11.

Von den Eisinseln des Dronte und aus einem Land, zwanzig Jahre und ein Menschenleben in der Vergangenheit gelegen, kehrte er zurück ins Hier und Jetzt, weil ihn zweierlei Dinge weckten: ein im ersten Moment undefinierbares Geräusch, das mit einer Ahnung von Gefahr verbunden war, und das gleichmäßige Streicheln warmer Atemzüge an seinem Hals. Erst danach spürte er die Berührung von seidenweichem Haar auf seinem Gesicht und die Wärme eines schlafenden Körpers an seiner rechten Seite.

Skar öffnete die Augen, blickte einen Moment lang irritiert auf das schlanke blonde Mädchen herab, das sich im Schlaf an ihn gekuschelt und den Arm über seine Brust gelegt hatte, und begriff erst mit einiger Verspätung, wo er sich befand und was geschehen war: Es war nichts weniger Harmloses als der einfache Umstand, daß er eingeschlafen war, irgendwann inmitten seiner Erzählung, und Kiina, müde und naiv, wie sie nun einmal mit ihren sechzehn Jahren war, hatte sich neben ihn gelegt - und warum auch nicht? Er hätte ihr Vater sein können, und auf einer schwer in Worte zu fassenden immateriellen Ebene war er es wohl auch, wenigstens ein bißchen. Und trotzdem war es ihm peinlich, so neben ihr aufzuwachen. Behutsam, um Kiina nicht zu wecken, nahm er ihren Arm von seiner Schulter, schob sich ein wenig zur Seite und knuffte mit der freien Hand sein Kissen zusammen, um es vorsichtig unter ihre Wange zu legen, dorthin, wo gerade noch sein Gesicht gewesen war. Kiina bewegte sich unruhig im Schlaf, und für einen Moment hatte er Angst, daß sie aufwachen könnte. Aber dann drehte sie sich nur herum, zerrte mit einer groben Bewegung die Decke heran und wickelte sich darin ein. Skar lächelte. Ein sonderbares Gefühl von Zärtlichkeit überkam ihn, und er mußte mit großer Kraft gegen den Impuls ankämpfen, die Hand zu heben und ihr über den Kopf zu streicheln.

Erst in diesem Moment fielen ihm die Geräusche wieder ein, die ihn geweckt hatten. Sie waren noch immer da, und wenn sie auch nach wie vor undeutlich und nicht zu identifizieren waren, so hatten sie doch nichts von ihrer Bedrohlichkeit verloren. Leise, aber sehr schnell stand er auf, trat ans Fenster und blickte auf den Hof hinab. Der Lärm nahm zu, und im gleichen Moment wußte er auch, was es gewesen war, das ihn so beunruhigt hatte. Es mußte nach Mitternacht sein, seinem Gefühl nach, aber der Burghof unter ihm war in helles Licht getaucht. Zahllose Feuer brannten, und an einer Stelle unweit der gegenüberliegenden Mauer hatte sich ein großer Kreis blakender Fackeln gebildet, der in beständiger unruhiger Bewegung war. Schreie gellten zu Skar hinauf, unterbrochen von metallischem Klirren und dem wütenden Knurren und Bellen der Hunde. Skars Kammer lag gute hundert Meter über dem Hof, fast unter der Spitze des Turmes und entschieden zu hoch, ihn mehr als bloße Bewegung erkennen zu lassen. Aber er war lange genug Krieger gewesen, um zu wissen, was dort unten geschah.

Mit einem nur noch halb unterdrückten Fluch fuhr er herum, raffte im Vorbeigehen Mantel und Waffengurt vom Stuhl und band beides um, während er die Kammer verließ und auf die Treppe zuhastete. Er lief so schnell, daß er auf den Stufen ausglitt und sich gerade noch an der Wand abstützen konnte, um einen Sturz zu vermeiden. Trotzdem brauchte er endlose Minuten, um die gewendelte Treppe hinunterzustürmen und den Hof zu erreichen. Der Lärm hatte sich in einen vielhundertstimmigen Chor aus Schreien und anfeuernden Rufen verwandelt, als er auf den Hof hinausrannte. Er hörte jetzt deutlich das Klirren von Stahl. Skar trat einen Schritt weit auf den Hof hinaus, blieb stehen und sah sich nach den Wächtern um, welche die Aufgabe hatten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Er entdeckte einen von ihnen - oder, genauer gesagt, das, was von ihm übrig war: Der Mann lag stöhnend in einer Nische neben der Tür, mit blutüberströmtem Gesicht und den zerbrochenen Resten seines Speeres in den Händen. Die Spitze samt einem halben Meter des Schaftes steckten in seinem Oberschenkel.

