13.

Sie hatten Bradburns Kammer noch einmal und sehr viel gründlicher durchsucht, ohne jedoch eine weitere schreckliche Entdeckung zu machen, und anschließend hatte Del befohlen, Feuer in der Kammer zu legen und es nicht eher erlöschen zu lassen, bis alles darin zu Asche zerfallen war.

Auf dem Weg zurück zu Dels Thronsaal begegnete ihnen Kiina, die sich lautstark und beleidigt darüber beschwerte, daß zwei von Titchs Männern ihr den Zugang zur Burg verwehrt hatten - ganz offensichtlich hatte sie Skar folgen wollen. Skar wollte sie fortschicken, aber Del brachte ihn mit einer befehlenden Geste zum Schweigen und bat Kiina, sie zu begleiten. Das Mädchen gehorchte, sah Skar aber fragend und sehr verwirrt an und versuchte, allein auf dem Weg nach oben drei- oder viermal, ein Gespräch zu beginnen. Skar reagierte nicht darauf; weder mit Blicken noch mit Worten. Er war verwirrt - erschrocken auch, natürlich - aber mehr als alles andere verwirrt. Es gab eine Menge scheinbar überzeugender Erklärungen für das, was er unten in Bradburns Kammer gesehen hatte, und eine schien ihm unangenehmer als die andere, aber da war noch mehr. Nur ein Gefühl, nicht einmal eine Ahnung, und doch die absolute Gewißheit, daß nichts so war, wie es zu sein schien, und die Erklärung in Wirklichkeit vielleicht viel, viel simpler - und schrecklicher -, als sie bisher angenommen hatten. Und zu allem kam das entsetzliche Gefühl, die Wahrheit für einen ganz kurzen Moment erkannt zu haben. Dort unten in der Kammer des Predigers, die zu seinem Grab geworden war, hatte er für einen zeitlosen Augenblick gewußt, was dieses ganze grauenvolle Geschehen bedeutete; und wie es enden würde. Aber der Gedanke war ihm entschlüpft, ehe er danach greifen konnte.

Sie erreichten den Thronsaal. Del schickte die Wachen hinaus, schloß sorgfältig die Tür hinter sich und forderte Skar, Titch und das Mädchen mit Gesten auf, an der langen Tafel Platz zu nehmen. Skar und der Quorrl gehorchten, während Kiina Del nur mit großer Verwirrung anblickte und seiner Aufforderung erst nachkam, als auch Skar ihr aufmunternd zunickte. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Ausdruck wachsender Beunruhigung breit. Keiner von ihnen hatte mehr als das Allernotwendigste gesprochen bisher, aber es konnte nicht sehr schwer sein, in ihren Gesichtern zu lesen. Selbst in den Augen des Quorrl nistete die Angst.

»Was habt ihr?« fragte sie schließlich.

Del warf Skar einen mahnenden Blick zu - der Kiina natürlich keineswegs entging - und hob rasch und, wie er meinte, beruhigend die Hand. »Nichts«, sagte er. »Nichts, was dich beunruhigen müßte, jedenfalls. Wirst du uns ein paar Fragen beantworten?«

Seine Stimme hatte einen sonderbar gekünstelten Klang, fand Skar. Aber es dauerte ein paar Augenblicke, bis er begriff, daß es genau der Ton war, in dem Del meinte, mit einem Kind sprechen zu müssen. Natürlich begriff Kiina das auch. Und Kiina wäre nicht Kiina gewesen, wenn sie irgendwie anders als zornig darauf reagiert hätte.

»Vielleicht«, antwortete sie herausfordernd. »Wenn ihr mir zuerst verratet, was hier plötzlich los ist. Wolltest du nicht gehen, Skar? Was ist dort unten bei Bradburn geschehen? Wo ist er überhaupt?«

»Tot«, antwortete Skar, ehe Del Gelegenheit fand, etwas anderes zu sagen. Dels Gesichtsausdruck verfinsterte sich, aber Skar fuhr ungerührt fort: »Ich erzähle dir später alles, Kiina. Aber jetzt beantworte Dels Fragen - bitte.«

»Tot?« wiederholte Kiina fassungslos. Sie hob die Hand, starrte Skar und Del abwechselnd aus großen Augen an und berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen. Dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck und wandte sich zu Del um.

