7. Leben am Rand

Harley sagte in seiner Besserwisserart: »Du hast eben nicht den heißen Draht nach innen. Bob ist jetzt sicher oben in der Kuppel und macht sich eine gute Zeit. Verlaß dich drauf.«

»Nein, das glaube ich nicht«, widersprach ich ihm, aber insgeheim fürchtete ich, Harley könne doch recht haben.

Die Posten prüften unsere Pässe, und wir nahmen den Elevator zur Kuppel. Da kamen wir durch den Lärm der Pumpenräume und der Luftanlage, an den Anlegestellen der schlanken Fracht-Tiefsee-Boote vorbei, die sich zum Entladen in eine Edenit-beschichtete Druckkammer schieben mußten.

»Suchen wir nach ihm«, sagte ich plötzlich.

»Ha, du glaubst also selbst ...«

Er sah mein Gesicht, hob die Schultern und setzte eine andere Miene auf. »Ich sag dir was«, begann er ein wenig zögernd, »mir macht es ja nichts aus, aber in drei Stunden bin ich bei meinen Leuten zum Dinner verabredet. Kommst du mit?«

»Hilf mir erst Bob suchen«, sagte ich.

»Meinetwegen. Warum nicht? Aber laß dir sagen, das Essen bei meinem Vater lasse ich nicht aus. Wenn wir ihn bis 19 Uhr nicht finden .«

Auf einem Rollsteg näherten wir uns der Kuppelmitte.

»Die meisten Männer suchen sich für ihre Freizeit den oberen südöstlichen Oktanten aus«, erklärte mir Harley mit Kennermiene. »Wir nennen ihn den Weißen Weg, und dort sind die Läden, Theater und Restaurants. Ihr Landratten müßt natürlich auf den Rollwegen sehr vorsichtig sein. Paß auf, wie ich mich einstemme.«

»Ich bin eigentlich keine richtige Landratte«, berichtigte ich ihn.

»Hm. Ansichtssache«, meinte er. »Sicher, du hast ein paar Wochen in einer Kuppel verbracht, aber ich war mein ganzes Leben lang hier. Ich weiß nicht, was du sonst bist, aber was du für mich bist, das weiß ich.« Er grinste breit. »Komm, ich geb dir einen ordentlichen Einblick, während wir gehen.«

Er führte mich zu einer Reihe von Aufzügen. »Krakatau Dome ist«, begann er in lehrhaftem Ton, »eine perfekte Halbkugel, bis auf das Rohr an der Spitze, das zum Terminal an der Oberfläche geht. Diese Halbkugel hat einen Durchmesser von zweitausend Fuß und ist tausend Fuß hoch, von den Drainagepumpen, den Lagerhäusern und so weiter einmal abgesehen, die sich am Boden der Kuppel befinden, Station K überhaupt nicht zu erwähnen.«

»Ah, ich verstehe«, sagte ich und hörte ihm kaum zu, denn ich schaute in jedes Gesicht in der Hoffnung, Bob zu sehen.

»Diese Pumpen halten uns die See draußen. Kein Beben, sagt man, kann die Kuppel selbst beschädigen. Dafür wäre mindestens Stärke acht nötig, vielleicht sogar neun oder zehn. Aber selbst ein kleineres Beben, das sich auf eine falsche Stelle auswirkt, könnte unter uns den Fels irgendwie aufreißen, hätten wir die Edenit-Beschichtung nicht. Dann geht’s wummm! Und die See würde einbrechen.«

Ich schaute ihn an. Solche Möglichkeiten schien er zu genießen.

»Jim, nimm’s nicht so tragisch«, meinte er tröstend. »Ich weiß, es ist wahr, daß wir am Rand einer aktiven seismischen Zone leben. Na, und? Richtig, wenn die Pumpen versagen und sich der Grundfels spaltet, dann bricht die See ein, aber da gibt es dann immer noch eine Überlebensmöglichkeit. Natürlich nicht unten auf Station K. Die wäre mit Sicherheit erledigt. Aber die Kuppel selbst ist in Oktanten eingeteilt, und jeder kann in einer Sekunde völlig versiegelt werden.