Skar kniete neben dem Mann nieder, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß die große Arterie in seinem Bein nicht verletzt war, und zog den Speer mit einem Ruck aus der Wunde. Der Mann schrie vor Schmerz auf, aber sein Blick war klar, als er zu Skar aufsah.

»Danke, Herr«, sagte er. »Ich -«

»Was ist passiert?« unterbrach ihn Skar. »Wer hat das getan?«

»Sie kämpfen, Herr«, antwortete der Mann mühsam. Sein Gesicht war grau vor Schmerz. Feiner, eiskalter Schweiß perlte von seiner Stirn und vermischte sich mit den Tränen, die aus seinen Augen liefen. »Unsere Leute gegen ... Quorrl. Ich ... weiß nicht, warum. Wir haben versucht, sie auseinanderzubringen, aber sie... sie haben uns angegriffen.«

»Wer?« fragte Skar scharf.

Der Wächter antwortete nicht auf seine Frage. »Die anderen sind ... sind tot, Herr«, stöhnte er.

Skar warf einen weiteren besorgten Blick auf seine Wunde. Sie blutete stärker, jetzt, nachdem er die Klinge herausgezogen hatte. Aber sie war nicht lebensgefährlich. »Schaffst du es allein?« fragte er.

Der Mann nickte mit zusammengebissenen Zähnen, und Skar stand auf. »Laß dein Bein versorgen«, gebot er. »Ich rede später mit dir.« Rasch wandte er sich um und begann, sich auf den Quell des Kampfgeräusches zuzubewegen. Aber obwohl er sich rücksichtslos durch die Menge drängte und schließlich sogar sein Schwert zog, um sich mit der stumpfen Seite der Klinge den Weg zu bahnen, brauchte er fast fünf Minuten, um den Kreis aus Fackelträgern zu erreichen, die den Kampfplatz umgaben. Und was er sah, übertraf selbst seine schlimmsten Erwartungen - er hatte genug Erfahrung im Kriegshandwerk, um zu wissen, daß Auseinandersetzungen zum Alltag eines Heerlagers gehörten; aber was hier geschah, hatte nichts mehr mit einem normalen Kampf oder auch einer ordinären Schlägerei gemein.

Es war eine regelrechte Schlacht, bei der sich gut zwanzig Satai auf der einen und ein gehöriges Dutzend Quorrl auf der anderen Seite gegenüberstanden, verstärkt durch eine ganze Meute der schwarzen Kampfhunde, die knurrend und geifernd ihre jeweiligen Gegner angingen. Eine fast ebensogroße Anzahl regloser Gestalten am Boden bewies, daß der Kampf schon eine geraume Weile tobte.

Skar stand eine Sekunde wie erstarrt da und blickte auf das Durcheinander ringender Körper, dann stieß er den vor ihm stehenden Mann zur Seite, hob das Tschekal und sprang mit einem Satz unter die Kämpfenden. Seine Klinge schlug zwei ineinander verbissene Schwerter auseinander, zwang den Quorrl und seinen menschlichen Gegner gleichzeitig, ein Stück zurückzuweichen, und tötete noch in der gleichen Bewegung einen Hund, der sich in den Arm eines kleinwüchsigen Quorrl verbissen hatte. Ein Schatten sprang auf ihn zu, Metall blitzte. Skar wich der Klinge im letzten Moment aus, brachte den Angreifer mit einem blitzschnellen Tritt gegen das Knie aus dem Gleichgewicht und schlug ihm den Ellbogen gegen die Schläfe, als er neben ihm in die Knie sank. Der Quorrl kippte haltlos zur Seite und blieb stöhnend liegen.

»Aufhören!« schrie Skar. »Sofort aufhören! Ich befehle es!« Er war sicher, daß seine Stimme gehört worden war - aber niemand reagierte. Neben ihm brach ein Satai schreiend zusammen und umklammerte die blutenden Stümpfe seiner Finger, die ihm einer der Hunde abgebissen hatte. Skar schlug dem Tier die flache Seite der Klinge über die Schnauze, erwehrte sich der blindwütigen Hiebe eines weiteren Quorrl und schrie noch einmal: »Hört auf zu kämpfen! Ich lasse jeden hinrichten, der nicht sofort gehorcht!«

Der Kampf ging zwar weiter, aber er begann zu erlahmen. Die anfeuernden Rufe aus der Menge waren schon lange verstummt, und ein paar der Männer, die in seiner unmittelbaren Nähe standen, lösten sich zögernd von ihren Gegnern und senkten ihre Waffen. Auf der anderen Seite der improvisierten Arena tobte das Gemetzel mit unverminderter Heftigkeit weiter.

