18.

Kiina war ihm gefolgt, obwohl er so schnell gelaufen war, daß sie Mühe hatte, überhaupt mit ihm mitzuhalten. Er hatte Titch gesucht, ihn aber inmitten all der Quorrl auf dem Hof nicht gefunden, und war schließlich noch einmal in seine Kammer hoch unter der Spitze des Turmes hinaufgeeilt - diesmal aber wirklich nur, um seine persönlichen Dinge zu holen und - es war nicht viel - in einen kleinen Beutel zu verstauen. Er brauchte kaum zwei Minuten dazu, denn er hatte sich am Morgen nicht die Mühe gemacht, das wiederbeschaffte Diebesgut irgendwie zu sortieren, sondern alles nur aufs Bett geworfen. Als Kiina durch die offengebliebene Tür hereingestürmt kam, war er bereits fertig und auf dem Weg nach draußen, so daß er sie um ein Haar über den Haufen gerannt hätte. Sie benutzte die Gelegenheit, ihn am Arm festzuhalten.

»Du gehst?«

»Ich wollte schon gestern abend gehen«, antwortete Skar. »Daran hat sich nichts geändert.« Er wollte sich losreißen, aber das Mädchen hielt ihn mit einer Kraft fest, die ihn erstaunte. »Alles hat sich geändert, Skar!« stieß sie heftig hervor. »Du mußt Del zur Vernunft bringen, ich flehe dich an!«

»Zur Vernunft?« Skar lachte bitter und machte seinen Arm los, wenn auch sehr viel sanfter, als er es beim ersten Mal versucht hatte. »Das kann ich nicht, Kindchen«, mußte er zugeben. »Du warst doch dabei. Du hast den Hund gesehen.«

»Eben!« fuhr Kiina aufgebracht fort. »Ich begreife deinen Freund nicht! Ich habe ihm alles erzählt. Er hat die Skrot gesehen, und die Errish, die aus Elay kamen. Ich habe ihm erklärt, daß es dort genauso begonnen hat, aber er hört nicht auf mich.«

»So wenig wie auf mich«, sagte Skar. »Aber ich werde nachher noch einmal mit ihm reden, in aller Ruhe. Ich gehe erst morgen, bei Sonnenaufgang. Vielleicht braucht er einfach ein wenig Zeit, um alles zu verarbeiten.«

»Ich fürchte, die hat er nicht«, widersprach Kiina ernst. »Skar, der Wächter ist hier, ich spüre es. Er wird euch alle überwältigen, so, wie er die Errish und ganz Elay überwältigt hat! Du mußt Del zwingen, diese Burg zu verlasen, wenn es sein muß.«

»Zwingen?« Skar schüttelte sanft den Kopf, versuchte zu lächeln. »Das kann ich nicht, Kiina. Und wie auch? Er ist zwar mein Freund, aber er ist auch der Hohe Satai. Niemand kann ihn zu -«

»So wie du«, fiel ihm Kiina barsch ins Wort.

»Was erwartest du jetzt?« fragte Skar. »Eine Kraftprobe zwischen Del und mir?«

»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Kiina. »Skar, es geht um das Leben von fünfhundert Männern! Vielleicht zwanzigtausend, wenn dieser Narr wirklich zuläßt, daß all diese anderen Krieger in die Burg kommen.«

»Ich würde sie verlieren«, befürchtete Skar.

»Nein.« Kiina klang sehr überzeugt. »Das würdest du nicht, Skar. Ich habe mit den Männern gesprochen, die du nur verachtest. Ich weiß, was sie wirklich denken. Sie respektieren Del, aber du bist es, den sie fürchten. Und wenn Respekt und Furcht miteinander streiten, gewinnt immer noch die Furcht.«

Skar antwortete nicht gleich. Er glaubte Kiina, und er war sogar fast davon überzeugt, daß es genau so kommen würde, wie sie behauptete. Aber eine Kraftprobe zwischen Del und ihm? Eine offene Auseinandersetzung zweier Hoher Satai, vor ihren Männern? Was Kiina vorschlug, kam dem Aufruf zu einer Meuterei gleich.

