15.

Eine starke innere und auch äußere Unruhe hatte ihn ergriffen.

Kiinas Ratschlägen - wenn auch mit einiger Verspätung - folgend, war er schließlich doch zu einem der Quorrl-Heiler gegangen, um seine Wunden neu verbinden zu lassen. Aber er kehrte nicht in seine Unterkunft zurück - der Gedanke, Del zu treffen und sich wieder mit ihm zu streiten, war ihm unerträglich -, sondern suchte Titch; warum, wußte er eigentlich selbst nicht.

Er traf ihn nicht in seiner Kammer an, aber der Posten davor erklärte ihm, daß er die ganze Nacht über wach gewesen und noch vor Sonnenaufgang zum Gemach des Heiligen Mannes gegangen sei, wie die Quorrl Bradburn unter sich nannten. Skar fand ihn auch jetzt noch dort, und er war nicht allein. Seine Quorrl schienen Dels Befehl ausgeführt zu haben, Bradburns Kammer auszubrennen, denn schon von weitem schlug Skar Brandgeruch entgegen, und als er in den Seitenstollen eindrang, an dessen Ende die Unterkunft des Predigers lag, wurde die Luft so schlecht, daß er fast Mühe hatte zu atmen. Eine dünne Schicht aus schwarzem, schmierigem Ruß bedeckte die Wände und die Decke, und seine Stiefelsohlen klebten bei jedem Schritt am Boden fest. Stimmen und dumpfe regelmäßige Hammerschläge hallten ihm entgegen, und ein riesenhafter Quorrl versuchte ihm den Weg zu verstellen, trat jedoch mit einer entschuldigenden Geste beiseite, als er ihn erkannte.

Die Kammer war von mehr als einem Dutzend Fackeln taghell erleuchtet, als er sie betrat. Titch stand, inmitten einer Gruppe aus sieben oder acht Quorrl, vor der gegenüberliegenden Wand und sah zu, wie seine Männer abwechselnd mit Hacken und großen metallenen Keulen auf das Mauerwerk einschlugen. Sie hatten bereits eine mehr als mannshohe Bresche geschlagen, hinter der schwarzfarbenes Erdreich und Gesteinstrümmer zum Vorschein kamen, und gerade in dem Moment, als Skar eintrat, löste sich ein weiteres, gewaltiges Bruchstück aus der Mauer und fiel polternd zu Boden. Titch sprang erschrocken zurück, als einer der Steinquader fast auf seine Füße gefallen wäre, und drehte sich in der Bewegung herum.

Skar hob grüßend die Hand und kam auf ihn zu. »Was tut ihr?« fragte er scherzhaft. »Läßt du einen Notausgang graben?« Titch blieb ernst. Skar wußte nicht, ob Quorrl überhaupt so etwas wie Sinn für Humor hatten. Aber der Scherz war auch nicht besonders originell gewesen. »Nein«, antwortete der Quorrl. »Ich überzeuge mich davon, daß sich nicht irgend etwas einen Noteingang gegraben hat.«

Skar sah den Quorrl stirnrunzelnd an, trat an ihm vorbei und begutachtete die Bresche, die seine Krieger in die Wand getrieben hatten. Er sah Erdreich, abgestorbenes Wurzelwerk und Steine, dazwischen kleine glitzernde Brocken von schwarzer Farbe, die wie Kohle aussahen. Von dem schwarzen Netz, nach dem Titch suchte, war nicht einmal eine Spur zu entdecken. Nicht, daß das etwas bedeutete - er hatte ja mit eigenen Augen gesehen, wie das Gewebe zerfallen war.

»Du fürchtest wirklich, es könnte durch die Wände kriechen?« fragte er zweifelnd.

Titch deutete ein Kopfschütteln an. »Nein. Ich will nur sichergehen, daß es das nicht kann«, antwortete er. »Du nicht?« Skar verzichtete auf eine Antwort. Er war noch immer gereizt, und insgeheim ärgerte er sich, daß Titch ihn nicht über seine Befürchtung informiert hatte. Vielleicht auch ein bißchen darüber, daß er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war. Aber er beherrschte sich.

»Was ist mit dem... mit dem Ding, das Bradburn getötet hat?« fragte er zögernd. »Ihr habt es verbrannt?«

»Natürlich.« Titch klang fast beleidigt. »Der Hohe Satai hat uns ja angewiesen, es zu tun. Und wir Quorrl sind vielleicht dumm, aber nicht taub. Meine Männer haben die Asche mit Kalk vermischt und dann in den Fluß gestreut.«

Skar nickte anerkennend. Prüfend sah er sich in der Kammer um. Die Wände waren geschwärzt, und der Stein hier und da gerissen und überall brüchig geworden. Titchs Quorrl mußten ein wahres Höllenfeuer hier drinnen entfacht haben. Von der ehemaligen Einrichtung war nicht einmal Asche übrig geblieben. »Wir haben alles herausgeschafft und verbrannt«, berichtete Titch, der seinen prüfenden Blick bemerkte. »Auch wenn mir nicht wohl dabei war.« Skar sah ihn fragend an, und Titch fuhr fort: »Bradburns Bücher waren sehr wertvoll.«

»Nicht nur seine Bücher«, ergänzte eine Stimme von der Tür her.

Skar zog eine Grimasse und drehte sich herum. Del klang irgendwie wütend, und es war nicht nur die schon fast normale Aggressivität, die er in seiner Stimme hörte.

»Was tut ihr da?« fragte Del mit einer Kopfbewegung auf das Loch in der Wand. »Wer, zum Teufel, hat euch gesagt, daß ihr die halbe Burg abreißen sollt.«

»Niemand hat gesagt, daß wir es nicht tun sollen«, antwortete Titch lächelnd. In Dels Augen blitzte es zornig auf, aber auch er verbiß sich die scharfe Antwort, die ihm sichtlich auf der Zunge lag. Es ist dieser Ort, wisperte Kiinas Stimme hinter Skars Stirn. Er ist böse, Skar, ich spüre es. Böse, böse, böse, böse...

»Titch hat völlig richtig gehandelt«, erklärte er rasch, bevor Del vollends auffahren konnte. »Oder wolltest du seine Bücher aufheben und Gefahr laufen, damit etwas von diesem Zeug zu konservieren?«

Del konnte nicht viel gegen dieses Argument vorbringen, ohne sich lächerlich zu machen, aber der Blick, den er Skar zuwarf, machte sehr deutlich, daß er eher noch zorniger wurde. Noch zwei Tage, dachte Skar, und wir werden anfangen, uns gegenseitig umzubringen, einfach so.

