Sie hatten noch lange miteinander geredet, und sie hatten noch länger gebraucht, um zur Burg zurückzukehren. Trotzdem war das Heer nicht merklich näher gekommen, als Skar sich unter dem Tor ein letztes Mal umdrehte und nach Westen sah - es bedeckte die Schnee-Ebene jenseits des Flusses jetzt wie ein schwarzer Ausschlag, und so weit der Blick nur reichte, aber seine Spitze war nicht sichtbar näher gekommen. Sie trennten sich. Titch ging zu seinen Leuten zurück, um die Räumung der Burg zu überwachen, die er angekündigt hatte, und alles Notwendige für seinen Aufbruch zu regeln - er würde einen Nachfolger bestimmen und tausend Dinge regeln müssen, aber das war nur gut so. Skar war sich bis zuletzt nicht sicher, ob der Quorrl seine Bitte erfüllen und seine Begleitung akzeptieren würde, und er wußte, daß Titchs Krise noch lange nicht vorüber war. Das Geschehen draußen zwischen den Felsen hatte den Quorrl bis ins Innerste erschüttert, und es würde noch lange dauern, bis er den Schock überwand; wenn überhaupt. Irgendwann würde er anfangen, daran zu zweifeln, daß es richtig war, einen Menschen mit ins Allerheiligste der Quorrl zu nehmen. Und Skar wollte möglichst weit von hier weg sein, wenn dieser Moment kam. Er nahm sich vor, Titch bis zu ihrer Abreise unauffällig im Auge zu behalten und ihn - wenn nötig - so beschäftigt zu halten, daß ihm keine Zeit zum Nachdenken blieb.
Er suchte Del, fand ihn aber weder in seinem Zimmer noch im Thronsaal und fragte schließlich eine der Wachen. »Der Hohe Satai ist zu den Tierställen hinuntergegangen, Herr«, meldete der Mann. »Vor einer Stunde. Zusammen mit der Errish.«
»Zu den Ställen?« fragte Skar verwundert.
»Einer der Hundetrainer kam, Herr. Er war sehr aufgeregt. Ich habe nicht gehört, was gesprochen wurde, aber kurz darauf verließen er und der Hohe Satai in großer Eile den Turm.« Er machte eine fragende Geste. »Ihr kennt den Weg?«
»Nein«, antwortete Skar. »Führe mich. Und schnell.«
Sie verließen den Turm, überquerten den Hof und näherten sich den Pferdeställen, wandten sich aber kurz vorher nach rechts und betraten einen zweiten, etwas kleineren Innenhof durch einen kurzen gemauerten Gang. Der scharfe Raubtiergeruch von Quorrl schlug ihm entgegen, vermischt mit dem Wolfsgestank der Hunde und einem ganzen Chor knurrender und kläffender Tierstimmen. Skar sah zahllose, aus Holz oder Metall gefertigte Käfige, in denen Hunderte der schwarzen Tiere eingesperrt waren, dazu eine fast noch größere Anzahl, die nur an langen Ketten oder gar frei liefen. Hier und da waren Quorrl - und auch einige wenige Satai, wie Skar fast überrascht feststellte - mit einzelnen Tieren beschäftigt.
Sein Führer winkte den ersten Quorrl herbei, der ihren Weg kreuzte, und wechselte ein paar halblaute Worte mit ihm. Dann wandte er sich wieder an Skar. »Sie sind dort drüben, Herr«, meldete er. »In dem Gebäude auf der anderen Seite.« Er deutete auf einen schwarzen, quaderförmigen Bau ohne Fenster, der wie ein massiver Felswürfel an die Hofmauer angelehnt war. Skar winkte ab, als er ihn begleiten wollte.
»Es ist gut«, beschied er ihm. »Geh auf deinen Posten zurück. Wenn Titch nach mir fragen sollte, schick ihn hierher. Keinen anderen.«
Er wartete die Antwort des Mannes nicht ab, sondern ging einfach los. Er fragte sich, was Del hier tat. Del verabscheute die Kampfhunde lange nicht so wie er, aber er liebte sie auch nicht gerade; niemand tat das, der einmal gesehen hatte, wie eines dieser Tiere einen Menschen bei lebendigem Leibe zerriß. Skar fragte sich, wie Del wohl reagieren würde, erführe er, daß es Titch gewesen war, der den Hund - durch seinen Krieger - auf den Satai gehetzt hatte. Natürlich würde er es ihm nicht verraten.