»Mit dem Narren meinst du mich, nehme ich an.«

Kiina fuhr zusammen, als sie Dels Stimme hinter sich vernahm. Auch Skar war ein wenig erschrocken - er hatte Dels Schritte nicht einmal gehört, und die Tür hatte die ganze Zeit über offengestanden, so daß ihre Worte draußen auf dem Korridor deutlich zu verstehen gewesen sein mußten. Skar fragte sich, wieviel Del mitbekommen haben mochte.

»Sie hat recht, Del«, sagte er rasch, bevor Kiina antworten und ihn damit vielleicht noch mehr reizen konnte. »Nicht mit dem Narren, aber mit allem anderen. Ihr müßt hier weg. Bevor das Heer eintrifft.«

»Dann haben wir ja noch Zeit«, antwortete Del spöttisch. »Gerade kam ein Bote. Sie werden es nicht mehr schaffen vor Sonnenuntergang. Das Tauwetter hat das Gelände schwierig gemacht, und sie kommen nicht so schnell von der Stelle, wie ich hoffte. Und die letzten Meilen zur Burg hinauf sind die schwierigsten. Ich habe dem Kommandanten ausrichten lassen, er soll unten am Flußufer lagern.«

»Dann nimm deine Krieger und stoß zu ihnen«, beschwor ihn Skar. »Noch kannst du es.«

»Um dann morgen in aller Frühe weiterzuziehen?« fragte Del. Skar nickte, und Del tat so, als erwöge er den Gedanken für ein paar Augenblicke wirklich. Dann schüttelte er den Kopf. »Selbst wenn ich dir glaubte, Skar - mit welcher Begründung sollte ich die Burg räumen? Die Männer haben einen Weg von tausend Meilen durch Schnee und Kälte hinter sich. Sie sind erschöpft, und der Weg über die Berge ist anstrengend. Die Hälfte von ihnen würde sterben, wenn ich ihnen keine Pause gönnte.«

»Wenn du es tust, sterben sie alle«, prophezeite Skar düster. »Und wie sollte ich diesen Befehl begründen?« fragte Del. »Soll ich ihnen sagen, daß wir vor einem Hund geflohen sind?« Er machte eine abwehrende Handbewegung, als Skar widersprechen wollte. »Ich habe meine besten Männer auf das Problem angesetzt«, fuhr er fort. »Dazu ein Dutzend von Titchs ... Zauberern, wenn du sie so nennen willst. Die Krieger durchsuchen die Burg von einem Ende zum anderen. Und ich verspreche dir, daß wir diese Festung schneller verlassen, als du deinen Namen buchstabieren kannst, wenn sie auch nur eine Spur dieses Netzes finden.«

»Das werden sie nicht«, antwortete Skar. »Es ist bereits in ihnen, Del. In uns allen.«

Del lachte, aber es klang ein ganz kleines bißchen unsicher. »Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage«, antwortete Skar zornig. »Du spürst es doch auch. Wir alle spüren es, Del. Es ist... überall. Es hat uns bereits vergiftet. Wenn du es erst siehst, dann ist es zu spät! Spürst du den Zorn denn nicht?«

»Ja«, antwortete Del hart. »Aber er gilt eher dir, alter Mann.« Er starrte Kiina an. Seine Augen blitzten. »Und dir, du Närrin! Ich werde nicht zulassen, daß ihr beide mit euren verrückten Ideen noch mehr Unheil stiftet.«

»Es ist die Wahrheit«, widersprach Kiina trotzig. »Es ist genau, wie Skar sagt. In Elay war es dasselbe. Zuerst der Sieg, dann der Zorn. Und am Schluß kam der Wächter.«

»Aber sicher doch«, spottete Del. »Wahrscheinlich ist er in Wirklichkeit eine Art Seelenvampir, der sich von unserer Wut ernährt, wie?«

»Genau das ist er«, antwortete Skar. »Begreif doch, Del - er wird stärker, je stärker unsere Wut wird. Und umgekehrt nährt er sie.«

Del verzog die Lippen zu einem abfälligen Lächeln. »Eine interessante Theorie. Übrigens war ich gerade unten auf dem Hof und habe Titch gesucht. Er verläßt uns.«

»Seine Krieger räumen die Burg, um -«

»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Del. »Er geht. Er hat das Kommando über das Heer bereits auf einen seiner Stellvertreter übertragen. Und ich sehe, du hast auch gepackt?«