Skar hob wütend sein Schwert, war mit zwei, drei raschen Schritten bei den Kämpfenden und warf sich zwischen zwei Satai und einen Quorrl, die verbissen aufeinander einschlugen. Mit einem gewaltigen Hieb schmetterte er dem Quorrl die Waffe aus der Hand und schleuderte ihn gleichzeitig zu Boden, dann fuhr er herum und parierte den Schwertstreich eines der beiden Satai. Der Mann taumelte zurück, holte zu einem weiteren Schlag aus - und erstarrte mitten in der Bewegung, als er ihn erkannte. Sein Kamerad nicht. Skar war hundertprozentig sicher, daß auch er wissen mußte, wem er gegenüberstand - wenn schon nicht sein Gesicht, so war doch zumindest sein schwarzer Mantel jedem im Lager bekannt. Aber er senkte seine Waffe nicht, sondern griff Skar im Gegenteil mit einem drohenden Knurren an. Seine Klinge zuckte in einem geraden, sehr schnellen Stich nach Skars Gesicht; gleichzeitig versuchte er, ihm die Beine unter dem Leib wegzutreten.

Skar parierte den Schwerthieb nicht, sondern sprang ein Stück zur Seite und in die Höhe, war plötzlich neben und eine halbe Sekunde später hinter dem Mann und packte seinen Schwertarm. Ein unglaublicher Zorn machte sich in ihm breit. Mit einer einzigen, wütenden Bewegung brach er dem Mann den Arm, schleuderte seinen Gegner zu Boden und warf sich auf ihn. Seine linke Hand krallte sich in das Haar des Satai und riß seinen Kopf zurück, während er die rechte zum tödlichen Hieb gegen seine Kehle ballte.

Aber er schlug nicht zu.

Er wollte es. Alles in ihm schrie danach, den Satai zu töten, den Trotz und Zorn in dessen Blick mit einem einzigen Hieb zum Erlöschen zu bringen. Aber er tat es nicht. Skar erstarrte wie eine Puppe mitten in der Bewegung. Aus der Wut in den Augen des Satai wurde pure Angst, dann Entsetzen, aber der Anblick steigerte die schreckliche Mordlust in Skar nur noch. Töte ihn! schrie eine unhörbare Stimme in ihm. Töte ihn! Er hat dich angegriffen! Er hat den Hohen Satai angegriffen! D mußt U ihn töten! TU ES!

Skar stöhnte. Die Wut in seinem Inneren verrauchte, ganz ganz allmählich nur, aber er spürte, wie das böse verlockende Flüstern leiser wurde, und ganz langsam senkte er die Hand wieder. Was war das? dachte er entsetzt. Wirklich nur der Zorn über diesen unerhörten Angriff? Oder sein Dunkler Bruder, die Bestie in seinem Inneren, die nach zwei Jahrzehnten wieder Blut geschmeckt und zu neuer schrecklicher Präsenz erwacht war? Er gewahrte, wie der Kampf rings um ihn herum endgültig aufhörte und alles ihn anstarrte, ließ auch das Haar des Satai los, murmelte ein Wort der Entschuldigung, das viel mehr ihm selbst als dem Krieger galt, und wollte aufstehen. Aber er kam nicht dazu.

Plötzlich erscholl hinter ihm ein tiefes, wütendes Knurren. Skar sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln, hob instinktiv die Arme, um sein Gesicht und die Kehle zu schützen - und fiel rücklings über den Satai, als der Hund ihn wie eine lebendes Geschoß aus hundert Pfund Muskeln und Knochen ansprang. Fingerlange Zähne schnappten nach seiner Kehle und fetzten Blut und Haut aus seinen Händen, dann bohrte sich ein entsetzlicher Schmerz in seinen rechten Unterarm. Skar schrie auf und versuchte, die Beine an den Körper zu ziehen, um den Hund von sich wegzuschleudern, aber das Tier wich seiner Bewegung fast spielerisch aus. Es war diese Art des Kämpfens gewohnt; schließlich hatte man es sein Leben lang darauf trainiert, mit Gegnern wie ihm fertig zu werden.

