24.

Das Feuer brannte eine Stunde, und für genau diese Zeitspanne kam auch der Angriff der Quorrl ins Stocken, denn die Hitze unten im Hof war so gewaltig, daß selbst die Verteidiger hinter der Brüstung der zwanzig Meter höher gelegenen Mauer zurückgetrieben wurden. Sie nutzten die Atempause, um ihre Kräfte zu regenerieren und sich neu zu formieren - die Verletzten wurden weggebracht oder an Ort und Stelle versorgt, soweit sie nur leichte Wunden davongetragen hatten, verschossene Pfeile ersetzt, zerbrochene Schwerter gegen neue ausgetauscht. Obwohl sie schreckliche Verluste erlitten hatten, war bisher doch nur ein kleiner Teil des gewaltigen Heeres unmittelbar in die Kämpfe verwickelt worden, und unter den Kriegern begann sich so etwas wie vorsichtiger Optimismus breit zu machen. Skar schätzte, daß sie bisher nicht mehr als drei-, vielleicht vierhundert Mann verloren hatten; vierhundert Mann zu viel, aber ein Nichts gegen den Blutzoll, den sie Titchs Kriegern abverlangt hatten. Für jeden erschlagenen Satai lagen zehn tote Quorrl unter den Trümmern des brennenden Hofes, und doppelt so viele waren verletzt und hatten sich zurückziehen müssen.

Aber Skar wußte auch, wie sehr der kurze Triumph täuschte und wie teuer er erkauft worden war. Die Quorrl würden kein zweites Mal in eine Falle wie diese tappen; ganz davon abgesehen, daß sie gar nicht die Möglichkeit hatten, sie noch einmal aufzubauen - das Vorkastell war außer den Türmen der einzige wirklich gebaute Teil der titanischen Trutzburg gewesen. Der weitaus größte Teil der Festung war einfach aus dem natürlichen Gestein des Berges herausgemeißelt worden. Und selbst, wenn es anders gewesen wäre - sie konnten schlecht Stück für Stück die ganze Burg hinter sich abbrennen und darauf hoffen, daß die Quorrl fünfmal hintereinander den gleichen Fehler begingen.

Skar sah sich mit unverblümter Sorge um. Die zweite Wehrmauer war weitaus höher und dicker als die erste, die Tore kleiner und leichter zu verteidigen, so daß sie Titchs Krieger sicher noch eine Weile würden aufhalten können. Aber hinter ihr gab es nichts mehr, um den Quorrl Einhalt zu gebieten - jenseits des Hofes, in dem gestern noch die Hunde gewesen waren, begann die eigentliche Festung - ein Labyrinth ineinandergeschachtelter Gebäude und winziger Höfe, Türme und steinerner Würfel, Gänge und Stollen, Treppenschächte und Säle, in denen sie den Angreifern praktisch ungeschützt gegenüberstehen würden. Sie hatten keine Taktik für den Fall ausgearbeitet, daß die Quorrl den Durchbruch schafften, sondern ihre gesamte Kraft darauf konzentriert, ihn so lange wie möglich hinauszuzögern und den Quorrl so teuer wie möglich zu machen. Danach war jeder Mann auf sich selbst gestellt. Der Gedanke, den letzten Kampf seines Lebens in diesen finsteren, kalten schwarzen Gängen der Burg fechten zu müssen, entsetzte Skar.

