Del hörte schweigend zu, während Skar und der verwundete Wächter berichteten, und auch hinterher verging lange Zeit, bis er endlich auf Skars herausfordernden Blick reagierte. Aber er tat es auf andere Art, als Skar erwartet hatte.
»Das ist... eine schlimme Geschichte«, sagte er langsam. Er richtete sich ein wenig in dem klobigen Thronsessel auf, in dem er Platz genommen hatte, und sah den verletzten Satai an. »Konntest du die Männer erkennen, die dich und deine Kameraden niedergeschlagen haben?« fragte er.
Der Mann schüttelte so schnell den Kopf, daß auch dem Dümmsten klar werden mußte, daß er log. »Es ging alles viel zu schnell, Herr«, antwortete er mit einem raschen, fast ängstlichen Blick auf Skar. »Wir... versuchten sie auseinanderzutreiben, aber sie fielen fast sofort über uns her.«
»Aber du konntest wenigstens erkennen, ob es Satai oder Quorrl waren?« fragte Skar scharf.
Der Mann blickte unsicher zu Boden. »Nein«, erwiderte er. »Nicht... richtig.«
Skar streckte wütend den Arm aus, um ihn an der Schulter herumzureißen, aber dann erinnerte er sich im letzten Augenblick daran, daß der Mann verwundet war und Mühe hatte, auf dem durchbohrten Bein zu stehen. »Was soll das heißen, nicht richtig?« fauchte er. »Du willst mir erzählen, jemand hat deine drei Kameraden erschlagen und dich niedergestochen, und du weißt nicht einmal, ob es Quorrl oder Satai waren?«
»Laß ihn, Skar«, bat Del. Skar sah überrascht und verärgert zugleich auf und wollte auch ihn anfahren, aber Del hob noch einmal die Hand und winkte beruhigend ab. Laß uns nicht vor einem der Männer miteinander streiten, signalisierte sein Blick. Laut entschied er. »Wir werden ihn morgen befragen, wenn er zur Ruhe gekommen ist. Du siehst doch, daß der arme Kerl kaum mehr auf den Beinen stehen kann.«
Skar schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und nickte nur. Wortlos wartete er, bis Del den Wächter entlassen hatte und sie allein waren.
»Was soll das bedeuten, Del?« fragte er dann. »Wieso fällst du mir in den Rücken? Du weißt so gut wie ich, daß es Satai waren, die ihn und seine Kameraden niedergeschlagen haben. Unsere eigenen Leute!«
»Ich weiß gar nichts«, antwortete Del ruhig. »Der Mann ist verletzt und hat Fieber, das ist es, was ich weiß. Wir reden morgen mit ihm.« Der Ton, in dem er diese Worte aussprach, machte klar, daß er das Thema damit für erledigt erklärte. Skar nicht. »Dann nehme ich an, daß es dich auch nicht interessiert, was dort unten auf dem Hof passiert ist?« fragte er böse.
»Du täuschst dich, Skar«, antwortete Del, noch immer aufreizend ruhig. »Jemand hat versucht, dich umzubringen, und das interessiert mich sehr wohl. Konntest du erkennen, wer den Hund auf dich gehetzt hat?«
»Nein«, erwiderte Skar. »Ich -«
»Es könnte also genausogut ein Quorrl gewesen sein?« unterbrach ihn Del.
Es dauerte einige Sekunden, bis Skar begriff. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte er. »Du ... du versuchst selbst jetzt noch -«
»Ich versuche«, schnitt ihm Del erneut und mit scharfer, deutlich erhobener Stimme das Wort ab, »die Wahrheit herauszufinden, Skar. Wenn es unter unseren Männern jemanden gibt, der seine Hand gegen den Hohen Satai erhebt, dann will ich das wissen. Du behauptest, einer unserer eigenen Männer hätte versucht, dich zu töten. Soll ich das mit einem Achselzucken und den Worten abtun: Du lebst ja noch.«
»Du hast völlig recht«, sagte Skar. »Ich lebe noch. Und das habe ich einem Quorrl zu verdanken, wenn du es genau wissen willst.«
Del nickte ungerührt. »Titch ist ein kluger Mann«, warf er ein. »Er weiß, was geschehen wäre, hätte der Hund dich getötet.« Skar sprang so wütend von seinem Stuhl auf, daß das Möbel polternd umfiel. »Verdammt, rede ich so undeutlich, oder willst du mich nicht verstehen?!« brüllte er. »Ich spreche nicht von dem Hund, oder dem Mann, der ihn auf mich gehetzt hat! Ich rede davon, daß sich zwanzig unserer Leute mit den Quorrl dort unten eine Schlacht geliefert haben! Was gedenkst du zu unternehmen, Hoher Satai!!«.