»Ihr habt alles verbrannt?« fragte Del, mühsam beherrscht. »Und die Flasche?«

»Sie war nicht dabei«, antwortete Titch. »Ich habe danach suchen lassen.«

»Dann habt ihr nicht gründlich genug gesucht!« brüllte Del plötzlich. »Verdammt, was fällt dir ein, du hirnloser fischgesichtiger -«

»Ich habe mich selbst davon überzeugt, Satai«, unterbrach ihn Titch. Seine Stimme war nicht einmal lauter, aber sie klang plötzlich eisig, und so hart wie Stahl. »Ich bin nicht dumm, Satai. Ihr Inhalt hat das Wesen vernichtet, das Bradburn tötete. Ich weiß, wie wertvoll er für euch gewesen wäre. Aber sie war nicht da.«

Für zehn, dann zwanzig endlose Sekunden breitete sich Schweigen zwischen Del und dem Quorrl aus, aber es war kein normales Schweigen, sondern die Ruhe eines Vulkans, der dicht vor dem Ausbruch stand. Del starrte den riesigen Quorrl an, und Skar sah, wie seine Hände zum Gürtel krochen, und zum Schwert, in einer Bewegung, die er wahrscheinlich nicht einmal bewußt registrierte. Etwas geschah, dachte Skar erschrocken. Irgend etwas breitete sich plötzlich im Raum aus, etwas, das mit dem Schweigen hereingekommen war, etwas wie ein unhörbares, lautloses Flüstern, ein böses Gift, das ihre Gedanken verpestete. Für einen ganz kurzen Moment spürte er es auch - für einen Moment, in dem er plötzlich keinen anderen Wunsch hatte als den, sein Schwert zu ziehen und zu töten, ganz egal, wen. »Hört auf!« rief er gepreßt. Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Hände begannen zu zittern.

»Hört auf!« wiederholte er noch einmal. »Beide! Spürt ihr denn nicht, daß... daß es genau das ist, was sie wollen?«

Titch reagierte nicht, aber Del drehte langsam den Kopf und sah nun ihn voller stummer Wut an. »Blödsinn!« schnappte er. »Was ist los mit dir, alter Mann? Hat dieses dumme Gör aus Elay zu lange mit dir geredet?«

Skar blickte zu der Bresche in der Wand hinüber, ehe er weitersprach. Es kam von dort. Was immer es war, es kroch aus dem Boden, die Wände atmeten es aus, und die Luft trug es in seine Lungen und sein Herz. Töte! wisperte der Daij-Djan in seinen Gedanken. Nimm dein Schwert und stopf diesem großspurigen Angeber ein für alle Mal das Maul!

Und fast hätte er es auch getan. Er gewann den Kampf gegen das böse Flüstern, diesmal noch, aber er wußte nicht, wie oft es ihm noch gelingen würde. Den Männern und Quorrl gestern abend war es nicht gelungen.

»Kiina hatte recht«, preßte er mühsam hervor. »Wir müssen hier raus, Del. Es ist diese Burg. Spürst du es denn nicht?« Del machte eine wütende, wegwerfende Handbewegung, fast ein Schlag in die leere Luft. »Was für ein Unsinn!« sagte er. Dann lächelte er, aber es erinnerte Skar mehr als alles andere an das Grinsen einer Schlange, die ihr Opfer musterte. »Aber ich werde deinem Wunsch sogar nachkommen«, fuhr er fort. »Ich kam eigentlich, um dir Bescheid zu geben, daß das Heer noch heute eintrifft. Gerade eben hat ein Bote, den sie vorausgeschickt haben, die Nachricht überbracht.«

»Die Krieger aus Denwar?« fragte Titch.

Del starrte ihn an, als fühlte er sich allein durch die Tatsache beleidigt, daß es der Quorrl gewagt hatte, ihn anzusprechen. Aber dann nickte er. »Ja«, antwortete er. »Elftausend Veden und an die achttausend Satai. In drei Tagen, sobald sich die Männer ein wenig erholt haben, brechen wir auf.«

Der Gedanke an die ungeheuerliche Heeresmacht, die in wenigen Stunden in dieser Festung versammelt sein würde, machte Skar Angst. Zwanzigtausend Männer - und jeder einzelne ein potentieller Killer. Großer Gott, was würde geschehen, wenn diese Männer auf Titchs Quorrl trafen, unter dem Einfluß dieses Ortes?!

Titchs Gedanken schienen in ähnlichen Bahnen zu verlaufen, denn er sagte: »Wenn es so ist, werde ich meinen Kriegern Befehl geben, die Burg zu räumen. Sie ist kaum groß genug für uns alle.«

»Zuallererst einmal«, antwortete Del herablassend, »wirst du mit Skar zu den Felsen hinunterreiten und dir die tote Errish ansehen. Jetzt, wo die Phiole verschwunden ist, ist es um so wichtiger.«

Titch nickte, aber Skar fühlte sich beinahe noch unbehaglicher. Er wollte nicht noch einmal dorthin. Er hatte Angst, die Tote wiederzusehen, und er hatte Angst, den Daij-Djan zu treffen, der bei den Felsen auf ihn warten mochte. »Wozu?« fragte er. Del zuckte die Schultern. »Man weiß nie«, erwiderte er. »Sie wird einen Grund gehabt haben, sich dort unten herumzutreiben, und ich will wissen, welchen. Jetzt um so mehr. Wir können kein Risiko eingehen.« Er sah Skar fragend an. »Du hast noch den Verschluß der Kristallflasche?«

Skar schüttelte den Kopf. »Nein. Er war nicht bei den Sachen des Toten.«

»Das ist schade«, bedauerte Del. »Vielleicht hat er ihn für einen Edelstein gehalten und eingetauscht. Ich werde danach suchen lassen. Wann reitet ihr?«

»Jetzt gleich«, sagte Titch, noch ehe Skar Gelegenheit fand zu antworten. »Ich weiß zwar so wenig wie Skar, was du dir davon versprichst, aber du hast recht - wir sollten kein Risiko eingehen. Vielleicht finden wir irgend etwas bei ihr, was uns weiterhilft.«

Der Weg zum Fluß hinunter kam ihm weiter vor als beim ersten Mal, und Skar war plötzlich gar nicht mehr so sicher wie noch vor Tagesfrist, ob es ihm wirklich gelingen würde, die Stelle wiederzufinden, an der er auf die tote Errish und ihren Drachenvogel gestoßen war. Jetzt, als er danach suchte, schien plötzlich alles gleich auszusehen, und er hatte vorher noch nie bemerkt, wie groß das steinerne Labyrinth war, über dem sich die schwarzen Zinnen von Drasks Trutzburg erhoben.