Sein Blick tastete über die bleichen, von Erschöpfung und Furcht gezeichneten Gesichter der Männer, die rechts und links von ihm Aufstellung genommen hatten. Unten im Hof brannten die Flammen jetzt schon nicht mehr so hoch, der Rauch begann auseinanderzutreiben, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Quorrl zu ihrem nächsten - und vermutlich letzten - Sturm ansetzten. Ihm fiel auf, wie still es war. Mit Ausnahme Dels und ihm selbst gab es hier oben keinen, der an der Verteidigung der ersten Mauer teilgehabt hatte - Skar hatte selbst die unverletzt gebliebenen Männer zurückgeschickt und gegen frische Kräfte ausgetauscht, aber auch sie wirkten müde und trotz der ermunternden Worte, die sie sich manchmal zuwarfen, niedergeschlagen und voller Furcht. Er erinnerte sich daran, daß diese Männer nicht halb so ausgeruht waren, wie es schien - sie hatten einen Gewaltmarsch durch die Nacht, die Überquerung des noch halb vereisten Flusses und den Alptraum des Durchbruches durch Titchs Heer hinter sich, und die wenigen Stunden Ruhepause, welche die Quorrl ihnen gewährt hatten, waren kaum ausreichend, sie frische Kräfte schöpfen zu lassen. Aber das war nicht alles. Eine Veränderung war mit diesen Kriegern vor sich gegangen, etwas, das er weder mit Worten noch mit Gedanken beschreiben konnte, aber überdeutlich spürte. Auf eine schwer zu fassende Art wirkten sie plötzlich alle gleich, äußerlich verschieden, aber alle von ... etwas beseelt, erfüllt von einem Geist, der nicht der des Kampfes war. Es war überall der gleiche Blick, dem er in ihren Augen begegnete: voller Angst, aber auch irgendwie entschlossen, erfüllt von einer Härte, die ihn schaudern ließ.

Er schüttelte den Gedanken ab. Vielleicht war es Einbildung. Vielleicht projezierte er nur seine eigene Angst und Verbitterung in diese Männer. Vielleicht war es auch nur der böse Atem dieser Festung den er spürte. Es spielte keine Rolle mehr. Wenn diese Festung wirklich so etwas wie einen bösen Geist hatte, dann hätte er längst gesiegt.

»Weißt du, welcher Gedanke mich am meisten quält?« fragte Del neben ihm. Skar zuckte mit den Schultern, blickte ihn fragend an.

»Die Vorstellung, daß wir hier vielleicht das Schicksal einer ganzen Welt entscheiden«, fuhr Del fort. Er schüttelte den Kopf, seufzte. »Eine Schlacht zwischen zwei verbündeten Heeren - geschlagen in diesem Grab.« Er seufzte wieder, verbarg für einen Moment das Gesicht zwischen den Händen und atmete so tief ein, daß es sich beinahe schon wie ein Keuchen anhörte.

»Wir hätten Titchs Angebot annehmen und ihm auf offener Ebene gegenübertreten sollen«, sagte er.

»So?« fragte Skar. »Glaubst du, wir hätten eine Chance gehabt?«

Del machte eine fahrige, ausweichende Bewegung. »Nein«, gestand er, lächelte bitter und deutete auf das Labyrinth aus schwarzen Türmen und Höfen herab, das sich unter ihnen erstreckte. »Aber ich wäre lieber unter freiem Himmel gestorben als im Inneren dieses Ungeheuers.«

Und irgendwo in diesen Worten lag die Lösung verborgen. Plötzlich wußte Skar, woher diese quälende Unruhe kam, die Angst, die so sonderbar neu und gleichzeitig vertraut gewesen war; was es war, das er in den Augen der Männer zu sehen geglaubt hatte. Er starrte Del an, wollte etwas sagen, aber er bekam keinen Laut heraus. Alles war falsch, dachte er. Sie waren getäuscht worden, gründlicher, als er bisher auch nur geahnt hatte. Nicht die Quorrl waren die wirkliche Gefahr - es war immer noch diese Festung, die ihrer aller Denken und Handeln vergiftete. Sie war es immer gewesen, und sie hatten die Beweise dafür sogar in der Hand gehabt. Er hatte die Wahrheit sogar ausgesprochen, wortwörtlich und Del gegenüber, in einer ihrer zahllosen Auseinandersetzungen, aber sie hatten sie einfach nicht erkannt; genauer, etwas hatte sie sie nicht erkennen lassen. Bis zu diesem Moment.

»Was hast du?« fragte Del, dem das Erschrecken auf Skars Gesicht nicht entgangen war. Er versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, bemerkte er.