»Was... willst du wissen?«

Del schoß einen zornigen Blick in Skars Richtung ab, aber als er weitersprach, klang seine Stimme fast normal. »Erinnerst du dich, was du uns erzählt hast, als du hergekommen bist - Skar, Bradburn und mir? Daß diese Festung eine Falle ist, einzig dazu erbaut, um uns zu vernichten?«

»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete Kiina ärgerlich. »Es ist ja erst ein paar Stunden her, oder?«

»Wie hast du das gemeint?« fuhr Del fort.

»Ich habe -« Kiina brach ab, blickte ihn verwirrt an und verzog das Gesicht zu einer Mischung aus Ärger und einem Lächeln. »Aber das habe ich dir und Bradburn doch schon alles erzählt«, sagte sie schließlich. »Und nicht nur einmal.«

»Dann tu es noch einmal«, mischte sich Titch ein. »Ich weiß es nämlich noch nicht.« Der Blick, den er Del bei diesen Worten zuwarf, sprach Bände. Offensichtlich, dachte Skar, hatte Del es bisher nicht unbedingt für nötig befunden, Titch in alles einzuweihen.

Wieder sah Kiina ihn an, ehe sie antwortete, und wieder mußte er nicken, damit sie es tat. Dels Ärger war jetzt beinahe zu hören, aber Skar kostete den kleinen Sieg nur umso mehr aus.

»Etwas Genaues weiß ich auch nicht«, begann Kiina zögernd. »Ich habe... ein paar Gerüchte gehört, ein Wort hier aufgeschnappt, eine Bemerkung da. Ich war nur eine einfache Zofe, nach dem Tod meiner Mutter, und die Errish sprachen selten in meiner Gegenwart oder der der anderen Bediensteten über ihre Pläne.«

»Und was«, fragte Del mühsam beherrscht, »hast du aufgeschnappt?«

»Nicht viel, wie gesagt«, antwortete Kiina. »Es war von euch die Rede. Von dem Hohen Satai und seinem Heer, und von einer großen Anzahl Quorrl. Und von etwas, was geschehen würde, sobald ihr den Ort erreicht habt.«

Nicht nur Skar fiel die Art auf, wie sie das Wort aussprach. »Was meinst du damit, den Ort?« fragte er, das Wort auf die gleiche übertriebene Art betonend, wie sie es getan hatte. »Ich weiß es nicht«, beteuerte Kiina abermals. »Sie haben niemals etwas Konkretes gesagt, Skar. Nur, daß alles vorbereitet sei und daß der...« Sie stockte, starrte einen Moment lang an Skar vorbei gegen die Wand und biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe das Wort vergessen«, gestand sie. »Aber daß irgend etwas bereit ist zuzuschlagen, sobald ihr alle hier seid.«

»Hier?« unterbrach sie Titch scharf. »Eben hast du behauptet, du wüßtest nicht, was der Ort ist.«

»Das stimmt auch«, verteidigte sich Kiina. »Aber ich glaube, daß es diese Burg ist. Der Tag stimmt, und -«

»Und diese Burg ist der einzige Ort, an dem dein und unser Heer wirklich zusammen sind«, unterbrach sie Skar, an Titch gewandt. »Sobald die Veden und Dels Satai aus Denwar hier sind, gehen wir über die Berge. Danach teilen wir uns wieder, nicht wahr? Es ist nur logisch.«

Del warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie waren überein gekommen, niemals in Gegenwart anderer über ihre Pläne zu sprechen. Nicht einmal die Soldaten draußen auf dem Hof wußten, wohin sich die Heere wenden würden, wenn sie die Berge hinter sich hatten.