Skar bog verzweifelt den Kopf zur Seite, als sich die Zähne des Kampfhundes aus seinem Arm lösten und nach seinem Gesicht schnappten. Blindlings schlug er zu, traf aber nur den harten Stirnknochen des Hundes; ein Hieb, der weh tat, die Wut des Tieres aber nur noch steigerte. Diesmal gruben sich die Zähne des Ungeheuers tief in seine rechte Schulter. Skar stürzte zum zweiten Mal nach hinten, und dieses Mal hatte er nicht mehr die Kraft, sich in die Höhe zu stemmen. Dutzende von Gestalten umgaben ihn, Menschen wie Quorrl, aber niemand machte auch nur den Versuch, ihm zu Hilfe zu kommen.

Der Hund fiel mit einem schrillen Heulen über ihn her, schnappte nach seiner Kehle und versuchte, ihn mit den Pfoten in die Augen zu treffen. Skar schlug ihm gegen die Schnauze, spürte, wie einer der langen, spitzgefeilten Reißzähne abbrach und bekam das Fell unter seinem Hals zu fassen. Mit aller Kraft zerrte er daran, brachte den Hund mit einem verzweifelten Ruck aus dem Gleichgewicht und tastete mit der freien Hand nach seinem Schwert.

Ein schwarzer Stiefel trat nach dem Griff des Tschekal. Die Waffe verschwand klappernd zwischen den Beinen der Zuschauer. Skar schrie vor Wut und Enttäuschung auf, war aber geistesgegenwärtig genug, auch mit der zweiten Hand zuzupacken, als der Hund seinen Griff zu sprengen drohte. Seine Finger gruben sich so tief in den Hals des mächtigen Tieres, daß Blut aus seinem Fell sickerte.

Trotzdem fühlte er, daß er den Kampf verlieren würde. Der Hund raste vor Mordlust, und seine Kraft war einfach größer als seine eigene. Skar trat zwei-, dreimal hintereinander mit dem Knie zu und spürte, wie eine Rippe des Hundes brach. Das Tier heulte schrill - und seine Fänge näherten sich weiter Skars Gesicht. Sein Atem war heiß und roch nach Blut und Verwesung. Und plötzlich war ein zweiter, noch größerer Schatten über ihm. Eine schuppige Hand packte den Hund, riß ihn scheinbar mühelos von Skar herunter und brach ihm noch in der gleichen Bewegung das Genick.

Skar schloß aufatmend die Augen, blieb eine Sekunde reglos mit zitternden Gliedern liegen und begann sich dann sehr vorsichtig zu erheben. Eine riesige Krallenhand streckte sich ihm entgegen. Er ergriff sie, ließ sich von dem Quorrl in die Höhe ziehen und erkannte erst dann das flache, grüngeschuppte Gesicht des Barbarenkriegers, der ihn gerettet hatte.

»Titch!« rief er überrascht aus. »Du?«

»Jemand mußte dir ja helfen, nicht wahr?« spöttelte Titch. »Deine eigenen Leute wollten es ja offensichtlich nicht.« Er wurde übergangslos ernst, drehte sich herum und fuhr den erstbesten Quorrl an, den er sah: »Was ist hier geschehen?«

»K'scherian«, begann der Quorrl, »essha -«

»Sprich so, daß man dich versteht, Kerl!« unterbrach ihn Titch wutentbrannt, und noch immer in der Hochsprache Enwors. Skar begriff, daß Titch wollte, daß er jedes Wort verstand. Der Krieger schrumpfte unter Titchs Blick sichtlich in sich zusammen. »Die Satai haben uns angegriffen, Herr, und -« Titchs Schlag kam so schnell, daß nicht einmal Skar ihn sah. Der Quorrl keuchte, taumelte einen Schritt zurück und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er war tot, noch bevor er zur Seite fiel und auf dem Boden aufschlug.

»Nicht!« rief Skar erschrocken. Titch fuhr herum und funkelte ihn zornig an, und Skar fügte mit einem raschen Verziehen der Lippen hinzu: »Es geht mich nichts an, ich weiß - aber wir erfahren nicht, was passiert ist, wenn du deine Leute umbringst, ehe sie es uns sagen können.«

Titch antwortete nicht darauf, sondern blickte ihn nur weiter aufgebracht an, und Skar gewann ein paar Sekunden, indem er sich nach seinem Schwert bückte und es wieder in den Gürtel schob. Die Männer, denen er dabei nahe kam, wichen fast angstvoll vor ihm zurück. Er fragte sich, ob der dabei war, dem ein gewisser Stiefel gehörte.