Del ignorierte den verletzenden Ton, in dem er die beiden letzten Worte hervorgebracht hatte, und seufzte nur. Er schwieg. »Nichts«, beantwortete Skar nach einer Weile seine eigene Frage. Sein Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. »Du wirst nichts tun, habe ich recht?«
»Was soll ich tun, deiner Meinung nach?« fragte Del leise. »Du hast es selbst gesagt - du weißt nicht, wer den Kampf begonnen hat, und warum. Ich werde die Männer befragen, und wenn sich herausstellen sollte, daß es einer von ihnen war, der den Streit provoziert hat, werde ich ihn natürlich bestrafen.«
Skar lachte böse. »Als ob es eine Rolle spielt, wer angefangen hat. Verdammt, Del, wir sind hier nicht im Kindergarten, und es geht nicht darum, daß einer mit dem Finger zeigt und ruft, der da hat angefangen.«
»Worum dann?« fragte Del.
»Es geht um -« Skar brach ab, ballte hilflos die Fäuste und versetzte schließlich dem Tisch einen Tritt. Del lächelte.
»Du willst also nichts unternehmen?« drängte Skar.
»Was soll ich tun? Die Männer öffentlich hinrichten lassen, wie Titch es mit seinen Quorrl getan hat?« Skar wollte antworten, aber Del unterbrach ihn abermals mit einer Handbewegung und fuhr fort: »Ich verstehe dich, Skar, aber du mußt auch mich verstehen. Wir brauchen diese Männer. Die Situation ist angespannt, und das Warten macht sie verrückt. Sie sind gute Krieger, aber sie sind keine Satai - nicht so wie du und ich. Und es waren nur Quorrl.« Skar starrte ihn an. Del lächelte, aber sein Lächeln erlosch nach und nach, als er seinem Blick begegnete, und schließlich machte sich so etwas wie Betroffenheit auf seinen Zügen breit. »Was ist nur mit dir geschehen, Del?« flüsterte Skar. »Warum bist du so hart?«
»Hast du mich nicht gelehrt, es zu sein?« fragte Del.
»Nicht so«, antwortete Skar. »Hart zu dir selbst, ja. Hart zu deinen Feinden, wenn es sein muß. Aber nicht so. Ich habe dir nie beigebracht, grausam zu sein.«
»Grausam?« Del klang ehrlich überrascht. Er schwieg einen Moment, als müsse er das Wort erst ein paarmal für sich wiederholen, um sich davon zu überzeugen, daß Skar es auch wirklich ausgesprochen hatte. »Ist es das, wofür du mich hältst?« fragte er dann. »Für grausam?«
»Weißt du ein anderes Wort?« begehrte Skar auf.
»Ich habe einen Krieg zu gewinnen, Skar«, bemerkte Del leise. »So?« Skar machte ein angewidertes Gesicht. »Das hatten wir schon öfter, Del. Du und ich, wir haben in mehr als einem Krieg zusammen gekämpft. Aber niemals so!«
»Es gab auch noch niemals einen Krieg, der so war«, antwortete Del. »Es geht hier nicht um die Macht in einem Königreich. Es geht nicht um Schätze oder Landgewinn. Es geht nicht einmal mehr um Macht. Es geht um die Existenz unserer Welt. Willst du, daß sie von Männern wie Drask beherrscht wird?«
»Vielleicht ist das immer noch besser, als wenn sie von Männern wie dir beherrscht würde«, hielt ihm Skar entgegen.
Er erschrak über seine eigenen Worte, und auch Del fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Skar begriff, daß er ihn zum allerersten Mal wirklich getroffen hatte, seit sie mit diesem endlosen Streit begonnen hatten. Seine Worte taten ihm leid. Aber er spürte auch gleichzeitig, daß sie die Wahrheit gewesen waren. Und daß sie das Wenige, was noch zwischen ihnen gewesen sein mochte, endgültig zerstört hatten.
Langsam, mit zitternden Händen, aber trotzdem sehr ruhigen Bewegungen, löste er den schwarzen Mantel des Hohen Satai von seinen Schultern und warf ihn vor Dels Thron zu Boden. Del versuchte nicht, ihn daran zu hindern.
Kiina schlief noch, als er in sein Zimmer zurückkam, aber er war laut genug, sie aufzuwecken. Während sie sich mühsam auf die Ellbogen hochstemmte und die Müdigkeit wegzublinzeln versuchte, machte er Licht und begann, die wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, in seine Satteltaschen zu stopfen; schnell und mit den übertrieben heftigen Bewegungen eines Mannes, dessen Handeln von schierer Wut bestimmt wird. Er war sich vollkommen darüber im klaren, daß er seinen Entschluß schon bald bereuen würde - aber vielleicht war gerade das der Grund, weshalb er keine weitere Minute mehr vergeuden wollte. Er hätte schon längst gehen sollen, schon vor Tagen, und er wußte, daß er in seiner Entscheidung abermals schwankend werden würde, wenn er es jetzt nicht sofort tat. Wenn die Sonne aufging, dann mußte er meilenweit weg sein von dieser verdammten Burg, und von diesem Krieg. Es hieß, daß man vor seinem Schicksal nicht davonlaufen konnte, aber verdammt, wer hatte je gesagt, daß es sein Schicksal sein mußte, in einem Krieg mitzukämpfen, der nicht sein Krieg war und dessen wirklichen Grund er nicht einmal kannte?
»Was tust du?« fragte Kiina verwirrt.