»Aber ich weiß nicht, wie sie es tun wollen«, fuhr Kiina fort. »Ich würde es euch sagen, wenn ich es wüßte.«

»Aber das ergibt keinen Sinn!« fuhr Titch auf. »Sie konnten nicht wissen, daß wir uns hier sammeln. Die Heere sollten sich im Lager in der Ebene treffen.«

»Doch«, widersprach Skar. »Sie konnten es wissen, Titch.«

»Diese Burg hat vor Wochenfrist noch Drask und seinen Zauberpriestern gehört!« protestierte der Quorrl.

»Und wir haben nicht einmal eine Nacht gebraucht, um sie zu nehmen«, erwiderte Skar. »Dabei ist die Hälfte unseres Heeres nicht einmal hier. Ich frage mich allmählich, ob wir nicht genau das getan haben, was Drask wollte.« In Wahrheit fragte er sich dies nicht allmählich, sondern schon eine geraume Weile - genaugenommen seit dem Moment, in dem er an Dels Seite durch das Burgtor gestürmt war und gesehen hatte, wie Titchs Quorrl die Wachmannschaften einfach überrannten, schon durch ihre pure Zahl. Die Architektur dieser Burg wirkte auf den ersten Blick genial; einem unkundigen Auge mochte sie wirklich uneinnehmbar erscheinen, schon durch ihre ungeheuerliche Größe. Aber sie war es nicht. Es war beinahe ein Kinderspiel gewesen, sie in die Hand zu bekommen. Skar begann sich zu fragen, ob Drasks Baumeister wirklich so wenig von ihrem Handwerk verstanden. Oder vielleicht mehr, als sie alle bisher angenommen hatten. Er vertrieb den Gedanken, nahm sich aber vor, ihn später noch einmal genauer zu durchleuchten.

»Hast du das so auch Bradburn erzählt?« fragte er Kiina. Das Mädchen nickte. »Natürlich.«

»Mit denselben Worten?« drängte Skar. »Bitte, Kiina - es ist wichtig. Erinnere dich genau. Es ist wichtig.«

Kiina dachte angestrengt nach, aber nach einer Weile nickte sie wieder. »Ich bin sicher. Ich konnte mich nicht auf den Ausdruck besinnen, den sie benutzten, aber ich... ich habe es genauso ausgedrückt wie jetzt, ja. Ganz sicher«, fügte sie hinzu. »Dann ist alles klar«, folgerte Titch. Alle drei sahen überrascht hoch und blickten den Quorrl an, und Titch fuhr mit einer anklagenden Geste auf Kiina fort: »Du hast ihn umgebracht, Menschenjunges, weißt du das?«

»Ich?!« keuchte Kiina.

»Was für ein Unsinn!« rief Del ärgerlich dazwischen. »Sie war nicht einmal in seiner Nähe, als -«

»Er hat das Netz nicht vernichtet«, fuhr Titch ungerührt fort. »Es kann nur so gewesen sein. Er hat die tote Errish und ihre Rüstung verbrannt, genau wie du von ihm verlangt hast, aber er hat etwas von dem Netz zurückbehalten. Bradburn war ein kluger Mann, aber auch sehr wißbegierig. Vielleicht hatte er vor, es später in aller Ruhe und mit der angemessenen Vorsicht zu untersuchen. Und als das Mädchen ihm von dem Etwas erzählte, an dessen Namen sie sich nicht erinnern kann, hat er angefangen zu überlegen.«

»Das ist möglich«, gab Skar ruhig zu. »Aber es muß nicht so gewesen sein, nicht wahr? Ich kann mir zehn andere Erklärungen ausdenken, wenn du willst.«

»Ja«, forderte Titch.

Skar blinzelte verwirrt, und Titch machte eine auffordernde Handbewegung. »Ich will es«, bekräftigte er. »Tu es, Satai.« Skar setzte zu einer wütenden Antwort an, aber Del unterbrach ihn, noch bevor er auch nur ein Wort hervorbringen konnte. »Er hat recht, Skar«, stellte er fest. »Es könnte so gewesen sein. Wahrscheinlich war es sogar so. Was aber nicht heißt«, fügte er, in Kiinas Richtung gewandt, hinzu, »daß du ihn umgebracht hast.« Er lächelte verzeihend. »Titch drückt die Dinge manchmal etwas direkter aus, als gut wäre, Kind. Es war vollkommen richtig, daß du Bradburn und mir alles erzählt hast. Schließlich haben wir dich gefragt.«