Die Käfige standen so eng auf dem Hof, daß Skar zu einem wirren Zickzack gezwungen wurde, um ihnen nicht zu nahe zu kommen. Einige der Hunde begannen zu kläffen, wenn er ihnen nahe kam; andere knurrten nur drohend oder starrten ihn voller Wachsamkeit an, aber auf eine Art, die ihm fast noch mehr Angst machte als das Zähnefletschen und Geifern der anderen Tiere. Er war froh, als er den Hof endlich überquert hatte und das Gebäude betrat, in dem Del sein sollte.
Zunächst jedoch fand er weder Del noch Kiina, sondern einen grimmig dreinblickenden Posten, der ihm mit gezücktem Schwert den Durchgang verwehren wollte.
»Was soll das?« fragte Skar ungehalten. »Geh aus dem Weg!«
»Niemand darf hier rein«, belehrte ihn der Posten grob. »Hau ab!«
»Wer hat das angeordnet?« fragte Skar.
»Der Hohe Satai«, antwortete der Mann, dessen Gesicht Skar in der hier drinnen herrschenden Dunkelheit nicht erkennen konnte. »Und ich.«
»Gut«, knurrte Skar. »Dann sagt dir jetzt ein anderer Hoher Satai, daß du mich durchläßt - und zwar auf der Stelle.«
»Ein an -?« Der Mann brach verwirrt ab, kam einen halben Schritt näher und fuhr erschrocken zusammen, als er Skar im Licht einer einzelnen, trüb brennenden Öllampe erkannte. Überhastet trat er zur Seite. »Verzeiht, Herr!« entschuldigte er sich. »Ich habe nicht gesehen, daß Ihr es seid.«
Skar winkte ab. Sein grober Ton tat ihm schon wieder leid. Der Mann führte nur einen Befehl aus. »Schon gut«, lenkte er ein. »Wo ist Del?«
Der Posten deutete auf eine Tür am anderen Ende des winzigen Vorraumes. »Dort drinnen«, meldete er. »Aber Ihr solltet... nicht hineingehen. Er hat es verboten.«
»Auch für mich?«
Die Frage verunsicherte den Posten. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Nein«, meinte er. »Sicher nicht.«
»Dann mach die Tür auf«, befahl Skar, hielt den Mann aber dann noch einmal am Arm zurück, ehe er die Tür erreichte. »Was ist dort drinnen los?« fragte er. »Was ist passiert?«
Der Blick des Kriegers begann zu flackern. »Der Hund, Herr«, antwortete er. »Es ist der Hund.« Skar fiel erst jetzt auf, daß sein Gesicht bleich war, als hätte er etwas gesehen, was ihn über die Maßen erschreckte. Er starrte an ihm vorbei ins Leere. »Del - der Hohe Satai - hatte mir Befehl gegeben, ihn zu töten, aber ich ... ich konnte nicht. Ihr solltet ihn Euch selbst ansehen!«
»Was soll das heißen, du konntest nicht?« fragte Skar.
Der Blick der schreckgeweiteten Augen wandte sich ihm zu, und was er darin las, war der nackte Terror. Etwas hatte diesen Mann bis auf den Grund seiner Seele erschreckt. »Er... er hat sich verändert«, sagte er. »Ich habe nie etwas Entsetzlicheres gesehen, Herr. Etwas ... klebt an ihm.«
Skar blickte ihn einen Moment lang unentschlossen an, fuhr dann herum und stieß ohne ein weiteres Wort die Tür auf. Der Raum, der dahinter lag, war sehr viel größer als die kleine Türkammer und von einem halben Dutzend Fackeln hell erleuchtet, aber fast leer. Del, Kiina und zwei weitere Satai standen in der gegenüberliegenden Ecke über etwas Schwarzes, Formloses gebeugt, und alle vier fuhren erschrocken herum, als sie das Geräusch der sich öffnenden Tür hörten. Dels Gesicht überzog sich mit Zorn, aber dann erkannte er Skar.
»Skar! Gut, daß du da bist. Schließ die Tür. Und dann komm her - rasch!«
Skar gehorchte. Sein Herz begann zu klopfen, während er sich Del und den drei anderen näherte - und dem, was sie umstanden. Die beiden Satai wichen respektvoll zur Seite, um ihm Platz zu machen.