»Das siehst du doch!« knurrte Skar, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Ich gehe.«
Kiina stand auf, machte einen Schritt und blinzelte benommen. Sie war offensichtlich noch nicht ganz wach; und ebenso offensichtlich begann sie erst allmählich zu begreifen, wo sie überhaupt war. Skar sah, daß sie fast unmerklich zusammenfuhr, als ihr klarwurde, daß sie an seiner Seite eingeschlafen war. Aber sie verlor kein Wort darüber.
»Du gehst?« fragte sie gähnend. »Wohin?«
Skar zuckte abgehackt mit den Schultern und schloß die Schnalle seiner Satteltasche. »Irgendwohin«, entgegnete er. »Enwor ist groß.«
»Du gehst fort?« vergewisserte sich Kiina verwirrt. Sie gähnte erneut, fuhr sich mit der linken Hand über die Augen und sah ihn verstört - und ein bißchen erschrocken - an. Dann nickte sie, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen.
»Du hast dich mit Del gestritten«, vermutete sie.
»Sieht man mir das so deutlich an?« fragte Skar verärgert. »Nein«, antwortete Kiina. »Aber ihr beiden tut doch nichts anderes.« Sie lächelte matt. »Ich habe mit Bradburn gesprochen - und einigen der anderen Männer. Es heißt, ihr wärt einmal Freunde gewesen. Aber seit ihr hierhergekommen seid, streitet ihr euch, so oft ihr euch seht.«
»Das stimmt«, gab Skar zu und schwang sich die Satteltaschen über die Schulter. »Und das ist auch der Grund, warum ich gehe. Es tut mir leid, daß ich dir nicht helfen konnte. Aber ich bin sicher, Del wird auch Elay befreien, sobald er seinen Krieg gewonnen hat.«
Er wollte zur Tür gehen, aber Kiina vertrat ihm den Weg. »Was ... was soll das heißen?« fragte sie fassungslos. Offensichtlich hatte sie immer noch nicht begriffen, was er wirklich gemeint hatte. »Du willst uns im Stich lassen?«
Skar schob sie grob beiseite, ging aber trotzdem nicht weiter. Es war absurd, aber er hatte plötzlich das Gefühl, sich vor diesem Kind rechtfertigen zu müssen. »Ich lasse euch nicht im Stich«, stellte er richtig. »Es tut mir leid, wenn du es so siehst, aber es ist nicht so. Ich... ich muß einfach fort. Weg von Del, ja, aber auch weg von diesem Heer, weg von diesem Krieg, weg von ... von diesem verdammten Ort.«
Und genau das war es. Es war, als zerrisse ein unsichtbarer Schleier, der bisher über seinem Denken gelegen hatte; als hätte er es erst laut aussprechen müssen, um die Wahrheit zu erkennen, obwohl sie so simpel war: Es war dieser Ort. Diese Burg mit ihren schwarzen, himmelstürmenden Mauern und ihrer Kälte und Finsternis. Es hatte begonnen, als er das erste Mal hiergewesen war, als Drasks Gefangener und später sein scheinbarer Verbündeter, und es war weitergegangen, nachdem Del und er diese Festung genommen hatten und zum zweiten Mal hierhergekommen waren. Es war etwas an - in - ihr, das seine Gedanken wie ein schleichendes Gift verpestete, das nicht nur ihn, sondern jeden hier reizbar und aggressiv und böse machte. Es war ganz genau so, wie Kiina gesagt hatte: Dieser Ort war böse. Und er ließ jeden böse werden, der zu lange in seinen Mauern weilte.
Kiinas Gedanken schienen in den gleichen Bahnen zu verlaufen, denn sie widersprach ihm nicht mehr. Sie versuchte auch nicht, ihn noch einmal zurückzuhalten, sondern nickte im Gegenteil.
»Dann komm mit mir«, schlug sie vor. »Geh mit mir zurück nach Elay, Skar.«
Einen Moment lang war Skar wirklich versucht, ihr Angebot anzunehmen. Aber nur für eine Sekunde. Es war sinnlos. Er hatte das Netz gesehen, und das, was es aus den Errish gemacht hatte. Dieses Ding hatte zehntausend Ehrwürdige Frauen und ihre unbesiegbaren Drachen überwunden - was sollte er wohl dagegen ausrichten?
»Nein«, entschied er. »Es wäre sinnlos, Kiina. Und es wäre auch nicht das, was ich will.«
»Was willst du dann?« schrie Kiina plötzlich, »Davonlaufen? Dich verkriechen, bis sie ganz Enwor in ihrer Gewalt haben?«
»Ganz Enwor...« Skar lächelte matt. »Enwor ist groß, Kindchen. Unglaublich groß. Selbst die Sternengeborenen können nicht eine ganze Welt erobern.«
»Du läufst davon«, behauptete Kiina stur. »Du hast Angst, Satai.«
»Vielleicht«, antwortete Skar ernst. »Und vielleicht wirst du mich eines Tages sogar begreifen. Und jetzt - lebe wohl.« Er öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus, aber er hatte Kiina unterschätzt. Mit einem Sprung setzte sie ihm nach und klammerte sich an seinen Arm, so daß er abermals stehenblieb. »Ich lasse dich nicht gehen!« rief sie. Ihre Stimme wurde schrill und drohte überzuschnappen. »Ich lasse nicht zu, daß du uns im Stich läßt. Wir brauchen dich, Skar. Ich lasse dich nicht -« Skar ohrfeigte sie.