Skar fühlte sich zwischen zwei völlig verschiedenen Empfindungen hin und her gerissen - auf der einen Seite war er erleichtert - nicht nur innerlich, sondern auch auf ganz real körperliche Weise -, aus der Burg heraus zu sein, auf der anderen Seite fühlte er sich nicht sehr wohl in Titchs Begleitung. Und um so mehr, als er festgestellt hatte, daß es sich bei ihren Begleitern ausschließlich um Quorrl handelte; ein halbes Dutzend großer, muskelbepackter Gestalten, welche die Kräftigsten aus Titchs Leibgarde zu sein schienen. Er mißtraute den Quorrl nicht - ganz im Gegenteil mußte er sich insgeheim eingestehen, daß er Titch und seinen Kriegern in den letzten Tagen weitaus mehr vertraute als den sogenannten Satai, die Del um sich geschart hatte -, aber er spürte, daß Titch ihn belog; oder ihm zumindest etwas nicht gesagt hatte, was wichtig gewesen wäre.

Als sie etwas mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, sahen sie das Heer. Es war noch sehr weit entfernt - die Männer würden sich beeilen müssen, um vor Dunkelwerden die Burg zu erreichen -, und es näherte sich auf der anderen Seite des Flusses, aber es bot trotzdem einen beeindruckenden Anblick. Die Ebene, die am Morgen noch weiß gewesen war, brodelte jetzt vor schwarzer und metallisch blitzender Bewegung, und über dem riesigen Heerwurm zog eine Wolke aus Staub und pulverfeinem Schnee dahin. Skar spürte ein sonderbares Gefühl, von dem er im ersten Moment selbst nicht genau wußte, was es war - einerseits etwas von dem erhebenden Gefühl von Macht, das eine so große Armee vermittelte, andererseits aber auch Furcht; und einen nie gekannten Zweifel. Plötzlich erinnerte ihn diese ungeheuerliche Karawane aus zwanzigtausend Männern und Pferden an eine Ameisenarmee, ein Heer hirn- und willenloser Etwasse, die er einfach nicht mit der Vorstellung denkender Individuen überein bringen konnte.

»Beruhigt dich der Anblick, Satai?«

Skar fuhr fast erschrocken zusammen und wandte sich im Sattel zur Seite. Titch war neben ihn herangeritten und hatte sein Pferd ebenfalls angehalten, und auch sein Blick war starr nach Westen gerichtet.

Fast gegen seinen Willen schüttelte Skar den Kopf. »Sollte er das?«

»Natürlich«, antwortete Titch. »Ihr seid uns jetzt ebenbürtig. Bis heute wart ihr fünfhundert Menschen, in der Gesellschaft von vierzigtausend Ungeheuern.«

»Warum bist du so bitter, Titch?« fragte Skar.

»Bin ich das?«

Skar nickte. Einen Moment lang lauschte er vergeblich auf den Zorn, den Titchs Worte eigentlich in ihm wachrufen sollten. Er kam nicht. Er spürte im Gegenteil nur Mitleid mit dem hünenhaften Quorrl. Er war jetzt davon überzeugt, daß Kiina recht gehabt hatte. Es war die Festung, die ihrer aller Denken vergiftete. »Das bist du«, antwortete er ruhig. »Du warst es, seit ich dich kennengelernt habe, aber es ist schlimmer geworden, seit wir hier sind.«

»Vielleicht habe ich meine Gründe«, antwortete der Quorrl kurz angebunden und wollte weiterreiten, aber Skar fiel ihm mit einer raschen Bewegung in die Zügel und hielt das Pferd zurück. »Dann solltest du sie mir verraten«, sagte er.

Der Quorrl riß ihm die Zügel aus der Hand und ritt weiter, aber nicht sehr schnell, so daß Skar schon nach ein paar Schritten wieder zu ihm aufgeschlossen hatte. »Es ist nicht sehr fair, über etwas zu schweigen, das unser aller Schicksal beeinflussen kann, Titch.«

Titch lachte leise. »Unser Schicksal? Du leidest an einer typisch menschlichen Krankheit, Satai - du überschätzt dich. Niemand kann sein Schicksal beeinflussen. Was geschehen wird, geschieht.«

»Warum bist du dann hier?« fragte Skar. »Du glaubst, alles wäre vorbestimmt?«

»Ich glaube es nicht«, antwortete Titch. »Ich weiß es.«

»Warum kämpfen wir dann?« bohrte Skar weiter. »Warum versuchen wir, die Sternengeborenen zu schlagen, wenn doch alles schon vorherbestimmt ist? Warum seid ihr nicht in euren Wäldern im Norden geblieben und habt zugesehen, wie Enwor zugrunde geht?«

»Weil es vorherbestimmt ist«, antwortete Titch stur. »Und weil wir Krieger sind. Wir wurden als Krieger geboren.«

Skar warf einen Blick zu dem Heer im Westen, ehe er erwiderte. »Das bin ich auch, Titch, und trotzdem -«

Der Zornesausbruch des Quorrl kam völlig unvorbereitet; und seine Bewegung so schnell, daß Skar sie nicht einmal sah - im einen Moment war Titch noch ruhig neben ihm hergeritten, eine viel zu groß geratene, mißgestaltete Kröte, unter der das Schlachtroß winzig und verloren wirkte, und im anderen fühlte sich Skar von zwei unmenschlich starken Händen gepackt und halb aus dem Sattel gerissen. Titchs Gesicht war plötzlich sehr nahe vor ihm. Seine Augen füllten fast sein ganzes Gesichtsfeld aus. »Nein, Satai!« zischte der Quorrl, leise, aber in einem Ton, der Skar einen eiskalten Schauer der Furcht über den Rücken laufen ließ. »Das bist du nicht. Du bist zum Krieger geworden, aus freien Stücken oder durch Zwang, aber du hattest eine Chance. Wir nicht. Keiner dieser Vierzigtausend, die ich in den Tod zu führen habe, hatte eine Chance!«

Skar versuchte Titchs Griff zu sprengen, aber es war sinnlos. Er schlug die gefalteten Hände mit aller Macht von unten gegen die Titchs, die seinen Hals gepackt hatten, aber der Quorrl zuckte nicht einmal. Skar bekam keine Luft mehr.

Aber dann, nach einer weiteren Sekunde, ließ Titch ihn los und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zurück und um ein Haar aus dem Sattel stürzen ließ.