Es war der Hund, und es war so, wie es der Mann draußen beschrieben hatte - etwas klebte an ihm. Nur, daß es für Skar nicht etwas war, ebensowenig wie für Del oder gar Kiina. Sie kannten es. Nur zu gut.
Es war das Netz; das gleiche, schwarzglitzernde dünne Spinnennetz, das die Körper der Errish und ihrer Drachen bedeckt hatte, nur feiner, weitmaschiger, und es hüllte den Hund nicht vollkommen ein, sondern war nur an seinen Hinterläufen und einem Teil seines Bauches emporgekrochen. Der Hund lag auf der Seite und atmete schwer; die Zunge hing ihm aus dem Hals, und ein Blick in seine Augen überzeugte Skar davon, daß er entsetzliche Schmerzen leiden mußte.
»Großer Gott!« flüsterte Skar. »Was ist das?«
Del antwortete nicht gleich; nicht einmal so sehr deshalb, weil er die Frage für überflüssig hielt oder gar die Antwort nicht wußte, sondern wohl eher, um Skar einen Moment Zeit zu lassen, den entsetzlichen Anblick in allen Einzelheiten in sich aufzunehmen.
»Das ist der Hund, der den Satai getötet hat, heute morgen«, teilte er ihm nach einer Weile mit. »Der Mann draußen war sein Trainer. Vor einer Stunde kam er zu mir und rief mich. Als wir herkamen, war alles schon so wie jetzt.«
Skars Herz hämmerte, und in seinem Mund war der bittere Geschmack der Angst. Wie Del, Kiina und die beiden Krieger hielt er vorsichtig zwei Meter Abstand zu dem reglosen Hund, die doppelte Länge der fingerdicken Kette, mit der das Tier an den Boden gebunden war. Sie war sehr viel stabiler als die, welche er heute morgen im Hof zerrissen hatte, und der eiserne Ring an ihrem Ende schien stark genug, daß er den Hund halten würde, wenn das Tier wirklich versuchte, sich loszureißen. »Niemand ist herein- oder herausgekommen?« fragte er, ohne den Blick von dem Hund zu wenden.
»Nein«, antwortete Del. »Der Posten behauptet es jedenfalls, und ich glaube nicht, daß er lügt. Der Hund wurde sofort hierhergebracht und angekettet.«
»Warum?«
»Es ist so üblich, Herr«, antwortete einer der beiden Satai an Dels Stelle. »Die Hunde werden getötet, wenn sie einmal Menschenblut gekostet haben. Sie sind für den Kampf dann nicht mehr zu gebrauchen.«
»Aber als er hierherkam, fand er ihn so«, fügte Del hinzu. »Er behauptet, die Tür wäre die ganze Zeit über verschlossen gewesen. Und es gibt keinen zweiten Eingang. Nicht einmal ein Fenster.«
»Aber wie ist das möglich?« verwunderte Skar sich. »Wie ist es hier hereingekommen?«
Niemand antwortete. Skar bewegte sich vorsichtig ein Stück näher an den Hund heran und versuchte, mehr zu erkennen. Es war das Netz, das Ding, das Kiina den Wächter genannt hatte, und wie bei Bradburn war es hier und da in den Körper des Tieres eingedrungen. Eine dunkle Lache hatte sich unter dem After des Tieres gebildet, und hier und da glitzerte ein einzelner Blutstropfen in seinem Fell. Als Skar die Hand hob und vorsichtig nach dem Hund ausstreckte, begann er leise zu winseln. Der Ausdruck von Schmerz in seinen Augen vertiefte sich.
»Sei vorsichtig!« warnte Del erschrocken. »Rühr ihn nicht an.«
»Natürlich nicht«, gab Skar ungehalten zurück. Er führte die Hand über den Augen des Hundes hin und her. Der Blick der dunklen Tieraugen folgte seiner Bewegung, aber der Hund rührte sich nicht. Skar war fast sicher, daß er es nicht konnte.
»Wie lange seid ihr schon hier?« fragte er.