Der Schlag war nicht sehr heftig, aber er traf Kiina so überraschend, daß sie zurücktaumelte und gegen die Wand prallte. Ihre Augen wurden groß und füllten sich mit Tränen. Skar blickte sie einen Moment lang betroffen an, setzte zu einer Entschuldigung an - und wandte sich dann brüsk um. Innerlich kochte er noch immer vor Wut, aber er spürte auch, wie sich bereits die ersten Zweifel in ihm breit machten, und er kannte sich selbst zu gut, um nicht zu wissen, daß er Kiinas Bitten und dem, was er für Vernunft und Einsicht halten mochte, vielleicht nachgeben würde, wenn er auch nur noch eine einzige Minute blieb.
Er ging weiter, hörte, daß Kiina ihm abermals folgte, und begann zu laufen, bis er zur Treppe gelangte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht stürmte er auf den Hof hinaus, aber diesmal war es wirklich eine Flucht - und er wurde auch wirklich verfolgt, wenn auch nur von einem sechzehnjährigen Mädchen, das einfach nicht begreifen wollte, daß die Welt nicht so war, wie es seiner Vorstellung entsprach. Er fiel in einen schnellen Schritt zurück, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, als er es ohnehin schon tat, überquerte den Hof und erreichte die Ställe, Sekunden, ehe Kiina ihn einholte und abermals am Arm ergriff.
»Du kannst mich ruhig wieder schlagen«, sagte sie trotzig. »Ich lasse dich nicht los.«
Skar schlug sie nicht. Er ging einfach weiter, und er war sehr viel stärker als Kiina - sie wurde einfach mitgezerrt, und nach ein paar Schritten sah sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns auch ein und ließ seinen Arm wieder los. Skar stieß die Tür der Stallungen mit einem Ruck auf, sah sich kurz um und steuerte die erste der zahllosen Boxen an, in denen die Pferde untergebracht waren. Ohne auf Kiinas Jammern zu achten, riß er das Zaumzeug vom Haken, begann ein Pferd aufzuschirren und sah sich nach einem Sattel um. Er fand keinen, aber das machte nichts. Er hatte eine Decke bei seinem Gepäck, die er kurzerhand über den Rücken des Pferdes warf. Del hatte ihm ein wenig Geld gegeben, das ausreichen mochte, in der nächsten Stadt einen Sattel und besseres Zaumzeug zu erstehen. Und wenn nicht - nun, er war schon mit weniger losgezogen.
Kiina vertrat ihm abermals den Weg, als er das Pferd am Zügel ergriff und aus dem Stall führen wollte. Aber sie versuchte nicht mehr, ihn mit Gewalt zurückzuhalten, sondern verlegte sich aufs Bitten.
»Bitte, Skar!« flehte sie. »Nimm mich mit. Ich ... ich verstehe ja, wenn du nicht hierbleiben willst! Dieser Ort ist böse. Aber nimm mich mit! Wenn nicht nach Elay, dann wohin immer du willst! Laß mich nicht hier!«
Skar schüttelte ihren Arm ab und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Kiina versuchte sich an sein Bein zu klammen, aber Skar schüttelte sie ohne große Mühe ab. Fast gleichzeitig ließ er das Tier einen Satz machen, der das Mädchen zwang, einen weiteren Schritt zurückzuweichen. Dann griff er entschlossen in die Zügel und ließ das Pferd so schnell über den Hof traben, wie es inmitten all der Krieger und Quorrl überhaupt möglich war.
Aber er hatte Kiinas Entschlossenheit abermals unterschätzt - sie rannte ihm nicht nach, wie er fast befürchtet hatte, aber sie tat etwas anderes: Er hatte kaum die Hälfte der Strecke überwunden, als die Stalltür abermals aufflog, und Kiina auf dem Rücken eines ungesattelten Pferdes herausgesprengt kam. Und sie ging sehr viel weniger rücksichtsvoll vor als er - sie preschte so schnell auf ihn zu, daß ein paar Männer entsetzt zur Seite sprangen, um nicht einfach über den Haufen geritten zu werden.
Skar seufzte tief, ritt bis zum Tor und hielt an. Bisher hatte ihn Kiinas kindisches Benehmen nur geärgert, aber allmählich versetzte es ihn in Wut. Grob fiel er ihr in die Zügel, als sie neben ihm hielt, und packte mit der anderen Hand ihren Arm.