»Was meinst du damit?« fragte er verstört, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Ihr seid -«

»Krieger!« unterbrach ihn Titch, noch immer leise, und noch immer kaum weniger wütend als zuvor. Seine Augen flammten. »Wir wurden als Krieger geboren. Wir wurden als Krieger gezeugt, Satai. Keiner dieser Vierzigtausend ist je gefragt worden, ob er ein Leben als Krieger führen will, und keiner ist je auf die Idee gekommen, an seiner Bestimmung zu zweifeln!«

»Als Krieger gezeugt?« wiederholte Skar zweifelnd. Er begriff sehr wohl, was Titch mit diesen Worten meinte, aber er weigerte sich einfach, es zu glauben. »Du meinst, ihr... ihr wißt vor der Geburt, was aus dem Kind wird? Ihr zeugt eure Krieger und Handwerker und Bauern, so, wie... wie wir sie erziehen?« Titch antwortete nicht, aber sein Schweigen war Antwort genug. Vielleicht mehr, als Skar überhaupt hören wollte. »Das wußte ich nicht«, gab er leise zu. »Bitte verzeih.«

»Was weißt du überhaupt?« schnappte Titch. Seine Wut verrauchte, aber das lodernde Feuer in seinem Blick blieb; und plötzlich wurde es Skar klar, daß es gar kein Zorn war; oder wenn doch, so ein Zorn, der nicht ihm galt, oder einem der anderen Männer in der Burg oder in dem Heer dort drüben, sondern einem unbarmherzigen Schicksal, das Titch nicht einmal die Spur einer Chance gelassen hatte, irgend etwas an seinem Verlauf zu ändern. Er versuchte vergeblich, sich in Titchs Lage hineinzuversetzen; nachzuempfinden, was ein Mann fühlen mochte, der dazu verurteilt war, vierzigtausend seiner Brüder in den sicheren Tod zu führen, ganz egal, wie gut oder schlecht er seine Aufgabe erfüllte. Er konnte es nicht. Der Gedanke war einfach unvorstellbar.

»Hat... Del davon gewußt?« fragte er stockend. »Als er euch rief, meine ich?«

»Del?« Titch überlegte einen Moment und machte dann eine abgehackte Bewegung, die Zustimmung wie Verneinung sein konnte. »Niemand weiß davon«, sagte er. »Vielleicht der Rat der Satai. Vielleicht der Bote, den sie zu den Goldenen geschickt haben. Aber ich glaube es nicht. Es ist kein Geheimnis, aber kaum einer weiß es. Es interessiert niemanden. Wir sind ja nur Quorrl.«

Skar war plötzlich sehr froh, den Quorrl nicht unterbrochen zu haben, um ihm zu versichern, daß auch er sein Geheimnis wahren würde, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Andererseits - was hätte es denn auch geändert. Titch war ein Quorrl, trotz allem, und wahrscheinlich würden sie nie eine Übereinstimmung erzielen.

Plötzlich hatte er das absurde Bedürfnis, Titchs Freund zu sein. Er wußte, daß das unmöglich war, jetzt erst recht, aber etwas in ihm sehnte sich danach. Einfach danach, überhaupt einen Freund zu haben, und wenn es nur ein fischgesichtiger Quorrl war, der sich in Selbstmitleid übte.

Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern ritt ein wenig schneller und tat so, als würde er sich ganz auf den Weg konzentrieren. Titch und seine Quorrl fielen ein Stück zurück, hielten dann aber immer denselben Abstand.

Zumindest der Teil seiner Befürchtungen, der ihn daran hatte zweifeln lassen, die richtige Stelle wiederzufinden, behielt unrecht. Er fand sie am Flußufer auf Anhieb, und er fand auch die Spur, die ihn letztlich zu der toten Errish geführt hatte. Sie war so frisch wie vor zwei Tagen; weder der Schnee noch das einsetzende Tauwetter hatten sie verwischt. Und er fand auch den Felsen wieder, obgleich es diesmal keinen Schatten gab, der ihn lotste. Es war, als hätte sich jeder Fußbreit Boden unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, obgleich er noch vor Augenblicken gedacht hatte, wie ähnlich sich doch die zahllosen kleinen Felstäler und -schründe waren. Sie hatten die Pferde am Fluß zurückgelassen, und nach kaum fünf Minuten standen sie vor dem zyklopischen Findling, auf dem Skar auf den Daij-Djan und die Tote getroffen war.

Diesmal brauchte er nur kurze Zeit, um ihn zu besteigen, denn es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein. Titch sprach kein einziges Wort mit ihm, aber er kletterte kraftvoll und überraschend geschickt neben ihm her und erreichte das winzige Plateau fast im selben Moment wie er. Skar war sich nicht sicher - das hieß: Eigentlich war er es doch, er verstand es nur nicht -, aber für einen Moment glaubte er ein erschrockenes Zucken über das Gesicht des Quorrl huschen zu sehen. Der Daij-Djan war nicht da.

Natürlich nicht, du Narr! wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn. Was hast du erwartet? Daß er es sich hier bequem gemacht und auf dich gewartet hat, um ein wenig mit dir zu plaudern? Er vertrieb den Gedanken, wartete, bis Titchs Begleiter einer nach dem anderen zu ihnen hinaufgestiegen waren und deutete dann auf die Tote. »Das ist sie«, sagte er überflüssigerweise. Titch musterte die verendete Daktyle und ihre bizarre Reiterin einen Moment lang sehr aufmerksam, dann machte er eine befehlende Geste zu seinen Kriegern.

»Zieht ihr die Kleider aus«, gebot er. »Wir nehmen alles mit. Auch den Sattel und was sie sonst noch bei sich hat.«

Die Quorrl zögerten. Titch wiederholte seinen Befehl im zischelnden Idiom seines Volkes, und diesmal setzten sich die Krieger gehorsam in Bewegung. Behutsam hoben sie die Tote vom Rücken des Drachenvogels herunter und begannen, sie zu entkleiden. Wie fast immer in letzter Zeit übernahmen Titchs Quorrl die Arbeit, während sich Skar darauf beschränkte zuzusehen, aber diesmal gab es nichts in ihm, was sich dagegen gesträubt hätte - trotz der Kälte waren sowohl die Daktyle als auch ihre Reiterin bereits teilweise in Verwesung übergegangen, und sein Ekel erwies sich einfach als stärker als sein Gewissen. Der Geruch war entsetzlich, und die Errish - obgleich sie einmal eine schöne Frau gewesen sein mußte - bot einen alles andere als angenehmen Anblick, als die Quorrl darangingen, sie aus ihrer bizarren Insekten-Rüstung zu schälen. Skar war fast froh, als Titch nach einiger Zeit zurücktrat und es seinen Kriegern überließ, die Tote vollends zu entkleiden, und er es ihm gleichtun konnte. Er wandte den Blick ab.

Titch lachte leise. »So zart besaitet, Satai?« fragte er.