Als er sich wieder aufrichtete und zu Titch umdrehte, bemerkte er, daß der Quorrl nicht allein gekommen war, sondern in Begleitung seiner Leibgarde, eines guten halben Hunderts Quorrl, die jetzt allerdings nicht mehr die prachtvollen Metallrüstungen vom Nachmittag trugen, sondern in schwarze Harnische aus Leder und eisenhartem Holz gehüllt waren. Dazu trugen sie dunkelrote Mäntel, die bei der schlechten Beleuchtung aber ebenfalls schwarz aussahen, und flache, sehr wuchtige Helme, die ihre Gesichter fast vollständig verdeckten. Die Krieger hatten einen zweiten, undurchdringlichen Ring hinter dem Kreis aus Fackeln gebildet, und einige von ihnen begannen auf einen wortlosen Wink Titchs hin, jene Quorrl zusammenzutreiben, die an dem Kampf gegen die Satai beteiligt gewesen waren. Skar sah ihnen einen Moment dabei zu, ehe er sich an seine Leute wandte. »Also«, fragte er laut. »Wer war dabei?« Als niemand antwortete, wandte er sich an einen Mann, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden hockte und seinen blutenden Arm umklammerte. »Du da! Soll ich dich gleich hier auf der Stelle erschlagen, oder nennst du mir die Namen der anderen?«

Der Mann starrte ihn an, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war eher Trotz als Respekt, so daß Skar sich daran machte, die Männer selbst zu identifizieren. Es war keine sehr schwere Aufgabe - kaum einer der Satai, die am Kampf gegen die Quorrl teilgenommen hatten, war gänzlich ohne Verletzungen davongekommen, und schon nach wenigen Augenblicken stand Skar eine Reihe von fast zwanzig Männern gegenüber. Er suchte vergeblich nach irgendeinem Zeichen von Einsicht oder Reue in den harten, schweißglänzenden Gesichtern.

»Ihr wißt, daß ich euch dafür töten lassen könnte«, eröffnete er ihnen. »Hier auf der Stelle, ohne ein weiteres Wort.«

»Es waren die Quorrl, die angefangen haben, Herr«, rief einer der Männer. »Wir haben uns nur verteidigt, und -«

Skar schlug ihm mit der flachen Hand über den Mund, und der Mann verstummte abrupt. In seinen Augen blitzte Zorn. »Ich will nicht wissen, wer den Kampf begonnen hat«, sagte Skar laut. »Es interessiert mich auch nicht, was passiert ist.«

»Aber Herr!« protestierte ein anderer Satai. »Ihr könnt nicht -«

»Ich kann, und ich werde«, unterbrach ihn Skar hart. »Geht und laßt eure Wunden versorgen. Und danach erwarte ich euch in Dels Quartier. Alle, ohne Ausnahme.«

Er spürte, daß seine Worte nicht die Wirkung hatten, die sie hätten haben sollen. Sie erfüllten die Männer mit Furcht, auch mit Zorn, aber keiner von ihnen schien auch nur zu begreifen, was er getan hatte. Vielleicht, überlegte Skar, war er ungerecht. Womöglich war es wirklich nicht ihre Schuld gewesen. Er wußte, daß die Dinge manchmal ein Eigenleben entwickelten, gegen das man hilflos war. Trotzdem.

»Geht!« befahl er noch einmal, und sehr viel lauter. »Es sei denn, ihr legt Wert darauf, in Ketten abgeführt zu werden!« Das wirkte. Die Männer setzten sich widerwillig in Bewegung, wobei die Unverletzten ihre verwundeten Kameraden stützten oder auch trugen. Zwei der Männer waren tot, wie Skar feststellte, einer von einem Axthieb fast in zwei Hälften gespalten, der andere offensichtlich von einem Hund zerfetzt.

Der Anblick erinnerte ihn wieder an sein eigenes Beinahe-Schicksal. Schaudernd wandte er sich um und schaute auf den Kadaver des Hundes herunter, dem Titch das Genick gebrochen hatte. Es war eine riesige Kreatur. Selbst im Tode strahlte sie noch etwas Bedrohliches aus.

»Ein herrliches Tier, nicht wahr?« ließ sich Titch neben ihm vernehmen. Skar blickte auf, sah einen Moment in die schmalen Augen des Quorrl und zog eine Grimasse.