»Das habe ich auch« antwortete Skar. Plötzlich fuhr er hoch und packte Del so überraschend bei den Schultern, daß er fast aus dem Gleichgewicht geriet. »Großer Gott, Del, wir dürfen nicht weiterkämpfen!« schrie er. »Hörst du? Wir müssen aufhören!«

Del streifte seine Hände ohne sichtliche Anstrengung ab und schüttelte verwirrt den Kopf. »Was?«

»Begreifst du denn nicht?« fuhr Skar beinahe verzweifelt fort. »Es ist diese Festung! Das Netz ist hier! Es ist immer hiergewesen! Und es wird stärker, je mehr wir uns wehren! Es lebt von unserer Furcht!«

Del starrte ihn an. Aber er begriff nicht. Er hatte den Hund gesehen, der dem Parasiten zum Opfer gefallen war, nachdem er getötet hatte, er hatte Jamaß erlebt, den das Netz vernichtete, nachdem er eingesehen hatte, daß seine Lage aussichtslos war, aber er begriff noch immer nicht, was das alles wirklich bedeutete.

»Skar!« beschwor er ihn. »Komm zu dir. Du -«

»Ich war noch nie so sehr bei mir wie jetzt!« brüllte Skar. »Versteh doch! Wir machen es nur stärker, mit unserem Kampf! Es ist genau, wie Kiina sagte! Dasselbe wie in Elay! Wir füttern dieses Ungeheuer, mit jedem Toten, den dieser Kampf fordert!« Auf der anderen Seite der Mauer erscholl ein mißtönendes Posaunensignal, und aus dem teils fragenden, teils besorgten Ausdruck auf Dels Gesicht wurden wieder die harten Züge eines Kriegers. Auch Skar fuhr herum und sah, wie sich das Quorrl-Heer draußen vor der Burg wieder in Bewegung setzte.

Etwas geschah. Skar sollte sich nie darüber klar werden, ob er es gewesen war, der das letzte Tor aufstieß, indem er ihren wirklichen Feind erkannte und ihn zum Handeln zwang, ehe er die Wahrheit aussprechen konnte, oder ob er es einfach spürte, Sekunden vor den anderen Männern - aber plötzlich war es, als könne er die Gefühle all dieser Hunderter und Aberhunderter Krieger spüren, die mit ihnen auf die Mauer gekommen waren. Er fühlte, wie etwas umschlug, wie aus der Angst und Mutlosigkeit noch einmal Zorn wurde, Trotz und Entschlossenheit, so lange Widerstand zu leisten, wie es ging, wie das plötzlich gar keine Angst mehr, keine Furcht war, sondern nur noch Haß, brennender, allesverschlingender Haß, der den Quorrl dort draußen galt und nichts Rationales mehr an sich hatte.

Und er spürte, wie etwas aus der Burg herausgriff und den Haß und die Angst dieser Männer aufsaugte wie ein Vampir das Blut seines Opfers, etwas Unsichtbares, unendlich Altes, unendlich Finsteres, unendlich Starkes. Er fühlte sich wie im Inneren einer Blase eingeschlossen, die sich unerbittlich zusammenzog. »Nein!« keuchte er. »Tut es nicht!«

Del starrte ihn verblüfft an, aber er schien im allerletzten Moment zu ahnen, was er vorhatte, denn er versuchte, ihn noch zurückzuhalten, aber die Angst gab Skar übermenschliche Kräfte. Er schleuderte Del zur Seite, war mit einem Satz bei der Mauer und stieß die beiden Männer zur Seite, die vor ihm standen. Er beugte sich über die Zinnen hinaus und blickte hinab zu dem heranstürmenden Quorrl-Heer. Eine riesige, ganz in Gold und Rot gehüllte Gestalt führte den Ansturm der Schuppenkrieger.