»Was soll das?!« fragte er barsch. »Ich habe gesagt, du kannst nicht mitkommen!«
Kiina riß ihren Arm los und funkelte ihn an. »Du kannst mich nicht daran hindern«, antwortete sie herausfordernd. »Ich bin nicht deine Gefangene! Ich kann tun und lassen, was ich will.« Skar setzte zu einer wütenden Antwort an, schüttelte aber dann nur den Kopf und zwang sein Pferd, sich auf der Stelle herumzudrehen. »Du wirst erfrieren, Kindchen«, warnte er. »Und wenn nicht das, dann verhungern oder vom Pferd fallen und dir den Hals brechen.« Er deutete mit der Hand nach Westen, den Berg hinunter und zum Fluß. »Siehst du die Ebene dort?« Fragte er. »Sobald wir sie erreicht haben, werde ich so schnell reiten, daß du ganz bestimmt nicht lange mithältst.«
»Bist du sicher?« fragte Kiina. »Ich kann reiten, Satai. Auch ohne Sattel.« Ihre linke Hand klatschte auf den Hals des Pferdes, um ihre Worte zu unterstreichen - mit dem Ergebnis, daß das Tier erschrocken scheute und sie um ein Haar abgeworfen hätte. »Nicht so lange wie ich«, antwortete Skar überzeugt. »Und du wirst auch die Kälte nicht so lange aushalten wie ich, und den Hunger. Und ich werde nicht auf dich warten. Verlaß dich nicht auf mein Mitleid.«
»Satai!«
Der Schrei ließ Skar aufsehen. Gegen die zahllosen Feuer, die den Hof beleuchteten, konnte er den Rufer nicht erkennen, aber die Stimme war schrill und gepreßt gewesen und gehörte zweifellos einem Quorrl. Er glaubte Schritte zu hören. Einer der finsteren Schatten bewegte sich auf ihn und Kiina zu.
»Satai! Herr! Wartet!«
Einen Moment lang überlegte Skar, das Gegenteil zu tun und sein Pferd auf der Stelle herumzureißen, um davonzusprengen, so schnell er konnte. Daß er es schließlich doch nicht tat, lag - absurd genug - wahrscheinlich nur daran, daß es ein Quorrl war, der ihn rief; kein Satai.
»Was gibt es?« fragte er unwillig, als der Quorrl herbeigelaufen kam. Der Krieger - er erkannte sein Gesicht nicht, aber er identifizierte seine Rüstung: Es war ein Mann aus Titchs Leibgarde - griff mit der linken Hand nach dem Zaumzeug seines Pferdes und machte mit der anderen eine nervöse Geste in die Richtung, aus der er gekommen war. »Kommt... mit mir, Herr«, stieß er keuchend hervor. Er mußte sehr weit und sehr schnell gelaufen sein, dachte Skar. »Der Hohe Satai verlangt nach Euch. Es ist... wichtig.«
»Was ist passiert?« fragte Skar.
»Ihr sollt... zu ihm kommen, Herr«, antwortete der Quorrl, noch immer mühsam um Atem ringend. »Zur Kammer des Predigers. Schnell!«
Skar starrte ihn noch eine Sekunde unentschlossen an, dann schwang er sich vom Rücken des Pferdes und drückte der vollkommen überraschten Kiina die Zügel in die Hand. »Warte hier«, gebot er. »Ich bin gleich zurück.«
Er rannte los, schon, um mit dem Quorrl Schritt zu halten, der herumgefahren war und den Weg in der gleichen Schnelligkeit zurückzulaufen begann, mit der er hergekommen war. Sie überquerten den Hof, stürmten durch die Halle und begannen, die gewundene Treppe zu Bradburns Kammer hinabzulaufen. Skar hätte den Quorrl gerne gefragt, was denn nun wirklich passiert war - er hatte das sichere Gefühl, daß der Krieger sehr wohl wußte, warum Del ihn zurückrufen ließ, es nur in Kiinas Gegenwart nicht hatte sagen wollen -, aber er lief so schnell, daß Skar alle Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten. Erst als sie den Gang erreicht hatten, an dessen Ende Bradburns Kammer lag, blieb er stehen und wich zur Seite, um Skar Platz zu machen. Skar stürmte an ihm vorbei, rannte geduckt durch die Tür - und prallte mitten im Schritt zurück, als wäre er vor eine unsichtbare Mauer gelaufen. Er bemerkte, daß außer ihm und Del auch noch Titch anwesend war, aber daran verschwendete er in diesem Moment kaum mehr als einen Gedanken.
Der Raum lag in Trümmern. Was vor Stunden noch Bradburns Gebetszimmer-Laboratoriums-Kombination gewesen war, das war jetzt ein einziges heilloses Chaos aus zerfetzten Büchern, zertrümmerten Möbeln und Glas- und Tonscherben. Ein durchdringender, sehr unangenehmer Geruch, den Skar nicht identifizieren konnte, lag in der Luft, und auf dem Boden schimmerten große Pfützen der verschiedensten Flüssigkeiten, die aus den zerbrochenen Krügen ausgelaufen waren. An der gegenüberliegenden Wand war ein großer, dunkel glänzender Fleck, wie frischer Ruß. Hatte es gebrannt?