»Nein«, antwortete Skar, nach kurzem Überlegen und bewußt herausfordernd und verletzend. »Menschlich. Aber dieses Wort ist dir wahrscheinlich fremd, Quorrl.«

Titch sah ihn aus seinen schmalen, geschlitzten Augen auf eine Art an, die Skar mehr verwirrte als beunruhigte. »Das stimmt, Satai«, antwortete er. »Ich bin kein Mensch. Ich weiß nicht, ob ihr unsere Gefühle nachempfinden könnt - wir können eure jedenfalls nicht begreifen. Und wir urteilen auch nicht darüber.« Etwas war seltsam. Es war ein Teil des alten Nadelstich-Spieles, das sie spielten, seit sie sich kennengelernt hatten, aber Skar spürte ganz deutlich, daß es nicht das war, was Titch fühlte. Wie um die Behauptung des riesenhaften Quorrl im Augenblick zu widerlegen, spürte er einfach, daß hinter dem flachen Fischgesicht des Schuppenkriegers weit mehr vorging, als Titch zugeben wollte. Und vielleicht waren seine herausfordernden Worte einzig dazu bestimmt, genau dies zu überspielen. Er hatte die kleine Entgleisung von vorhin noch lange nicht überwunden. Sicher bedauerte er schon lange, Skar gegenüber so offen über seine intimsten Gedanken geredet zu haben.

Statt zu antworten, wandte Skar sich wieder um und zwang sich, die tote Errish anzusehen. Er war überrascht, als er feststellen mußte, wie jung sie noch war. Als er sie gefunden hatte, vor zwei Tagen, hatte er sie auf vierzig Jahre geschätzt, vielleicht mehr. Aber das stimmte nicht. Sie mußte sehr viel jünger gewesen sein, vielleicht nicht einmal dreißig. Ihr Körper war der einer jungen Frau, und das, was er in ihrem zerstörten Gesicht für Alter gehalten hatte, war in Wahrheit der Ausdruck eines tiefen, unauslöschlich eingebrannten Schmerzes. Sie war verhärmt, nicht alt. Und - es war absurd, aber gleichzeitig so klar, daß es keinen Zweifel gab - er spürte einfach, daß sie eine sehr mächtige Frau gewesen war; kein dummes Kind wie Kiina, und keine willenlose Puppe wie die Errish, die sie beim Kampf gegen die Drachen getötet hatten.

Widerstrebend ließ er sich neben der Toten in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, wie um sie zu berühren, ohne es jedoch wirklich zu tun. Ihre Augen standen noch offen, und auch in ihnen - vielleicht nur darin - stand dieser tiefe, unauslöschliche Schmerz, der ihn so erschreckte. Etwas war falsch. Er hatte einen Fehler gemacht. Etwas falsch gedeutet.

»Nichts«, bemerkte Titch in diesem Moment. »Wir hätten uns den Weg sparen können.«

Skar sah auf. Der Quorrl durchsuchte die Habseligkeiten der toten Errish, mit schnellen, äußerst ungeduldigen Bewegungen. Wie Skar hatte er sich in die Hocke sinken lassen, was bei seiner gewaltigen Körpermasse einen fast schon absurden Anblick bot, und eigentlich durchsuchte er die Sachen der Errish nicht, sondern fetzte sie mit seinen gewaltigen Krallenhänden auseinander - seine Pranken zerrissen die ledernen Satteltaschen der Daktyle, als wären sie aus Papier.

Skar runzelte die Stirn. Titch spielte ihm etwas vor, und er hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu bemerken. Der Quorrl war vielleicht ein gewaltiger Krieger, aber ein miserabler Schauspieler. Aber warum?

Er sprach nichts von seinen wahren Gedanken aus, sondern hob noch einmal die Hand, um die Augen der Toten zu schließen. Aber er konnte es nicht. Der Gedanke, diesen kalten, fast schon in Zersetzung übergegangenen Körper zu berühren, war ihm unerträglich.

Statt dessen stand er auf, ging die zwei Schritte zu der toten Daktyle hinüber und besah sich die riesige Flugechse zum ersten Mal genauer.

Er hatte niemals eine größere Daktyle gesehen. Selbst das Tier, das Drask ihm gegeben hatte, um zu Dels Lager zu fliegen, war weniger muskulös und wild gewesen als dieses schwarze Ungeheuer. Sein Kopf war fast so groß wie der Körper eines Mannes, und die ledernen Schwingen, auf die es sich noch im Tode stützte, mußten ausgebreitet an die zwanzig Meter messen. Skar schauderte, als er sich vorzustellen versuchte, welche ungeheuerliche Kraft diese Bestie gehabt haben mußte. Für einen Moment erschien ihm der Gedanke einfach lächerlich, daß sie gegen Monster wie diese Krieg führten.

Aber da war noch etwas. Etwas, das der Anblick der Daktyle in ihm auslöste, und es dauerte eine Weile, bis er selbst begriff, was es war.

»Titch«, rief er.

Der Quorrl stand auf und trat neben ihn.

»Schau dir diese Daktyle einmal genau an«, forderte Skar ihn auf. Er blickte Titch nicht an, aber er spürte die Bewegung des Quorrl, und er wußte, daß sich hinter der flachen Stirn des Schuppenkriegers die gleichen Überlegungen abspielten wie hinter seiner eigenen.

»Sie ist... sehr groß«, sagte Titch zögernd.

Skar nickte. »Ein Gigant. Die größte Daktyle, die ich je gesehen habe. Und ich habe eine Menge gesehen.«

Titch sah ihn verwirrt - aber vielleicht auch lauernd - an. »Was meinst du?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich... denke nur laut nach. Ein Tier wie dieses muß ... sehr wertvoll sein.«

»Vermutlich«, bestätigte Titch.

»Man wird es nicht einfach so zum Fliegen benutzen«, fuhr Skar fort.

»Niemand fliegt einfach so«, entgegnete Titch. »Nur die Errish fliegen.«

»Das meine ich nicht«, widersprach Skar. »Es muß unglaublich weit fliegen können. Sieh dir diese Flügel an, Titch. Und diese Muskeln! Es muß doppelt so weit fliegen wie eine normale Daktyle.«

»Der Weg nach Elay ist weit«, antwortete Titch. Er klang ... nervös?

»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. »Es ist...« Er sprach nicht weiter, sondern überwand seinen Widerwillen, scheuchte einen von Titchs Quorrl mit einer groben Handbewegung beiseite und bückte sich nach dem ledernen Futtersack, der wie ein künstlicher Kropf unter dem Hals des Tieres angeschnallt war. »Er ist leer«, stellte er fest, nachdem er ihn kurz abgetastet hatte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu öffnen. »Und?« fragte Titch.

Skar deutete auf die Habseligkeiten der Toten, welche die Quorrl auf dem Felsen ausgebreitet hatten. »Keine Vorräte, nicht einmal ein Wasserschlauch.«

Titch lachte humorlos. »Wasser ist nun wirklich genug hier«, gab er zu bedenken. »Und die Daktyle kann sich unterwegs Futter reißen, so viel sie will.«

»Wenn sie versucht, sich an eine schwerbewaffnete Burg wie die unsere anzuschleichen?« fragte Skar zweifelnd. »Kaum.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Diese Errish hat nie vorgehabt zurückzukehren«, behauptete er.