»Nein!« brüllte er, so laut er konnte. »Titch, tu es nicht! Wir dürfen nicht mehr kämpfen! Es ist das Netz! Es wird uns alle vernichten, wenn ihr

Eine Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn grob zurück, dann traf ihn der Schlag einer flachen Hand ins Gesicht und schleuderte ihn zu Boden. Wie durch einen blutigen wogenden Schleier erkannte er Dels Gesicht, den unmenschlichen Zorn, der in seinen Augen flammte.

»Bist du wahnsinnig geworden?« schrie Del. Unter ihren Füßen erbebte die Mauer unter dem Anprall der Quorrl, und ein tiefer, knirschender Laut, der von einem Chor triumphierenden Gegröls gefolgt wurde, verriet Skar, daß das Tor schon beim ersten wuchtigen Schlag der Ramme nachgegeben hatte. Aber Del schien es gar nicht zu hören. Wieder packte er Skar, zerrte ihn in die Höhe und holte aus, als wolle er ihn abermals schlagen, versetzte ihm dann aber nur einen Stoß, der ihn zurück und in die Arme zweier Krieger taumeln ließ.

»Haltet ihn fest!« befahl er hart. »Bindet ihn, und dann bringt ihn weg. Er ist wahnsinnig geworden!«

»Nein!« brüllte Skar. Verzweifelt bäumte er sich gegen den Griff der harten Fäuste auf, aber seine Kraft reichte jetzt nicht mehr, ihn zu sprengen. »Del, versteh doch! Wir tun ganz genau, was sie von uns wollen!«

Aber Del hörte gar nicht mehr zu. Mit einer wütenden Bewegung schloß er das Visier seines Helmes, packte sein Schwert mit beiden Händen und war mit einem Satz bei der Mauerkrone, über der bereits die ersten Sturmleitern und -balken auftauchten. Skar wehrte sich mit aller Kraft, aber die beiden Krieger wußten, wie sie seiner Herr werden konnten. Er bekam einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn abermals zu Boden sinken ließ, dann wurden seine Arme nach hinten gedreht, und einer der beiden Männer löste seinen Gürtel, um Skar mit dem schmalen Lederstreifen zu binden.

Er führte die Bewegung niemals zu Ende.

Skar sah alles mit entsetzlicher Klarheit, und obwohl er es erwartet hatte, entsetzte ihn das Geschehen so sehr, daß er sekundenlang wie erstarrt dastand. Es war mehr als nur ein Zufall, daß er überlebte.

Ein weiterer, ungeheuerlicher Stoß traf die Burgmauern, so hart, daß der Mann, der ihn hatte fesseln wollen, mit einem überraschten Keuchen vor ihm auf die Knie herabfiel. Der Fels unter ihren Füßen bebte, und für einen Moment war es, als winde sich die gesamte Festung wie in einem Krampf. Aber es war kein weiterer Anprall der gigantischen Ramme gewesen; das Tor war längst geborsten, und fünfzig Meter unter ihnen strömten bereits die ersten Quorrl ins Innere der Festung. Es war ein Stoß, der die Festung von innen heraus erschütterte, die letzte, fürchterliche Anstrengung, mit der sich die Bestie endgültig befreite. Nur ein paar Zoll neben dem Satai platzte die Wand auf. Eine dünne, handgroße Steinplatte löste sich und zerbarst, noch bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte, aber dahinter war kein Stein! Dem Satai blieb nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Ein Bündel haardünner schwarzer peitschender Fäden zuckte aus der Mauer, klatschte in sein Gesicht und hüllte es ein wie eine tausendfingrige Hand. Der Krieger wurde zu Boden und mit entsetzlicher Wucht gegen die Mauer gerissen, und fast in der gleichen Sekunde platzte der Stein auch an einem Dutzend anderer Stellen auf, schwarze, peitschende Arme griffen wie blinde Schlangen in die Luft, tasteten nach Skar und dem zweiten Satai, der ihn hielt, ringelten sich um dessen Beine und Arme und begannen mit ungeheuerlicher Kraft zu zerren.