»Vielleicht eine Stunde.«
»Und es hat sich nicht verändert, seither?«
»Nein«, antwortete Del. »Worauf wartest du - daß es wächst?« Skar zuckte mit den Schultern, stand auf und löste eine der Fackeln aus ihrer Halterung. Sorgsam untersuchte er in ihrem flackernden Licht den steinernen Boden rings um den Hund. »Das haben wir auch schon getan«, erklärte Del. »Es ist nicht aus dem Boden gekrochen.«
Was ist das, in seiner Stimme? dachte Skar. Spott - oder Angst? »Aber irgendwoher muß es gekommen sein«, warf Kiina ein. Ja, dachte Skar. Und ich weiß sogar, woher. Aber er sagte es nicht laut. Die Vorstellung war so absurd, so bizarr und undenkbar, daß er sich den Atem sparte, sie auch nur auszusprechen. Er legte die Fackel aus der Hand und bückte sich wieder zu dem Hund hinab. Einen Moment lang schloß er die Augen und lauschte in sich hinein, hob dann den Kopf und sah sich um. Es war da. Die schwarzen Wände aus gebrochenem Fels atmeten es aus, es kroch aus dem Boden und der Decke, war schon in ihnen - dasselbe, finsterdräuende Gefühl, das er am Morgen in der ausgebrannten Kammer des Predigers gespürt hatte, den Pesthauch dieser Festung.
Er stand auf. »Tötet den Hund«, befahl er den Wächtern. »Nicht so schnell!« widersprach Del. »Wir -«
Skar ignorierte ihn. Unbeirrt fuhr er fort: »Sofort. Und dann verbrennt ihn!« Er sparte sich die Warnung, das Tier nicht anzufassen. Ein einziger Blick in die von Furcht verdunkelten Augen der beiden Satai überzeugte ihn davon, daß sie sich eher die Hände würden abhacken lassen, als dieses Tier zu berühren. »Und kein Wort von dem, was ihr hier gesehen habt - zu niemandem! Ist das klar? Ihr kommt zu mir, sobald ihr hier alles verbrannt habt!«
»Wie Ihr befehlt, Herr.«
Del wollte abermals protestieren, aber Skar ergriff ihn einfach beim Arm und zog ihn mit sich aus dem Raum. Erst als sie das Gebäude verlassen hatten und rasch nebeneinander über den Hof gingen, ließ er Del wieder los.
»Sind die Männer vertrauenswürdig?« fragte er.
»Wie alle hier - ja«, antwortete Del irritiert. »Warum?«
»Weil ich keine Panik will, im letzten Moment«, antwortete Skar. »Wir müssen hier raus, Del. Wir alle. Sofort!«
Del blieb stehen. Sie hatten den Hof halb überquert, befanden sich aber noch in Hörweite einiger Quorrl, und Del wußte so gut wie er, daß die meisten der Schuppenkrieger zumindest genug von ihrer Sprache verstanden, um den Sinn seiner Worte zu begreifen. Trotzdem schrie er fast: »Bist du verrückt geworden? Was soll das, Skar? Willst du -«
»Willst du«, unterbrach ihn Skar betont, »warten, bis du deinen eigenen Männern gegenüberstehst - SO?!« Er deutete wütend auf das Gebäude zurück, aus dem sie gekommen waren, und für einen Moment war Del wirklich erschüttert. Aber nicht lange.
»Unsinn«, wiegelte er ab. »Der Hund hat sich irgendwie ...« - er suchte nach Worten - »infiziert.«
»Wie Bradburn?«
»Bradburn hat sich sein Schicksal selbst zuzuschreiben«, hielt Del ärgerlich dagegen. »Skar, ich bitte dich! Du erwartest von mir, daß ich die Burg evakuiere, nur wegen dieses Hundes?« Er schüttelte den Kopf, sah Skar plötzlich fast mißtrauisch an und wechselte die Tonlage. »Ihr wart unten bei den Felsen«, fuhr er fort. »Ihr habt etwas gefunden.«
Für einen ganz kurzen Moment war Skar fast versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber das hätte alles nur schlimmer gemacht. Er begriff sogar, daß Del nicht für sein Tun verantwortlich war. Es war diese Festung, die sein Denken vergiftete.
»Nein«, berichtete er. »Nur eine tote Frau. Sie hatte nichts bei sich, was von Wert gewesen wäre. Es war Zeitverschwendung. So wie dieses Gespräch«, fügte er hinzu. Dann drehte er sich abrupt um und ließ Del und Kiina einfach stehen.