiner Armee durchaus zugelassen. Zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die Hauptmacht der Angreifer heran war. Um sie dann zwischen den beiden Hälften einer Zange aus vierzigtausend Quorrl-Giganten einfach zu zermalmen. Was die Männer aus Denwar dort unten taten, war mehr als Wahnsinn. Es war Selbstmord. »Der Kommandant muß verrückt geworden sein«, rief Del fassungslos aus. Sein Gesicht war kalkweiß. Seine Hände krallten sich so fest um die Brüstung des Wehrganges, daß Blut unter seinen Fingernägeln hervorquoll. »Warum, Skar? Was geschieht dort?«
Skar wußte es nicht. Er wußte ... nichts mehr. Seine so sorgsam aufgebaute und scheinbar so einleuchtende Theorie war zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Er begriff nichts mehr. Er weigerte sich sogar zu glauben, was er sah.
»Sie haben keine Chance«, bemerkte er leise. »Titchs Quorrl werden sie in den Boden stampfen.«
»Ich weiß«, pflichtete Del ihm bei. Seine Stimme bebte. »Aber was -« Er stockte, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und deutete plötzlich aufgeregt nach Osten. »Sie brechen durch!« rief er. »Sieh doch, Skar - sie stoßen durch!«
Er fuhr herum, war mit einem Satz auf der anderen Seite des Ganges und beugte sich über die Brüstung. »Das Tor auf!« brüllte er in den Hof hinab, so laut er konnte. »Öffnet das Tor! Sofort! Bogenschützen auf die Mauer!«
Tatsächlich hatte sich das Bild im Tal abermals verändert. Skar hätte es noch vor Augenblicken kaum für möglich gehalten - aber einem Teil der Reiter war es tatsächlich gelungen, das Lager zu durchqueren und mit hoch erhobenen Schilden und angelegten Speeren einen Korridor mitten durch die Quorrl-Armee hindurch zu schaffen, durch den plötzlich mehr und mehr berittene Gestalten heranstürmten, rot und schwarz gekleidete Satai und Veden, die tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt dahinpreschten und sich unter dem Hagel von Pfeilen und Bolzen duckten, mit dem die Quorrl sie überschütteten.
Und dem ersten Wunder folgte ein zweites. Vielleicht hatten sich die Quorrl noch immer nicht wirklich von ihrer Überraschung erholt, vielleicht war es auch nur die Angst, die den Männern übermenschlichen Mut verlieh - aber die lebende Barrikade hielt. Immer wieder und wieder stürmten die Quorrl gegen die vierfach gestaffelte Reihe aus gepanzerten Reitern an, aber es gelang ihnen nicht, sie zu durchbrechen. Die hoch erhobenen Schilde und vorgereckten Speere der Männer bildeten eine fast undurchdringliche Barriere, und fiel einer von ihnen, so nahm sofort ein Ersatzmann seinen Platz ein.
Del fuhr plötzlich herum und deutete mit einer Kopfbewegung nach unten. Nebeneinander erkämpften sie sich ihren Weg zur Treppe und durch die schier endlose Reihe der Bogenschützen, die auf Dels Befehl hin auf die Mauer zu stürmen begann. Auf halber Strecke sah er Kiina wieder. Sie hockte mit angezogenen Beinen und schmerzverzerrtem Gesicht auf der Treppe und rieb sich das Hinterteil, auf das sie offenbar sehr unsanft gefallen war. Als sie Skar erkannte, lächelte sie wehleidig, stand aber sofort auf und folgte ihm und Del.
Das riesige bronzene Doppeltor war zur Hälfte geöffnet, als Skar und Del den Hof erreichten, und die ersten Reiter galoppierten bereits in den Hof; immer zu dritt oder viert nebeneinander in einer schier endlosen Reihe, die sich den gewundenen Serpentinenpfad vor dem Tor hinaufquälte. Skar hörte Schreie von der Mauer, sah kurz auf und erkannte, daß die Männer dort oben zu schießen begonnen hatten, um den Reitern Deckung zu geben. Del hob die Hand und rief ein paar Befehle, und ein Trupp von fast fünfzig Männern begann, den Satai aus den Sätteln zu helfen und in aller Hast die Tiere wegzubringen, um Platz für die Nachdrängenden zu schaffen. Aber der Hof würde nicht reichen, das wußte Skar. Die Festung war gigantisch, aber sie war auch ein Labyrinth aus Dutzenden unterschiedlich kleiner - aber eben allesamt kleiner - Innenhöfe und Räume, und sie konnten die Tiere nicht so schnell wegbringen, wie neue Truppen hereinstürmten. Außerdem hatten sie allenfalls Platz für zwanzigtausend Männer, aber nicht für zwanzigtausend Pferde, Er lief zurück zur Treppe, griff sich den erstbesten Mann, der ihm in die Quere kam, und deutete nach oben. »Lauf!« befahl er hastig. »Ruf ihnen zu, daß sie absitzen sollen. Die Tiere müssen draußen bleiben!«
Der Mann rannte los, und Skar lief zu Kiina und Del zurück. Er hatte Mühe, zu ihnen durchzudringen, denn der Hof begann sich mit rasender Geschwindigkeit zu füllen. Vorne am Tor entstand bereits das erste Gedränge, und der Einmarsch der Satai verlor allmählich an Schnelligkeit. Das Tor war groß, aber es war wie die gesamte Anlage der Burg dazu gedacht, Männer draußen zu halten, nicht, sie möglichst schnell hindurchzulassen. Skar war klar, daß der Durchbruch des Heeres noch lange nicht gelungen war.