Skar reagierte blind. Er ließ sich einfach nach hinten fallen, spürte, wie einer der dünnen Fäden, die sich um seine Knie gewickelt hatten, riß und die anderen ihn mit brutaler Kraft wieder auf die Mauer zuzuziehen trachteten, und holte blitzschnell seine Waffe aus dem Gürtel. Die Klinge zerschnitt das noch dünne, schwarze Gewebe, das sich an ihm festgesaugt hatte, aber fast sofort griffen neue dünne Ärmchen nach ihm. Er sprang zurück, hieb blindlings um sich und spürte, wie der Boden unter seinen Füßen zu knistern begann. Die oberschenkeldicken Balken des Wehrganges wölbten sich, schlugen Blasen wie flüssiger Teer, und plötzlich quollen Millionen und Abermillionen mikroskopisch feiner zuckender schwarzer Fäden zwischen ihren Ritzen hervor. Das Wandstück, das den Satai verschlungen hatte, zerbrach endgültig, und heraus kam etwas, das an eine absurde schwarze Hand mit viel zu vielen Fingern erinnerte und sich rasend schnell auszubreiten begann. Mit einem Male gellten überall auf dem Wehrgang Schreie auf, Schmerzens- und Angstschreie, in die sich das Krachen berstenden Steines und das Knirschen auseinanderbrechender Balken mischte. Schon bevor er herumfuhr, wußte er, was er sehen würde.

Aber er hatte nicht geahnt, wie schlimm es war.

Die gesamte Mauerkrone war zu schwarzem würgendem Leben erwacht. Das Netz war überall, und es wuchs mit irrsinniger Geschwindigkeit. Ein Teil des Wehrganges schien wie unter einem Wust sich windenden, ineinandergeknäulten schwarzen Wurzelwerkes verschwunden zu sein, stachelige schwarze Bälle, die sich hin und her bewegten und alles verschlangen, was sich ihnen in den Weg stellte. Dutzende von Kriegern hatten sich bereits unrettbar in das zuckende schwarze Netz verstrickt; manche schreiend vor Angst und noch um sich schlagend, andere bereits reglos, tot oder ohne Besinnung, und schon zu einem Teil des gewaltigen Monstrums geworden, das sich unaufhaltsam weiter ausbreitete.

Etwas berührte seinen Fuß. Skar schrak zusammen, sah ein dünnes schwarzes Gewebe an seinem Bein emporkriechen und schlug blitzschnell mit dem Schwert zu; die Klinge durchtrennte das haarfeine Gespinst, aber aus dem Balken, auf dem er stand, quollen neue Fäden, krochen aufeinander zu und verknäulten sich, schienen dabei zu wachsen, dicker und widerstandsfähiger zu werden. Der Anblick war auf eine morbide Art so faszinierend, daß Skar um ein Haar die Gefahr vergessen hätte, die er bedeutete. Erst im letzten Moment prallte er zurück, wirbelte herum und versuchte, die Treppe zu erreichen.

Er machte nur einen Schritt. Del und er waren kaum zwanzig Fuß vom Treppengang entfernt gewesen, aber wo sich noch vor Augenblicken die schmale, steil in den Hof hinabführende Treppe befunden hatte, wogte und zitterte jetzt ein Meer schwarzer glitzernder Schlangen, aus denen stachelbewehrte Arme nach ihnen schlugen.

Skar fuhr verzweifelt herum und blieb abermals stehen. Es gab auch hinter ihm keinen Weg mehr. Das Netz war überall, bedeckte die Mauerkrone von einem Ende zum anderen und wuchs noch immer. Die wenigen noch freigebliebenen Stellen schmolzen rasend schnell zusammen und machten einem finsteren, zitternden Teppich Platz, aus dem nur noch hier und da der halb eingesponnene Körper eines Satai oder Veden ragte. Da und dort war das Gewebe bereits so dicht geworden, daß es eine kompakte Masse zu bilden schien; fürchterliche Kokons, die ihre Opfer einschlossen, wie sie es bei Bradburn gesehen hatten. Etwas wie eine schwarze beinlose Spinne floß und wabbelte auf ihn zu und bildete plötzlich dünne peitschende Ärmchen aus, die nach seinen Füßen griffen. Etwas zupfte an seinem Mantel. Skar fuhr entsetzt herum, schlug blindwütig nach dem fast armdicken schwarzen Strunk, der ihn von hinten zu ergreifen versucht hatte, sah sich eine halbe Sekunde lang mit wachsender Verzweiflung um - und war mit einem Satz bei der Mauer.