Kiina erbleichte noch weiter. Ihre Augen wurden dunkel vor Entsetzen. »Aber dann ... dann ...«

»Dich trifft keine Schuld«, betonte Del noch einmal. »Wenn es so etwas wie Schuld in diesem Fall überhaupt gibt, dann trifft sie allerhöchstens Bradburn selbst. Er hätte wissen müssen, in welche Gefahr er sich begibt.«

»Sich?« Titch lachte böse. »Dieser Narr hätte uns alle umbringen können. Ihr habt gesehen, was dieses ... Ding angerichtet hat!«

Seltsam - aber für einen Moment war Skar vollkommen sicher, daß Titch etwas ganz anderes hatte zum Ausdruck bringen wollen. Er ließ sich nichts anmerken, nahm sich aber vor, in Zukunft noch genauer auf das zu achten, was der Quorrl sagte.

»Erzähl uns mehr von dem Netz«, verlangte Del. »Dem Wächter - so nennt ihr es wohl in Elay?«

Kiina nickte automatisch, aber ihre Antwort war kaum weniger ergiebig als die, welche sie zuvor gegeben hatte. »Ich weiß nicht viel darüber«, bekannte sie. »Es war einfach da, eines Tages. Ich selbst war nicht dabei - niemand, der sich in der Heiligen Halle befand, als es auftauchte, überlebte den Tag.«

»Gestern hast du gesagt, es wäre unaufhörlich gewachsen«, erinnerte Del.

»Das ist es auch«, antwortete Kiina. Sie wirkte nervös. Ihr Blick irrte unstet zwischen Del und Skar hin und her, und Skar wußte, daß sie bald anfangen würde, sich in Widersprüche zu verwickeln und die Dinge durcheinander zu werfen, nicht, weil sie log, sondern einfach, weil sie diese Art eines strengen Verhöres nicht gewohnt war und wie fast jeder Mensch in ihrer Lage das Gefühl haben mußte, angeklagt zu werden. »Das ist es auch«, wiederholte sie. »Es hat sich über... über ganz Elay ausgebreitet, nach und nach. Aber zuerst ist es in den Heiligen Hallen aufgetaucht. Ganz plötzlich. Ich war nicht in der Stadt, aber ich habe es von anderen gehört.«

»Wann genau?« fragte Skar. Ganz plötzlich hatte er wieder das Gefühl, der Lösung ganz nahe zu sein, aber wieder schien sie sich seinem Zugriff wie ein lebendes Wesen zu entziehen, als er danach greifen wollte.

»Wann genau? Ich verstehe nicht -«

»Wann ist es aufgetaucht?« formulierte Skar seine Frage präziser. »Nachdem ihr die Zauberpriester zurückgeschlagen habt, oder bevor sie kamen?«

»Danach«, antwortete Kiina. »Nach ... nach dem letzten Angriff.« Sie blickte ihn nachdenklich an. »Du glaubst, sie hätten es erschaffen?«

»Warum nicht?«

»Aber sie sind Elay nicht einmal nahe gekommen«, antwortete Del an Kiinas Stelle. »Das stimmt doch, oder?«

»Ja«, Kiina nickte übertrieben heftig. »Unsere Drachen haben sie geschlagen, wo immer sie auftauchten. Und jedes Mal vernichtender.«

»Sie sind Zauberer«, erinnerte Skar.

»Unsinn«, entfuhr es Del. »Oder meinetwegen, ja,« verbesserte er sich sogleich. »Aber nicht solche Zauberer. Könnten sie einen Zauber wie dieses Netz erschaffen, über fünfhundert Meilen hinweg, Skar, dann säßen wir nicht hier.«

Ja, dachte Skar. Das stimmt. Es sei denn, nicht sie haben das Netz gewoben, sondern ein anderer. Aber laut sprach er das nicht aus. Das Bild begann sich zu einem Ganzen zu formen, aber das Muster war noch zu unvollständig, um es zu erkennen. Noch nicht.

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