»Mir kam es nicht ganz so herrlich vor«, antwortete er.

Titch lachte leise. »Was willst du? Es hat getan, wozu es ausgebildet wurde. Verachtest du das Schwert, das dich tötet, oder den Arm, der es führt?« Er hob die Hand, als Skar widersprechen wollte. »Du solltest dir Gedanken um deine Schulter machen, statt um einen toten Hund«, fügte er hinzu. »Sie blutet.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, meldeten sich die beiden Bißwunden in seinem Arm und der Schulter mit klopfenden Schmerzen zurück. Skar tastete mit spitzen Fingern danach und stellte fest, daß sie harmlos waren. Aber sie schmerzten heftig, und es würde ein paar Tage dauern, bis er die Schulter wieder uneingeschränkt bewegen konnte.

Titchs Blick war seiner Handbewegung gefolgt. Jetzt sah er kopfschüttelnd auf das Blut auf Skars Fingerspitzen herunter. »Mein Leibarzt wird sich um deine Verletzungen kümmern«, bot er an. »Wenn du es erlaubst, daß dich ein Quorrl anrührt, Satai.« Skar schürzte ärgerlich die Lippen. Er hatte Titchs Anerbieten tatsächlich ablehnen wollen, aber das konnte er jetzt nicht mehr. Außerdem war es vielleicht eine gute Gelegenheit, mit dem Quorrl zu reden. Er hätte es längst tun sollen.

Nebeneinander verließen sie den Hof. Diesmal mußte Skar sich nicht mit Gewalt seinen Weg freikämpfen, denn Titchs Quorrl hatten eine Gasse für sie geschaffen, die niemand zu betreten wagte. Trotzdem hatten die wenigen Dutzend Schritte etwas von einem Spießrutenlauf an sich; Skar spürte die vorwurfsvollen, ja, feindseligen Blicke wie glühende Messer, und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was die Männer beim Anblick ihres Kommandierenden empfinden mochten, der neben einem Quorrl den Hof verließ - nachdem er zwei seiner eigenen Krieger niedergeschlagen und die andern schmählich gefangengenommen hatte. Manchmal beneidete er Titch um die sklavische Ergebenheit seiner Krieger.

Titch war einer der wenigen Quorrl, die ein Quartier in der Burg hatten: einen sehr großen, nach einer Seite zu einem der zahllosen Innenhöfe der Burg hin offenen Raum, der so spartanisch eingerichtet war, wie Skar es von einem Quorrl erwartet hatte. Die einzige Bequemlichkeit war ein weiches, sehr breites Bett, auf das er Skar fast mit Gewalt niederstieß, damit sich sein Leibarzt Skars Verletzungen ansehen konnte.

Die Prozedur war sehr schmerzhaft, denn der Quorrl mochte viel von der Heilkunst verstehen, aber er war Patienten gewohnt, die dreihundert Pfund wogen und eine Haut hatten, die kaum weniger fest als Eisen war. Trotzdem ließ Skar alles mit zusammengebissenen Zähnen und klaglos über sich ergehen, und als der Quorrl fertig war, fühlte er sich tatsächlich besser. Sein Arm und die Schulter waren mit einer grauen, übelriechenden Salbe beschmiert und anschließend so dick verbunden worden, daß er sie kaum noch bewegen konnte. Aber die Schmerzen waren verschwunden, und dafür hatte sich ein taubes Gefühl in seinen Gliedern breitgemacht.

Titch schickte den Arzt weg und goß Wein aus einem tönernen Krug in zwei zierliche Becher, als Skar aufstand. Skar nahm das Getränk wortlos entgegen und kostete. Es war süß und sehr schwer; er würde nicht mehr als diesen einen Becher trinken dürfen, wollte er am nächsten Tag keinen schweren Kopf haben. »Fühlst du dich besser?« fragte Titch. Die Frage kam Skar so überflüssig vor, daß er den Quorrl einen Augenblick lang verwirrt ansah, ehe er begriff, daß Titch nur nach einer Möglichkeit suchte, das Gespräch zu eröffnen. Er hatte nicht viel Übung in Konversation.

»Ja«, antwortete er. »Dein Mann hat ein kleines Wunder vollbracht.« Er lächelte unsicher. »Ich wußte gar nicht, daß ihr so gute Ärzte habt.«

»Wer viele Wunden schlägt, der weiß auch, sie zu heilen«, entgegnete Titch. Skar war sich nicht sicher, ob die Worte spöttisch oder ernst gemeint waren. Titch verwirrte ihn immer mehr. Je besser er ihn kennenzulernen glaubte, desto weniger verstand er ihn.