Ohne auf das schwarze Gespinst zu achten, das sich um seine Füße zu schlingen versuchte, packte er die Sturmleiter, die von außen dagegengelehnt war, schwang sich mit dem Mut der Verzweiflung zwischen den Zinnen hindurch und schien für einen grauenhaften, endlosen Augenblick im Leeren zu schweben, ehe seine pendelnden Füße Halt auf der obersten Sprosse fanden. Eine schwarze Peitschenschnur zuckte über die Mauer, wickelte sich um die Leiter und begann, ihm nachzukriechen. Panikerfüllt kletterte er los, überwand zwei, drei der nicht für Menschen gemachten, viel zu weit auseinanderstehenden Sprossen und begegnete dem Blick eines total verblüfften Quorrl, der von unten die Leiter hinaufgestiegen kam und sich wahrscheinlich vergeblich fragte, ob dies eine neue Art der Verteidigung war - oder einfach nur ein Verrückter.

Skar gab ihm keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden, sondern trat ihm so heftig auf die Finger, daß er mit einem Schmerzensschrei losließ und plötzlich nur noch an einer Hand hing, vierzig Meter über den Köpfen seiner Kameraden, die durch das offenstehende Tor in die Burg und den sicheren Tod stürmten.

Skar sah nach oben. Das Netz war ihm nachgekrochen, aber seine Bewegungen verlangsamten sich zusehends. Dann geschah etwas Seltsames: Für einen Moment erstarrte das schwarze Gespinst - und begann, sich ganz langsam zurückzuziehen.

Trotzdem war er damit keineswegs außer Gefahr. Der Quorrl unter ihm brüllte vor Wut und Angst, angelte mit ungeschickten Bewegungen nach der Leitersprosse und bekam sie endlich wieder zu fassen. Skar trat ihm erneut auf die Finger, und wieder hing der Krieger nur an einer Hand über dem Nichts. Aber er konnte das Spielchen nicht ewig fortsetzen. Hinter dem ersten Quorrl kletterten weitere Schuppenkrieger die Leiter hinauf, und seine aberwitzige Flucht über die Mauer war nicht unentdeckt geblieben - kaum zehn Meter neben ihm hielt ein anderer Quorrl auf einer Leiter inne, lehnte sich gegen die Mauer und begann, einen Bogen vom Rücken zu lösen.

Skars Gedanken überschlugen sich. Er hatte nur noch Sekunden, so oder so, und die Wand links von ihm war voller Quorrl, welche die Mauerkrone schon fast erreicht hatten. Unter ihm - beunruhigend dicht unter ihm - war eine große Anzahl Quorrl dabei, einfach an der Mauer hinaufzuklettern. Verzweifelt drehte er sich herum. Auf der anderen Seite gab es keine Leitern, und der Turm war nur zwanzig Manneslängen entfernt.

Wäre ihm Zeit geblieben, über diesen wahnwitzigen Einfall nachzudenken, hätte er sich möglicherweise eher die Hände abhacken lassen, ehe er es auch nur versuchte, aber er hatte keine Zeit, und wahrscheinlich rettete ihm dieser Umstand das Leben. Skar trat dem Quorrl, der endlich wieder Halt gefunden hatte, zur Abwechslung auf die andere Hand, verschwendete sogar noch eine halbe Sekunde daran, ihm ein schadenfrohes Grinsen zuzuwerfen - und löste vorsichtig die rechte Hand und den rechten Fuß von der Leiter. Seine Finger tasteten über rauhes, rissiges Gestein, verkrallten sich in den daumenbreiten Fugen und natürlichen Vertiefungen und klammerten sich fest.