Zu seiner Überraschung widersprach Titch nicht, sondern nickte nach einer Weile schwerfällig. »Ein Selbstmordunternehmen«, vermutete er. »Was ist so ungewöhnlich daran? Vielleicht war sie überzeugt davon, Erfolg zu haben, und wollte einfach auf die warten, die ihr folgten.«

Titchs Worte klangen einleuchtend, aber Skar hatte in den letzten Tagen einfach zu viel gehört, was einleuchtend klang und doch falsch war. Vielleicht hatte Del ein bißchen recht gehabt mit seiner spöttischen Bemerkung, daß er es einfach nicht mehr ertrüge, eine einfache Lösung zu akzeptieren, aber diesmal irrte sich der Quorrl, das spürte er einfach. Es war, als wache er zum zweiten Mal aus einem unendlich tiefen, betäubenden Schlaf auf, und plötzlich begriff er, daß es die Burg war - ihr unheimlicher Einfluß vergiftete nicht nur ihre Seelen, er hatte ihn auch bisher daran gehindert, wirklich logisch nachzudenken. Aber mit einem Male, ganz plötzlich, funktionierte sein Denken wieder mit der alten, gewohnten Schärfe. Er erkannte sogar, daß es gerade umgekehrt war - er fand die Beweise für seinen Verdacht nicht, weil er danach suchte, sondern hatte den Verdacht gefunden, weil etwas in ihm die Indizien längst wahrgenommen und richtig gedeutet hatte.

Dicht neben Titch ließ er sich ein zweites Mal in die Hocke sinken und deutete auf das Gesicht der toten Errish. »Sieh es dir genau an«, verlangte er.

Titch gehorchte.

»Dir fällt nichts auf?«

Titch schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an.

»Vermutlich würde es mir auch nicht auffallen, wenn hier ein toter Quorrl läge«, sagte Skar. »Aber diese Frau ist sehr lange hier gewesen, ehe sie starb. Sie hat tagelang Durst gelitten. Sieh dir ihre Lippen an, und die Augenlider. Sie muß gehungert haben.« Er hob die Hand und deutete auf die Daktyle, ohne sich aus der Hocke zu erheben. Plötzlich war alles glasklar, so deutlich, daß er sich vergeblich fragte, warum ihm all dies vor zwei Tagen entgangen war. »Und der Vogel! Erkennst du die Spuren im Fels? Den Dung und die frischen Kratzer, und die Wunden an seinen Läufen? Er hat versucht zu fliehen, wahrscheinlich aus Hunger und Durst.«

Titch nickte widerstrebend. »Worauf willst du hinaus?«

»Daß sie schon lange hier war«, antwortete Skar. »Tage, vielleicht Wochen, sicher aber ebensolange wie wir, Titch. Sie hat es nicht gewagt, ihr Versteck zu verlassen, um zum Fluß zu gehen oder sich ein Wild zu jagen, aus Angst, entdeckt zu werden.« Titch blickte ihn an, aber sein Gesicht war jetzt wieder ein ganz normales Quorrl-Gesicht - eine häßliche Fratze aus Schuppen und Knochenwülsten, auf der nicht das allermindeste Gefühl abzulesen war.

»Du meinst, sie hat hier auf uns gewartet?« fragte er.

»Oder auf jemand anderen.«

»Die Drachenreiter, die das Mädchen verfolgten?«

»Möglich.« Skar stand auf. Es war möglich, aber er war eigentlich überzeugt davon, daß es nicht so war. Aber was hatte sie dann hier gewollt? Was war in der Flasche gewesen, und warum hatte der Daij-Djan sie getötet, wenn sie - - nicht ihr Feind gewesen war?

Die Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, daß er Titch volle zehn Sekunden lang aus aufgerissenen Augen anstarrte, ohne einen Laut, ja, ohne auch nur zu atmen. Es war die einzige Erklärung. Sie klang fast absurd, aber alles andere ergab noch weniger Sinn. Plötzlich glaubte er die Szene noch einmal zu durchleben, schneller und mit fast übernatürlicher Klarheit: Er sah die Tote, reglos auf dem Rücken der Daktyle, sah den Ausdruck ungläubigen Entsetzens m ihrem für immer erstarrten Gesicht, und er sah den Daij-Djan, die Sternenbestie, die dastand und ihn aus ihrem schrecklichen augenlosen Gesicht anstarrte, die Hand wie zu einem perfiden Gruß erhoben, aber das stimmte nicht, es war kein Gruß, es war ein Deuten auf die tote Errish und ihren Vogel, und es bedeutete nichts anderes als dies: Sieh sie dir an, Satai! Sieh dir an, was denen geschieht, die sich mir in den Weg gestellt haben! »Titch«, flüsterte er. »Wir waren Narren! Diese Errish war nicht unser Feind!«

»Was?« fragte Titch verstört.

»Ich weiß nicht, wieso, und ich weiß nicht, was sie hier wollte, aber sie stand auf unserer Seite, Titch!« drängte Skar erregt. »Begreif doch! Wir haben uns getäuscht, aber Bradburn muß es erkannt haben, in seinem letzten Moment! Was in ihrer Flasche war, war kein Gift! Es war eine Waffe gegen das Netz!« Titchs Augen weiteten sich ungläubig, aber es vergingen Sekunden, bis Skar erkannte, daß dies keine Reaktion auf seine Worte waren. Der Quorrl starrte auf einen Punkt hinter ihm, am anderen Ende der kleinen Felsplattform.

Und Skar wußte schon, was er dort gesehen hatte, noch ehe die anderen Quorrl entsetzt aufschrien und er selbst in die Höhe fuhr und sich blitzschnell umdrehte.

Er war da.

Es war eine getreuliche Wiederholung ihrer ersten Begegnung, und er hatte recht gehabt, mit seinem eigenen, spöttischen Gedanken - der Daij-Djan hatte auf sie gewartet, hier, an der einzigen Stelle, an der es vielleicht etwas gab, was seine Pläne zu durchkreuzen vermochte.

Für die Dauer eines Atemzuges stand Skar einfach da und starrte die kindsgroße Chimäre an, spürte den Blick seiner nicht vorhandenen Augen wie die Berührung einer weißglühenden Hand und fühlte wieder den alten Spott und Haß, aber zum allerersten Mal vielleicht auch so etwas wie Verunsicherung. Dann bewegte sich der Daij-Djan.

Und die Hölle brach los.

Skar hörte einen gellenden Aufschrei und wurde von etwas in den Rücken getroffen und zur Seite geschleudert. Ein Quorrl raste an ihm vorbei, brüllend, das gewaltige Schwert mit beiden Händen zum Schlag erhoben, und so schnell, wie er niemals einen Quorrl hatte laufen sehen.