»Ich danke dir jedenfalls noch einmal, daß du mich gerettet hast«, sagte er. »Aber gestattest du mir eine Frage?«

Titch nickte, und Skar fuhr fort: »Warum hast du es getan?«

»Warum?«

Skar nippte an seinem Wein. Mit dem zweiten Schluck begann er besser zu schmecken, aber Skar spürte auch bereits ein leises Gefühl von Beschwipstheit. Der Wein mußte zu fast hundert Prozent aus Alkohol bestehen, dessen Geschmack nur verändert worden war. Behutsam stellte er den Becher auf den Tisch, ehe er weitersprach. »Wir waren bisher keine Freunde«, begann er vorsichtig. »Ich habe deinen Bruder getötet, und ich habe dich gedemütigt, vor deinen Leuten. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte ich mir überlegt, ob es nicht eine bequeme Möglichkeit gewesen wäre, mich loszuwerden.«

»Und einen Krieg zwischen unseren Leuten zu riskieren?«

»Es war ein Satai, der den Hund auf mich gehetzt hat«, erinnerte Skar.

»Und es war ein Satai, der dein Schwert wegstieß«, fügte Titch ungerührt hinzu. »Ich weiß. Ich habe alles gesehen. Aber welchen Unterschied hätte das gemacht? Wie hätte dein Freund darauf reagiert, der andere Hohe Satai, wenn man ihm berichtet hätte, daß du tot bist? Wenn er erfahren hätte, daß du dich in einen Kampf zwischen Quorrl und Satai eingemischt und dabei den Tod gefunden hast?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Vielleicht werde ich dich eines Tages töten, Satai«, sagte er sehr ernst und ohne die mindeste Spur irgendeiner Drohung. Es war eine reine Feststellung. »Aber wenn, dann wird es ein Kampf nur zwischen uns beiden sein. Warum sollen zwei Völker untergehen, nur weil zwei Männer sich streiten?«

»Es ist wegen Trash, nicht wahr?« fragte Skar. »Er war dein Bruder.«

»Und mein Vater«, fügte Titch hinzu.

Skar blickte überrascht auf. »Wie -«

»Er war der Sohn meiner Mutter«, erklärte Titch. »Und zugleich mein Vater. Alles, was ich weiß, habe ich von ihm gelernt.« Er sah Skar plötzlich fast erwartungsvoll an. »Schockiert dich das, Mensch?« fragte er.

»Ein ... wenig«, gestand Skar. »Ich wußte nicht, daß -«

»Was?« unterbrach ihn Titch. »Was wußtest du nicht, Satai? Befremdet es dich etwa, daß der Sohn einer Quorrl mit ihr ein Kind zeugt? Das verstehe ich nicht. Ihr haltet uns doch für Tiere. Ihr laßt doch keine Gelegenheit aus, uns zu demonstrieren, wie barbarisch wir sind und wie zivilisiert und edel ihr.«

»Du bist verbittert«, warf Skar ein.

Titch leerte mit einer wütenden Bewegung seinen Becher und füllte ihn wieder auf. »Nein«, widersprach er heftig. »Du verstehst nichts, Satai, gar nichts. Für euch sind wir doch nur Barbaren, primitive Wilde, die ihr verachtet. Hätten wir weiches Fell statt Schuppen, würdet ihr uns streicheln und uns Ketten um die Hälse binden, damit eure Kinder auf uns reiten können.« Er leerte auch seinen zweiten Becher, streckte die Hand aus, um ihn wieder aufzufüllen, und zog sie dann wieder zurück. Ganz plötzlich wirkte er betroffen über seine eigene Entgleisung. »Es ist spät«, sagte er plötzlich. »Du solltest gehen. Wir müssen morgen früh auf, und ich bin sicher, dein Freund Del hat noch mit dir zu reden.«

Das war nicht der wahre Grund. Titch bedauerte seine Worte, und er wollte, daß Skar ging, ehe er noch mehr sagen konnte, was ihm hinterher vielleicht leid täte. Trotzdem zögerte Skar nicht, seinen Mantel überzustreifen und sich zur Tür zu wenden. Aber er blieb noch einmal stehen, ehe er den Raum verließ. »Da ist noch etwas, was mir nicht aus dem Kopf geht, Titch«, sprach er ihn nochmals an.