Skar raffte allen Mut und alle Kraft zusammen, die er noch in sich spürte, löste auch die andere Hand und den linken Fuß von der Leitersprosse und hielt sich in verzweifelter Anstrengung an der Wand fest. Langsam, Handbreit um Handbreit, schob er sich von der Leiter und den hinaufstürmenden Quorrl weg, auf den Turm und das schmale, verschlossene Fenster zu, das er darin gesehen hatte. Skar dankte im stillen allen Göttern, daß sie keine Zeit mehr gefunden hatten, sie zuzumauern.

Der Weg war nicht einmal sehr weit, und die Angst gab ihm zusätzliche Kraft, so daß er kaum fünf Minuten brauchte, die zwanzig Meter zu überwinden. Die Mauer war unebener, als es von oben ausgesehen hatte, und seine Finger- und Zehenspitzen fanden ausreichend Halt; unter normalen Umständen wäre eine solche Klettertour für einen geschickten Mann wie ihn nicht einmal besonders gefährlich gewesen. Aber die Umstände waren nicht normal.

Die Quorrl, die unter ihm die Wand hinaufstiegen, kamen beunruhigend schnell näher, und auch unten im Hof hatte man die einsame Gestalt erblickt, die sich waagerecht an der Wand entlangschob. Pfeile sirrten zu ihm hinauf. Die meisten verfehlten ihn, aber zweimal rettete ihn nur sein lederner Harnisch davor, einfach heruntergeschossen zu werden wie eine Tontaube auf dem Schießstand. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Quorrl eine weitere Sturmleiter herbeischleppten und darangingen, sie unmittelbar unter dem Fenster gegen die Wand zu lehnen. Skar verdoppelte seine Anstrengungen, wobei er immer wieder nach oben blickte, darauf gefaßt, einen Teppich schwarzer peitschender Fäden die Wand hinunterfließen zu sehen. Aber das Netz rührte sich nicht. Skar begriff mit einem Gefühl eisigen Entsetzens, daß es eine denkende Kraft war, die es lenkte. Es wartete auf die Opfer, die freiwillig zu ihm hinaufgestiegen kamen, statt sich durch die Jagd auf einen einzelnen Mann zu verraten.

Die Leiter krachte unmittelbar neben ihm gegen die Wand, ihr oberes Ende nur noch eine halbe Armeslänge von der Fensterbrüstung entfernt. Als Skar in die Tiefe sah, begannen zwei, drei, vier, fünf Quorrl dicht hintereinander die Sprossen hinaufzuturnen. Er kletterte schneller. Als der vorderste Quorrl die Leiter zur Hälfte überwunden hatte, fand er festen Halt an den groben Sprossen, schwang sich hinauf und überwand den letzten Meter zum Fenster mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung.

Beinahe wäre es seine letzte gewesen.

Das Fensterglas zerbarst. Die fingerbreite Klinge eines Tschekal erschien inmitten eines Hagels kleiner bunter Glassplitter, stach nach seinem Gesicht und zuckte im allerletzten Moment zurück. Skar fluchte, schlug den Rest der Scheibe mit dem gepanzerten linken Arm ein und zog sich mit einem erschöpften Keuchen ganz durch das Fenster.

Er hörte einen überraschten Ausruf. Eine Hand griff nach ihm, aber er war schneller von selbst auf den Füßen, als sie ihn hochziehen konnte.

»Ihr?« fragte der Satai, der ihn um ein Haar niedergestochen hätte, aufs höchste überrascht. Seine Augen waren weit vor Schrecken. »Aber wie -?«

Skar schnitt ihm mit einer hastigen Bewegung das Wort ab. »Raus hier!« drängte er. »Schnell! Bevor es hier ist!«

Der Satai blinzelte verwirrt. Er war nicht allein. Insgesamt waren es vier Mann, welche die kleine Kammer besetzten - genug, um das winzige Fenster allein gegen eine Armee zu verteidigen, und ganz offensichtlich begriff er Skars Befehl nicht. Wie konnte er auch?