»Bei allen Göttern, was ist passiert?« fragte Skar entsetzt. »Wo ist Bradburn?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Del. Er hob rasch die Hand und hielt Skar zurück, als er an ihm vorbeigehen wollte. »Oder doch, ich fürchte, ich weiß es. Aber das...« Er amtete hörbar ein. »Sieh es dir selbst an.« Er nahm die Hand herunter, legte sie aber gleich darauf auf Skars Schulter und schob ihn vor sich her durch den Raum. Unter ihren Stiefeln knirschte zerbrochenes Glas, überall lagen Trümmer und Teile der zerborstenen Möbel, und einmal stieß Skars Fuß gar gegen einen faustgroßen Steinquader, der wie von einer unglaublichen Gewalt aus der Wand herausgerissen worden war. Skar sah sich neugierig und mit klopfendem Herzen um. Es schien buchstäblich nichts in diesem Raum zu geben, das nicht zermalmt und zerfetzt worden war; es mußten unglaubliche Gewalten gewesen sein, die hier getobt hatten. Aber von Bradburn entdeckte er keine Spur. Nicht einmal Blut.
»Wo ist er?« fragte er erneut.
Del nahm die Hand von seiner Schulter und bückte sich nach der zertrümmerten Tischplatte, die schräg gegen die Wand gestürzt war. Erst, als er sie zur Seite wuchtete, begriff Skar, daß er sie dorthin gestellt hatte, um etwas ganz Bestimmtes zu verbergen.
Im ersten Moment nahm er nur etwas Dunkles, matt Glänzendes wahr, formlos und größer als ein liegender Mann. Neugierig trat er näher, ließ sich in die Hocke hinabsinken und nickte automatisch, als Del eine Bewegung machte, vorsichtig zu sein. Was er sah, war... unheimlich. Bedrückend und auf eine morbide Art faszinierend zugleich. Die sonderbare Masse war formlos und erinnerte ihn im allerersten Moment an schwarzen, blasigen Schaum, wirkte aber gleichzeitig sehr fest und irgendwie ... lebendig.
»Warte«, sagte Del. »Rühr es nicht an.« Skar hörte, wie er sich entfernte und gleich darauf wiederkam. Der flackernde Schein der Fackel vertrieb die Schatten und ließ ihn jede furchtbare Einzelheit des finsteren Dinges genau erkennen.
Es war kein Schaum. Es war ein langgestreckter, massiver Körper, dessen Oberfläche nur blasig und porös aussah. Was er im schlechten Licht dafür gehalten hatte, das entpuppte sich im roten Schein der Fackel als ein Gespinst dünner, tausendfach untereinander verästelter Adern und Nervenfäden, als blicke er ins Innere eines aufgeschnittenen Kadavers. Und es war nicht das erste Mal, daß er so etwas sah.
»Ihr Götter!« stöhnte er. »Das ist -«
»Dasselbe Ding, das die Errish hatten«, vollendete Del. »Das Netz.«
Skar blickte entsetzt auf das schwarze, glänzende Etwas zu seinen Füßen hinab. Eine unsichtbare, eisige Hand schien nach seinem Nacken zu greifen und ganz langsam zuzudrücken, und für Augenblicke hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er hörte, wie auch Titch näher kam und unmittelbar hinter ihm stehenblieb, aber es war ihm unmöglich, den Blick von dem grauenhaften Etwas zu lösen. Er wußte, daß Del recht hatte - die feine, auf schreckliche Art lebendig wirkende Struktur war unverkennbar, und er fühlte auch wieder die Aura des Bösen, die er auch in der Nähe der toten Errish gespürt hatte, das Gefühl, etwas abgrundtief Schlechtem gegenüberzustehen. »Aber wie kommt es hierher?« flüsterte er. »Wir haben sie begraben!«
»Nicht alle«, widersprach Titch. »Eine habt ihr hergebracht!«
»Aber sie ist tot!« hielt ihm Skar entgegen. »Bradburn hat sie verbrannt, mitsamt ihrer Rüstung und allem, was sie bei sich hatte!«
»Das habe ich ihm befohlen«, bestätigte Del leise. »Und er hat gesagt, daß er es getan hätte. Aber ich habe es nicht gesehen.« Er ließ sich neben Skar in die Hocke sinken, stützte sich mit der linken Hand auf dem Boden ab - sehr weit von dem schwarzen Etwas entfernt und so, daß er es nicht einmal versehentlich berühren konnte, wenn er das Gleichgewicht verlor und stürzte -, reichte seine Fackel an Skar und zog einen Dolch aus dem Gürtel.
»Rührt es nicht an!« warnte Titch erschrocken.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Del. »Ich bin vorsichtig.«
Und das war er in der Tat. Behutsam, unendlich behutsam näherte sich die Messerspitze dem schwarzen Etwas, berührte es flüchtig und zuckte sofort zurück. Nichts geschah. Del zögerte einen Moment, streckte das Messer dann wieder vor und ritzte einen der dickeren Fäden. Der rasiermesserscharfe Stahl zerschnitt die finstere Masse ohne sichtbaren Widerstand, und Skar sah, daß es sich tatsächlich um eine Art Ader zu handeln schien. Ein Tropfen einer farblosen, wasserklaren Flüssigkeit quoll aus dem abgeschnittenen Ende und erstarrte fast sofort.
»Es scheint... tot zu sein«, murmelte Del.