Der Quorrl wandte sich widerwillig zu ihm um. »Ja?«

»Etwas, das du heute morgen gesagt hast«, fuhr Skar fort. »Du hast geäußert, alle diese Krieger wären bereits tot. Was hast du damit gemeint?«

Titch zögerte, und Skar begriff, daß er abermals ein Thema angesprochen hatte, über das der Quorrl nicht gerne sprach. Aber dann antwortete er doch. »Nur ein Gefühl, Satai. Es war nur ein Gefühl. Keiner von uns wird zurückkehren.«

»Das glaubst du wirklich?« fragte Skar. »Keine besonders gute Voraussetzung, um einen Krieg zu gewinnen, oder?«

»Wir werden ihn gewinnen«, versicherte Titch. »Ich weiß es. Trotzdem wird keiner von uns seine Heimat wiedersehen. Sie -« Er stockte, starrte einen Moment an Skar vorbei ins Leere und machte dann eine vage Bewegung mit beiden Händen, deren Bedeutung Skar nicht verstand. »Du weißt nichts über unser Volk.«

»Nicht viel -«

»Nichts«, unterbrach ihn Titch heftig. »Du bist wie alle anderen, Skar. Du bist vielleicht ein wenig intelligenter, ein wenig älter, vielleicht sogar ein wenig weiser - was immer ihr Menschen darunter verstehen mögt. Aber du weißt so wenig über unser Volk wie diese Narren dort draußen, die du fast so sehr verachtest wie uns.« Er füllte nun doch seinen Weinbecher und trank einen weiteren gewaltigen Schluck. Er war nervös. Seine Hände zitterten, aber Skar hatte das sichere Gefühl, daß es nicht nur am Wein lag.

»All diese Männer dort draußen«, fuhr Titch mit einer Handbewegung zum Fenster hin fort, »haben Abschied von ihren Familien genommen. Sie haben die Todesweihen bereits empfangen, Satai. Sie sind tot. Sie werden nicht zurückkehren, auch wenn sie den Krieg überleben sollten.«

»Gilt das... auch für dich?« fragte Skar leise.

Titch lachte bitter. »O ja. Du stehst einem Toten gegenüber, Satai. Einem Toten, der eine Armee von Toten befehligt. Und du mußt keine Angst vor mir haben. Ich hasse dich nicht, weil du Trash erschlagen hast. Du hast einen Toten getötet! Sollte ich dir das übel nehmen?«

Skar schwieg. Betroffen blickte er Titch an. In den Augen des Quorrl war ein Schmerz, den er nicht einmal in Ansätzen nachzuempfinden vermochte. Und auch Zorn. Aber keines von beiden galt ihm, oder den Satai dort draußen. Etwas ging in dem Quorrl vor, das ihn erschreckte.

»Das wußte ich nicht«, sagte er mitfühlend. »Ich -«

»Jetzt weißt du es«, unterbrach ihn Titch zornig. »Und nun kannst du dir einbilden, alles über uns zu wissen. Du kannst zu deinen Freunden gehen und damit prahlen.«

»Ich werde es für mich behalten, Titch«, versprach Skar, »wenn es ein Geheimnis deines Volkes ist.«

»Ein Geheimnis?« Titch lachte böse. »Wir haben keine Geheimnisse, Skar. Nicht vor euch. Es ist uns gleich, was ihr über uns wißt und was nicht. Es spielt keine Rolle. Und nun geh.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Du kannst in Ruhe schlafen, ohne Angst vor mir oder meinen Männern haben zu müssen.«

Skar rührte sich nicht von der Stelle. »Warum bist du so bitter?« fragte er.

»Bitter?« Titch legte in einer bedrückend menschlichen Bewegung den Kopf auf die Seite und sah ihn an. »Ich bin nicht bitter, Skar«, versicherte er. »Ich bin -« Er brach ab, trank wieder aus seinem Becher und schüttelte bestimmt den Kopf. »Du würdest es nie verstehen.«

»Es gibt doch ein Geheimnis«, vermutete Skar ins Blaue hinein. »Oder zumindest etwas, was ich nicht weiß.«

»Ja«, antwortete Titch. »Und du wirst es nie erfahren. Es ist etwas, das dich nichts angeht, Mensch. Wüßtest du es, müßte ich dich töten. Deshalb ist es besser, du hörst auf, Fragen zu stellen.« Skar sah ihn noch einen Moment lang sehr nachdenklich an. Aber dann wandte er sich endgültig um und ging.

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