Als er Del erreichte, zerrte dieser gerade einen Veden aus dem Sattel seines scheuenden Pferdes und schüttelte ihn wild. »Was ist in euch gefahren, Kerl?« brüllte er, außer sich vor Zorn. »Wer hat diesen Wahnsinnsbefehl gegeben?!«
Der Mann versuchte zu antworten, aber Dels Griff schnürte ihm die Luft ab. Del beutelte ihn noch ein paarmal, ließ ihn dann einfach fallen und fuhr mit einer wütenden Bewegung herum. Grob packte er einen zweiten Veden am Arm und riß ihn einfach aus dem Sattel.
»Wer ist euer Kommandant?« schrie er. »Wo ist er?«
»Torian, Herr«, antwortete der Vede verstört. »Er ist -«
»Torian?« Del ballte die Faust, als wolle er den Veden schlagen. »Ich übergab Garth der Hand den Befehl über dieses Heer.«
»Er ist tot, Herr«, antwortete der Vede stockend. »Er fiel beim ersten Angriff der Quorrl. Wir -«
»Beim Angriff der Quorrl?« mischte sich Skar ein. »Was soll das heißen?«
»Wo finde ich diesen Torian?« drängte Del, ohne die Antwort des Mannes auf Skars Frage abzuwarten.
Der Vede machte eine hilflose Handbewegung. »Er war unter den ersten, die den Durchbruch erzwangen, Herr«, meldete er. »Ich bin sicher, er sucht euch ebenfalls.«
Del ließ ihn los, sah sich wild um und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten davon, wobei er unentwegt Torians Namen schrie. Kiina wollte ihm folgen, aber Skar hielt sie mit einer Handbewegung zurück und half dem Veden auf die Beine. »Es tut mir leid«, sagte er automatisch. »Del hat es nicht so gemeint. Er war erregt. Wir verstehen nicht, was passiert ist.« Der Vede atmete ein paarmal tief durch, ehe er antwortete. Skar sah erst jetzt, daß er verletzt war, und so in Schweiß gebadet, daß sein Mantel an seinem Rücken klebte. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig.
»Niemand versteht es, Herr«, antwortete er. »Sie haben uns angegriffen, in der Dämmerung.«
»Die Quorrl?« wollte sich Kiina zweifelnd vergewissern. Der Vede nickte und rang abermals nach Atem. »Völlig ohne Warnung. Wir hatten begonnen, das Lager aufzuschlagen, um in der Morgendämmerung weiterzureiten. Sie ... tauchten wie aus dem Nichts auf.«
»Wie viele waren es?« fragte Skar.
»Vier-, vielleicht fünfhundert«, schätzte der Vede nach kurzem Überlegen. »Aber sie hatten Drachen bei sich, und... und sie kämpften wie die Berserker. Mehr als tausend von uns sind gefallen, ehe es uns überhaupt gelang, einen Widerstand zu organisieren.«
»Drachen?« Skar schrie fast.
»Ich habe niemals einen Drachen gesehen, Herr«, fuhr der Vede fort. »Aber es müssen welche gewesen sein. Sie waren gigantisch, zehnmal so groß wie ein Pferd und fast unverwundbar. Sie haben unsere Leute einfach niedergetrampelt, wie Korn. Es waren riesige Bestien -«
»- mit Stacheln und winzigen Augen?« fiel ihm Kiina ins Wort. »Und langen Schwänzen, die sie wie Peitschen führten?« Der Vede starrte sie an. Angst flammte in seinen Augen auf. »Ja. Du kennst diese Ungeheuer?«
»Skrot«, bemerkte Kiina leise und zu Skar gewandt. Ihr Gesicht verlor alle Farbe. »Großer Gott, Skar, weißt du, was das bedeutet?«
Eine einzelne, endlose Sekunde lang starrte Skar Kiina wortlos an, und er spürte selbst, wie auch aus seinem Gesicht alles Blut wich und er erbleichte.
Dann fuhr er auf der Stelle herum und rannte los. »Ich muß Del finden!« schrie er.