Skar nickte. »Ich hoffe es. Aber das hat Bradburn sicher auch gedacht. Sei vorsichtig.«
Dels Messer schnitt tiefer. Fünf, zehn der dünnen schwarzen Fäden klafften auseinander, ihre Enden hoben sich wie die Leiber enthaupteter Schlangen, dann schnitt der Stahl durch die darunterliegende, schwarze Masse - und durch menschliches Fleisch. Selbst Titch stöhnte wie unter Schmerzen auf.
»Ihr Götter!« keuchte Del. »Er ist es!« Er hielt einen Moment inne, sah Skar aus schreckgeweiteten Augen an und führte den Dolch dann weiter, wobei er darauf achtete, nur in den schwarzen Kokon zu schneiden, nicht in das, was darunter lag.
Es war Bradburn, und er war unzweifelhaft tot, denn die Wunden, die Del ihm unabsichtlich zufügte, bluteten nicht. Was nicht hieß, daß er nicht verletzt war; im Gegenteil. Überall auf seinem Körper zeigten sich große, blutige Wunden, aus denen dünne schwarze Fäden oder auch fingerdicke Strünke der gleichen, fürchterlichen Masse herauswuchsen, als hätte das Netz versucht, mit brutaler Gewalt in seinen Leib einzudringen. Skar fühlte ein Entsetzen wie niemals zuvor, und auch Del mußte sein schreckliches Tun zwei- oder dreimal unterbrechen, weil seine Hände einfach zu heftig zitterten.
Schließlich reichte Skar seine Fackel an Titch weiter und half Del, aber selbst zu zweit brauchten sie fast fünf Minuten, Bradburn aus dem mörderischen Kokon herauszuschneiden. Trotz allem war das Schicksal noch gnädig mit Bradburn gewesen - einer der glänzenden Fäden verschwand in seinem Mund wie eine schreckliche schwarze Zunge, aber seine Augen waren unverletzt, und zumindest dem Ausdruck auf seinem erstarrten Gesicht nach zu schließen schien er keine sehr großen Schmerzen gehabt zu haben, als er starb.
»Seid vorsichtig!« warnte Titch noch einmal. »Rührt es nicht an!«
»Es ist tot«, versicherte Skar. »Sieh selbst.«
Tatsächlich schien weder in dem Netz noch in dem darunterliegenden schwarzen Kokon noch Leben zu sein - im Gegenteil: Auf seiner Innenseite waren große, feuchte Flecken, die Skar an verwesendes Fleisch erinnerten und auch so rochen, und ein Teil der schwarzen Masse war zu porösem Grau geworden, das sich in Staub verwandelte, als Del es mit der Messerspitze berührte. »Es ist tot«, wiederholte er noch einmal. »Es hat ihn umgebracht, aber es ist selbst dabei gestorben.«
»Nein«, verbesserte ihn Del. »Er hat es getötet. Sieh doch.« Er deutete mit der Messerspitze auf Bradburns rechte Hand, und als Skar sich vorbeugte, erkannte er, was Del meinte. Bradburns Hand war völlig frei von der schwarzen Masse, und auch die Fäden, die seinen Arm hinabgekrochen waren, sahen grau aus oder wirkten verdorrt, wie verbranntes Wurzelwerk. Etwas Kleines, Glänzendes blitzte in Bradburns geschlossener Faust. Die Finger des Toten waren noch nicht erstarrt, so daß es Skar leicht fiel, sie mit der Spitze seines Messers auseinanderzubiegen. Erstaunt blickte er auf das herunter, was auf Bradburns ausgestreckter Handfläche zum Vorschein kam: Es war ein kleiner, tropfenförmiger Knopf aus gelblichem Kristall, der von einem unendlich feinen kupfernen Netz umgeben war. Behutsam drehte er ihn mit der Messerspitze ein paarmal herum, um sich davon zu überzeugen, daß ihm auch nicht der kleinste Partikel der schwarzen Masse anhaftete, streckte die Hand aus, um ihn aufzuheben, und zog die Finger dann im letzten Moment wieder zurück. Er sah sich suchend im Zimmer um, gewahrte einen schwarzen Stoffetzen ein Stück hinter sich und wickelte den Kristallstein darin ein, ehe er ihn aus Bradburns Hand nahm. »Was soll das?« fragte Del stirnrunzelnd.
»Das ist der Verschluß der Kristallphiole«, antwortete Skar. »Hast du vergessen, was Bradburn über ihren Inhalt erzählt hat?« Del wurde noch ein bißchen bleicher, als er ohnehin schon war, sagte aber nichts mehr. Skar verstaute den Kristall sorgfältig in einer Tasche seines Gürtels, dann stand er auf. Titch war ein paar Schritte von dem Toten zurückgewichen, und wenn ein Quorrl-Gesicht überhaupt in der Lage war, Entsetzen auszudrücken, dann tat es das seine jetzt. Aber auch Skar spürte eine deutliche Erleichterung, als auch Del sich erhob und sie sich ein paar Schritte von Bradburn und dem fürchterlichen Ding entfernten, das ihn getötet hatte.