»Das stimmt«, antwortete Skar. »Und?«

»Und ich habe auch mit den Torwachen gesprochen«, fuhr Del fort. »Sie behaupten, ihr wart zu zweit, als ihr wiedergekommen seid? Aber ihr seid zu acht aufgebrochen. Was ist dort unten an den Felsen wirklich geschehen?«

»Nichts«, antwortete Skar ausweichend. »Oder doch. Ich ... ich habe erkannt, daß es falsch ist, was wir tun.«

»Uns wehren?«

»So, ja«, antwortete Skar verärgert. Er spürte es wieder. Zorn machte sich in ihm breit, dann Wut, die er nur noch mit Mühe beherrschen konnte. Er war seit kaum einer Stunde zurück in der Festung, und schon begann er, ihrem üblen Einfluß erneut zu erliegen. Mit aller Macht zwang er sich, wenigstens einigermaßen beherrscht weiterzusprechen. »Ich werde Titch begleiten«, fuhr er fort. »Ich glaube, daß euer Weg falsch ist. Ich werde tun, was ich von Anfang an hätte tun sollen.«

»Und das wäre?« fragte Del lauernd.

»Das, was Drask mir geraten hat. Er hatte recht, Del - dieser Krieg ist nicht mit der Waffe zu gewinnen. Ich werde die Sternengeborenen suchen und mit ihnen reden.«

»Oh, mehr nicht?« fragte Del spöttisch. »Du willst die Welt wieder einmal ganz allein retten, wie? Skar, der Mann, der mit den Göttern spricht.«

»Vielleicht sind sie es ja gar nicht«, warf Kiina ein.

Del ignorierte sie. Er starrte Skar sekundenlang fast haßerfüllt an, dann seufzte er, schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus. »Gib mir dein Schwert.«

Skar blinzelte verwirrt. »Mein ... Schwert?«

»Das Zeichen des Hohen Satai, ja«, antwortete Del hart. »Du selbst hast mir deinen Mantel vor die Füße geworfen, erinnerst du dich? Jetzt gib mir das Schwert zurück, das dazu gehört. Ich habe dich zum Hohen Satai gemacht, ich kann dir dieses Amt auch wieder nehmen.«

Skar legte die Hand auf den Schwertgriff, aber er tat es in einer Bewegung, die ganz eindeutig nicht dazu diente, Del die Waffe auszuhändigen. »Warum nimmst du es dir nicht?« fragte er. Del lächelte, als hätte er ganz genau diese Reaktion erwartet. »Nein«, entgegnete er. »Ich werde dir nicht den Gefallen tun, mit dir zu kämpfen, alter Freund.« Er klatschte in die Hände und trat gleichzeitig zur Seite. In der Tür hinter ihm erschienen zwei Satai-Krieger. In ihren Händen lagen gespannte Armbrüste. Skar keuchte. »Das ... das wagst du nicht«, stieß er hervor. »Du läßt mich nicht töten!«

»Natürlich nicht«, antwortete Del. Er deutete auf Kiina. »Aber ich lasse sie töten, wenn du auch nur eine verdächtige Bewegung machst, Skar.«

»Del, du -«

»Ich lasse nicht zu, daß du noch mehr Schaden anrichtest«, unterbrach ihn Del. »Dein Schwert!«

Skar starrte ihn fassungslos an. Er weigerte sich einfach zu glauben, was er sah und hörte. »Del!« rief er beschwörend. »Was geschieht mit dir? Du -« Seine Stimme versagte. Er wußte, daß es sinnlos war weiterzusprechen. Zögernd, sehr vorsichtig, um Kiina nicht zu gefährden, zog er das rubingeschmückte Tschekal aus der Scheide, drehte es herum und reichte es Del.

»Und jetzt?« fragte er. »Läßt du uns in Ketten legen?«

»Ihr dürft euch frei in diesem Turm bewegen«, gab ihm Del zur Antwort. »Aber ich verbiete euch, ihn zu verlassen oder mit irgend jemandem zu reden.«

»Und wie lange willst du uns hier festhalten?«

»So lange es nötig ist«, antwortete Del. »Ich stimme in einigen Punkten mit dir überein. Auch ich will hier weg, so schnell es geht. Das Heer wird sich ausruhen, einen Tag, zwei, allerhöchstens drei. Sobald wir weiterziehen, bist du frei. Meinetwegen kannst du dann zum Ende der Welt reisen und einen Gott suchen, mit dem du reden kannst, du Narr!«

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