»Flieht!« rief Skar ihnen noch einmal zu. »Ich spreche nicht von den Quorrl! Versucht irgendwie aus der Festung herauszukommen!«

Einer der Männer reagierte sofort - er fuhr herum und stürzte auf den Gang hinaus, noch ehe Skar vollends zu Ende gesprochen hatte, aber die drei anderen starrten ihn einfach nur weiter blöde an, so daß Skar schließlich einem von ihnen einfach einen Stoß versetzte, der ihn rücklings durch die Tür trieb.

»Raus hier!« brüllte er noch einmal. »Das ist ein Befehl. Verlaßt die Festung! Die Quorrl werden euch nichts tun, sagt das allen. Schnell!«

Er war der letzte, der den Raum verließ, und als er die Tür zuzog, erscholl hinter ihm ein scharrendes Geräusch, das bewies, daß seine Verfolger nicht mehr weit waren. Trotzdem blieb er einen winzigen Moment lang stehen und sah sich um. Er wußte, wo er war, aber er war so in Panik, daß ihm der richtige Weg zum Thronsaal nicht mehr einfiel. Kiina. Er mußte Kiina retten, irgendwie.

Etwas krachte von innen gegen die Tür. Inmitten des splitternden Eichenholzes erschien die Klinge einer quorrlschen Kriegsaxt, und Skar rannte blindlings los.

Er erreichte das Ende des Ganges, hörte Schreien und Waffengeklirr vom unteren Ende der Treppe und warf sich mitten in der Bewegung herum, um nach oben zu stürmen. Er wußte nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit es begonnen hatte, aber egal, wie viel oder wenig es gewesen sein mochte, es war auf jeden Fall genug, daß sich schon Tausende von Quorrl im Inneren der Festung befanden. Und wahrscheinlich gab es nicht mehr viele Verteidiger, die sich ihnen in den Weg stellten.

Er erreichte die nächste Etage, wandte sich nach links und rannte mit weit ausgreifenden Schritten los. Schwarze Schatten huschten über die Wände. Vor einem Fenster hing etwas, das ein staubverkrustetes Spinnennetz sein mochte, genausogut aber auch etwas entsetzlich anderes. Skar zwang sich, nicht hinzusehen, warf sich durch die Tür am Ende des Korridores - und prallte mit einem gellenden Schrei zurück.

Heute morgen, als er das letzte Mal hiergewesen war, war dieser Raum ein Lager gewesen, eine kleine halbrunde Kammer, in der Waffen und Verbandszeug bereitgehalten wurden und eine Handvoll Männer der Schlacht entgegendösten.

Jetzt war es wie ein Blick in die Hölle.

Das Grau der Wände war einem schwarzen, zuckenden Teppich gewichen. Tausende von langen, sich überkreuzenden und verknotenden Fäden verwandelten die Kammer in ein gigantisches dreidimensionales Spinnennetz, so dicht gewoben, daß man kaum die Hand hindurchstrecken konnte, ohne einen der Fäden zu berühren. Schwarze, faustgroße Klumpen, die auf entsetzliche Weise zu leben schienen, hingen wie pumpende amorphe Herzen inmitten des Höllengespinstes.

Und auf dem Boden lagen drei mannsgroße, unförmige Kokons. Sie bewegten sich. Lebten. Nein, dachte Skar entsetzt, sie lebten nicht - sie umschlossen etwas Lebendes.

Dann platzte eine der schwarzen Hüllen auf, teilte sich mit einem widerwärtigen feuchten Geräusch und gewährte ihm einen Blick auf ein graues, von entsetzlicher Qual verzerrtes Gesicht. Der Mund des Mannes öffnete sich wie zu einem Schrei, aber kein Laut drang hervor, sondern etwas Schwarzes, sich Windendes, Glitzerndes...

Skar schrie auf, taumelte zurück und rannte wie von Furien gehetzt los. Aber er hörte erst auf zu schreien, als er die Treppe erreichte und die ersten Quorrl vor ihm auftauchten.

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