»Was ist hier passiert?« fragte Skar leise. Wieder glitt sein Blick durch den Raum, und erneut versuchte er, sich vorzustellen, welche Gewalten diese unvorstellbaren Zerstörungen angerichtet hatten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Del. »Ich bin hierhergekommen, nachdem du ... gegangen warst. Ich wollte mit Bradburn reden. Aber da war schon alles so, wie du es jetzt siehst.« Er schüttelte den Kopf und schloß die Augen. »Ich kann mir nur vorstellen, daß er einen Teil des Netzes von der toten Errish heruntergeschnitten hat, um damit zu experimentieren.«
»Dieser Narr!« entfuhr es Titch. »Er hätte uns alle umbringen können!«
Skar sah auf. »Wieso?« fragte er. »Weißt du etwas über dieses ... Ding?«
»Nein«, antwortete Titch, eine Spur zu schnell, als daß Skar ihm glaubte. »Aber sieh dich doch um!«
Titch log, und auch Del merkte es. Aber Skar warf ihm einen raschen, mahnenden Blick zu, und Del schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag.
»Er ist tot, nicht wahr?« sagte Skar. »Wir können ihn kaum mehr zur Verantwortung ziehen.«
»Und auch nicht mehr fragen, was hier geschehen ist«, fügte Del finster hinzu. »Großer Gott, Skar, ich beginne langsam zu glauben, was dieses Mädchen behauptet. Vielleicht ist diese ganze verdammte Burg wirklich nichts anderes als eine Falle.«
Skar wollte antworten, aber im gleichen Moment, in dem er zu Del aufsah, fiel ihm etwas auf; nicht mehr als ein Huschen aus den Augenwinkeln, vielleicht nur ein Schatten, aber vielleicht auch...
Er nahm Titch die Fackel aus der Hand und ging auf die Wand zu, an der er den schwarzen Fleck bemerkt hatte. Seine Schritte waren sehr langsam. Seine Hand, welche die Fackel hielt, zitterte. »Was hast du?« fragte Del alarmiert.
Skar zuckte mit den Schultern und hielt die Fackel höher. Er war nicht sicher, aber für einen winzigen Moment hatte er das Gefühl gehabt, daß sich der Schatten... bewegte.
Es war kein Schatten.
Es war auch kein Rußfleck, wie er im ersten Moment geglaubt hatte.
Es war ein fast mannsgroßer Fleck der gleichen, widerwärtig-schwarzen Masse, die Bradburn erstickt hatte. Haarfeine dünne Äderchen zuckten und pulsierten darin, und hier und da bewegten sich winzige glänzende Klümpchen, kleinen beinlosen Tieren aus schwarzem Schleim gleich, die blind hin und her krochen. Titch keuchte, und Del gab einen angewiderten, würgenden Laut von sich.
Skar senkte zitternd die Fackel, und was er sah, überraschte ihn kaum noch: Der Fleck endete eine Handbreit über dem Boden, aber ein schmaler, glitzernder Streifen der Netzmasse zog sich noch weiter, erreichte den Boden und zog eine schmierige Bahn bis hin zu dem tödlichen Kokon um Bradburn.
Fast eine Minute lang standen sie einfach da und starrten das entsetzliche Etwas an, und schließlich war es Titch, der als erster aus seiner Erstarrung erwachte. Er streckte die Hand aus und sah Skar an, und Skar wußte sofort, was er wollte. Behutsam zog er den Kristallknauf aus dem Gürtel und reichte ihn Titch. Vorsichtig wickelte der Quorrl ihn aus, ergriff ihn mit spitzen Fingern und trat an die Wand. Selbst seine Hand zitterte, als er den Arm ausstreckte und den schwarzen Fleck mit dem spitzen Ende der kristallenen Träne berührte.
Ein leises Zischen war zu hören; ein Laut, als berührte glühendes Eisen Fleisch. Skar sah, wie das filigrane Netz rings um die Stelle herum zu verdorren begann, gegen die Titch den Kristall gepreßt hatte. Und der Prozeß hörte nicht auf, sondern setzte sich rasend schnell fort. Binnen weniger Sekunden ergriff er die gesamte Masse und tötete sie. Die haardünnen Fäden verdorrten, wurden grau und fielen ab oder lösten sich einfach auf.
Aber der Quorrl war noch nicht fertig. Vorsichtig wickelte er den Kristallknopf wieder in sein Tuch, reichte ihn Skar zurück und zog statt dessen sein Schwert aus dem Gürtel. Mit aller Macht holte er aus und schmetterte die Klinge gegen die Wand. Funken stoben auf. Die Spitze von Titchs Schwert brach ab und fiel klirrend zu Boden, aber der Hieb hatte auch eine fast fingertiefe Bresche in die Wand geschlagen.
Skars Herz schien für einen Moment auszusetzen und dann mit doppelter Wucht und fast schmerzhaft weiterzuhämmern. Das Netz war auch hier verdorrt und begann zu Staub zu zerfallen, aber es ging nicht schnell genug, als daß Skar und die beiden anderen nicht das fast mikroskopische Gewebe erkennen konnten, das den Stein durchzog und in seiner Tiefe verschwand. »Großer Gott!« flüsterte Del entsetzt. »Schaut euch das an. Als ob es in die Wand hineingekrochen wäre!«
»Oder heraus«, sagte Titch.