Der Daij-Djan versuchte nicht einmal, dem Hieb auszuweichen. Er stand einfach da, ein Kind, das einem tobenden Drachen entgegenblickte, und die Klinge des Quorrl sauste herab, geführt von Muskeln, die in der Lage waren, einem Pferd das Rückgrat zu brechen. Der Hieb mußte ihn in zwei Hälften teilen.

Er wurde nicht zweigeteilt. Er erbebte nicht einmal unter dem Schlag des Quorrl-Kriegers. Aber dafür zerbrach dessen Schwert. Dann bewegte sich die dreifingrige Klauenhand des Daij-Djan, so schnell und mörderisch, wie sie nur dieses Wesen bewegen konnte, und der Quorrl torkelte röchelnd zurück, beide Hände gegen seine zerfetzte Kehle geschlagen.

Der Daij-Djan löste sich aus seiner Erstarrung und kam langsam auf Skar und Titch zu. Seine Hände waren jetzt geöffnet, wie dreifingrige Forken, zu nichts anderem geschaffen als zum Töten und Zerreißen, aber dazu perfekt. Skar machte einen stolpernden Schritt zur Seite, ehe er begriff, daß nicht er das Ziel der Sternenbestie war, sondern die überlebenden fünf Quorrl und Titch. Aus irgendeinem Grunde würde ihn der Daij-Djan auch diesmal noch am Leben lassen. Vielleicht konnte er ihn gar nicht töten.

Aber er tötete den zweiten Quorrl, der sich mit einem schrillen Angstschrei auf ihn stürzte, und er tat es so schnell und gnadenlos wie beim ersten Mal: Seine Klaue fing den Schwerthieb des Kriegers ab und zerbrach gleichzeitig seine Klinge und seinen Arm, dann riß er den vier Zentner schweren Koloß einfach in die Höhe, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn davon, zehn, zwanzig, dreißig Meter weit durch die Luft, bis er zwischen den Felsen aufschlug. Der Daij-Djan ging weiter.

Skar erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Mit einem gellenden Schrei fuhr er herum und zerrte sein Schwert aus dem Gürtel, wohl wissend, wie sinnlos diese Waffe gegen den Dämon war. Aber er kam gar nicht dazu, die Bestie anzugreifen, denn in diesem Moment geschah etwas, was vielleicht noch schlimmer war als der Tod der beiden Krieger.

Titchs überlebende Männer hatten sich um ihren Kommandanten geschart und bildeten einen lebenden Schutzwall. Der Daij- Djan bewegte sich ohne sonderliche Hast auf die lebende Festung zu, und die vier Quorrl und Titch wichen im gleichen Tempo vor ihm zurück, bis sie die Kante des Felsplateaus erreicht hatten. In den Gesichtern der Krieger stand der nackte Terror. Es war das erste Mal im Leben, daß Skar einen Quorrl vor Angst wimmern hörte. Vielleicht das erste Mal überhaupt, daß ein menschliches Ohr diesen Laut vernahm.

Und plötzlich schleuderte einer von ihnen sein Schwert davon, zog statt dessen einen kleinen, zweiseitig geschliffenen Dolch - und führte ihn mit einer raschen Bewegung an seiner Kehle entlang!

Etwas in Skar zerbrach.

Es war das erste Mal seit Bradburns Sai-Tan, daß er sie wieder spürte, jene finstere, brodelnde Macht, die tief in seinem Inneren verborgen war und nur manchmal erwachte, dann aber zu schrecklicher Kraft und Wut, ein Etwas, ebenso dunkel und vielleicht stärker als der Daij-Djan, auf jeden Fall aber ebenso gnadenlos. Sein eigenes Leben war ihm egal, nein, mehr noch, er wußte, daß ihm nichts geschehen würde, daß er unbesiegbar, unsterblich und unverwundbar war in diesem Moment, denn er war nicht mehr er, sondern sein Dunkler Bruder, ein körperloses Ding, von den gleichen Mächten erschaffen wie die Sternenbestie und ebenso wild, ebenso entschlossen und ebenso unfähig aufzugeben. Sein Körper mochte zerstört werden, denn er war nicht närrisch genug, sich im Ernst einzubilden, den entsetzlichen Kräften der Chimäre irgend etwas entgegensetzen zu können, aber es war auch nicht die Macht seines Schwertes, die den Daij-Djan stocken ließ, als sich Skar mit einem Schrei zwischen ihn und die überlebenden Quorrl warf. Sein Tschekal sauste herab und verharrte einen Fingerbreit vor dem flachen Nicht-Gesicht der Bestie.

»Geh!« schrie er. »Bring mich um oder geh, du Bestie! Ich lasse es nicht zu!«

Der Daij-Djan zögerte. Er hatte kein Gesicht, auf dem Skar so etwas wie eine Reaktion auf seine Worte hätte ablesen können, aber er spürte, daß ihm der Dämon plötzlich auf eine neue, fast unsichere Art gegenüberstand. Mit einer sonderbar unschlüssigen Bewegung hob er die Hand und streckte den Arm aus, wie um Skar einfach aus dem Weg zu schleudern, berührte ihn aber nicht.

»Verschwinde, Satai!« brüllte Titch hinter ihm. »Er will nur uns! Lauf, solange du es noch kannst, du Narr!«

Skar hörte gar nicht hin. Sein Blick war starr auf das Horngesicht des Daij-Djan gerichtet, und der Daij-Djan starrte ihn an. »Geh!« wiederholte Skar noch einmal. »Ich lasse nicht zu, daß du sie tötest!«

Willst du dein eigenes Leben opfern, um ein paar Quorrl zu retten? wisperte die unhörbare Stimme des Ungeheuers hinter seiner Stirn. Es waren nicht wirklich diese Worte, die Skar hörte, es waren überhaupt keine Worte, aber es war der Sinn seiner lautlosen gedanklichen Frage.

»Ja«, rief er laut. »Wenn es sein muß. Ich lasse es nicht zu, hörst du? Du wirst nicht mehr töten! Nicht, bevor du mich getötet hast! Ich lasse es nicht zu!«

Er hätte es nicht verhindern können, das wußte er. Nicht wirklich. Nicht mit diesem Schwert und seinem lächerlichen menschlichen Körper, den das Ungeheuer in Bruchteilen einer Sekunde einfach zerreißen konnte. Der Daij-Djan hätte die Hand heben, sein Schwert zerbrechen und ihn einfach zur Seite schleudern können, wenn er wirklich gewollt hätte, aber da war plötzlich noch etwas, die unsichtbare finstere Macht seines Dunklen Bruders, die wie eine Sturmflut aus den Tiefen seiner Seele emporkochte und sich der Chimäre entgegenwarf. Es dauerte nur Sekunden, aber für Skar vergingen Ewigkeiten, während die beiden unsichtbaren Ungeheuer miteinander rangen, nicht Gut und Böse, denn so etwas gab es nicht, das war eine reine Erfindung der Menschen, sondern zwei feindliche Brüder, der eine so haßerfüllt wie der andere.

Und für dieses Mal gewann er.

Der Daij-Djan senkte ganz langsam die Hand. Er wirkte verwirrt; vielleicht sogar ein bißchen erschrocken - es mußte das erste Mal sein, daß er auf einen gleichwertigen Gegner gestoßen war, seit er auf der Eisinsel des Dronte entstanden war, und vielleicht begriff er auch in diesem Moment zum allerersten Mal, daß es Mächte gab, die ihm gewachsen waren, ja, ihn vielleicht sogar vernichten konnten. Was dem Höllenfeuer des Dronte nicht gelungen war, das gelang dem unsichtbaren Etwas in Skar, und er - Skar erkannte den Fehler in diesem Gedanken und verscheuchte ihn. Er begann, menschliche Begriffe auf das Ungeheuer anzuwenden, aber an ihm war nichts Menschliches, nicht einmal wirklich Lebendes. Es war fremd, ungeheuer fremd. Kein Wesen einer anderen Welt, sondern das Geschöpf einer vollkommen anderen Natur. Es würde niemals Frieden geben zwischen ihnen. Es existierte keine gemeinsame Basis. Er würde niemals dahinterkommen, was hinter dem glatten konturlosen Gesicht des Ungetüms vorging. Er verstand nur, daß er gewonnen hatte, für diesen einen Moment. Daß der Daij-Djan seine Bedingung akzeptierte und die Quorrl leben ließ, um ihn nicht töten zu müssen. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, verschwand das Ungeheuer. Es war einfach weg, wie ein böser Spuk. Aber der Alptraum war trotzdem noch nicht vorbei. Vielleicht begann er sogar erst wirklich in dem Moment, in dem Skar sich herumdrehte und zu Titch und den drei überlebenden Quorrl zurücksah. Die Krieger standen da, erstarrt, wie mitten in der Bewegung von einem bösen Zauber ergriffen und gelähmt, und stierten ihn an. Der einzige, der sich bewegte, war Titch: Der Quorrl-Führer hob die Hände, in einer Art, die Skar absurderweise fast an ein Gebet erinnerte, machte einen halben stockenden Schritt auf ihn zu und erstarrte dann ebenfalls. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus.

»Er ist fort«, brachte Skar mühsam hervor. Plötzlich begannen auch seine Hände zu zittern. Sein Herz jagte, und heiße und kalte Schauer rasten abwechselnd über seinen Rücken. Die fürchterliche Kraft seines Dunklen Bruders war versiegt, und wie immer, wenn er die Bestie in sich entfesselt hatte, fühlte er sich hinterher ausgelaugt und müde; selbst das Schwert schien plötzlich zu schwer zu sein, um es zu halten. Er senkte die Klinge, setzte ihre Spitze auf dem Boden auf und stützte sich schwer auf den Griff. »Er ist fort«, wiederholte er. »Er wird euch nichts mehr tun.« Für diesmal. Aber das fügte er nur in Gedanken hinzu. Titch machte erneut einen Schritt auf ihn zu und blieb abermals stehen. Seine Augen waren starr und weit, er blinzelte nicht, und aus seinem halb offenstehenden Raubtiermaul kam noch immer kein Laut. Aber Skar spürte überdeutlich, wie es hinter der Stirn des Quorrl arbeitete. Als Titch dann zum Reden ansetzte, klang seine Stimme flach und brüchig, wie die eines uralten kraftlosen Greises.

»Was hast du getan, Satai?« keuchte er. »Du hast... hast den Daij-Djan vertrieben! Er... er gehorcht dir!« Seine Glieder zitterten. Seine gewaltigen Pranken öffneten und schlossen sich unentwegt, als wolle er etwas packen und zerquetschen. Sein Atem ging schnell und schwer und stoßweise.

»Wir sind alte Freunde«, sagte Skar mit mattem Spott. Titch ächzte, und Skar sah ein, daß diese Bemerkung nicht sehr klug gewesen war - dies war nicht der Augenblick für Spott und Ironie; nicht einmal für Sarkasmus.

»Ich kenne dieses... Geschöpf«, fuhr er fort, sehr viel ernster. »Ich bin ihm ein paarmal begegnet, Titch. Aber wir -«

Titchs Schlag kam so schnell, daß Skar keine Chance blieb. Die Faust des Quorrl traf ihn zwischen Schulter und Hals, und diesmal schlug der Schuppenkrieger mit aller Gewalt zu. Skar spürte einen entsetzlichen Schmerz durch seine Schulter und seinen Nacken schießen, gefolgt von einer Woge lähmender Betäubung, die ihn in die Knie brechen und dann nach vorne fallen ließ. Er hatte nicht einmal mehr Kraft zu schreien.

Aber er verlor auch nicht das Bewußtsein. Ein fast wohltuender Dämmerzustand ergriff ihn, lähmte seine Glieder und zwang ihn, mit offenen Augen liegenzubleiben und hilflos zuzusehen, was weiter geschah.

Es war schlimmer als der Angriff des Daij-Djan, denn den hatte er zumindest noch verstanden. Was Titch jetzt tat, begriff er einfach nicht.

Der Quorrl starrte eine Sekunde auf ihn herab, dann erhob er sein Schwert mit beiden Händen und machte einen Schritt zurück.

Und schlug mit aller Gewalt aus der Drehung heraus zu.

Seine Klinge beschrieb einen perfekten, tödlichen Halbkreis, eine flirrende Bahn aus Silber und Blut, die den Kopf des ersten Kriegers glatt von seinen Schultern trennte und noch Schwung genug hatte, eine tiefe klaffende Furche in die Kehle des zweiten zu beißen. Titch schrie, ein Schrei voller Entsetzen und innerer Pein, wie Skar ihn selten zuvor von einem denkenden Wesen gehört hatte, vollendete seine Drehung und drang mit hoch erhobener Klinge auf den letzten überlebenden Mann seiner Leibgarde ein. Der Quorrl stand vier oder fünf Meter von ihm entfernt, und wie seine beiden Brüder war auch er bewaffnet, besser sogar als Titch - in seiner Hand lag eine gewaltige eiserne Keule, die Titchs Schwert wie ein Schilfrohr hätte zerbrechen können. Aber wie auch die anderen beiden machte er nicht einmal eine ausweichende Bewegung, sondern stand einfach da und sah Titch ergeben (und fast erleichtert? dachte Skar) entgegen, bis das Schwert des Quorrl seinen Schädel traf und bis zur Brust hinab spaltete.

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