Natürlich«, fügte er nachdenklich hinzu, »wäre es immerhin möglich, daß wir keine Sekunde Zeit hätten. Besonders dann nicht, wenn etwas mit der Energieversorgung wäre und die automatischen Oktanten-Barrieren nicht funktionierten.«

Ich ließ ihn reden. Warum auch nicht? Er versuchte einer Landratte Angst einzujagen, aber ich war ja keine Landratte, egal was er auch von mir dachte. Ich liebe die Tiefen viel zu sehr, als daß ich sie mir als Feind vorstellen könnte.

Als wir etwa ein Dutzend Decks hinter uns hatten, sagte ich: »Das reicht jetzt, Harley. In Ordnung? Ich möchte nach Bob suchen.«

Er lachte. »Geht dir wohl unter die Haut, eh?« Aber so, wie er das sagte, klang es falsch, nicht liebenswürdig, wie es wohl hätte klingen sollen. »Wir haben noch ein ganz schönes Stück zum Deck Null. Das hier ist die Einkaufszone. Schauen wir uns doch mal um.«

Wir waren in einer Straße mit vielen Menschen. Eigentlich sah sie kaum anders aus als eine Einkaufsstraße oben, wenn man davon absah, daß hier das Licht aus Troyon-Röhren kam, die in die Metalldecken vierzig Fuß über uns eingebaut waren.

Wir kamen auch an SD-Theatern und Restaurants vorbei. Überall gab es sehr viele Menschen, Zivilisten und Mannschaften von den Tiefsee-Frachtern und Passagierschiffen und die Männer von der Flotte in Uniform. Auch Kadetten in den scharlachroten Ausgehuniformen sah ich, doch Bob war nicht darunter.

Wir fuhren auf einem Rollweg zur nächsten Radiale, dann zurück zu den Elevatoren. Harley schaute auf seine Uhr. »Die Kuppel hat ungefähr hundert Meilen Straßen, und wenn du alle Rollwege abklapperst, die mit vier Meilen in der Stunde dahinschleichen, dann brauchst du ungefähr vier Tage, um die ganze Kuppel abzusuchen. Eskow wird vermutlich in einem Gebäude sein, an dem du vorbeigehst. Gib lieber auf und komm mit mir nach Hause.«

»Noch ein Deck wollen wir versuchen«, schlug ich vor.

Wir gingen also zum nächsten Deck hinauf. Dort gab es Schießbuden, Pinballmaschinen und Andenkenläden, die kleine Plastikmodelle der Kuppel verkauften. Sie wurden in Kartons verpackt, so daß man sie gleich verschicken konnte. Hier sahen wir viele Uniformen, aber keinen Bob.

»So, für mich ist das jetzt alles«, erklärte Harley Danthorpe. »Geh doch mit ‘rauf zum nächsten Deck. Da lebt meine Familie. Du kannst ja dort auch suchen, genauso gut wie sonstwo.«

In der Straße oben gab es viele teuer aussehende Restaurants. Wir nahmen den Rollsteg durch die Sicherheitsmauer in den Wohnoktanten, wo die Danthorpes lebten. Hier waren die Straßen breiter, und unter den Troyon-Lichtern waren neben den Rollwegen schmale, sehr gepflegte Rasenstreifen. Die Wohnhäuser sahen nach Reichtum aus. An den Toren standen teure Robotbutler.

»Na, komm schon mit herein«, schlug Harley Danthorpe gastfreundlich vor. »Und bleib zum Dinner. Meines Vaters Chefkoch kann .«

»Danke«, sagte ich und schüttelte den Kopf. Danthorpe hob die Schultern und verließ mich. Ich fuhr weiter zur nächsten Sicherheitsmauer.

Hier sah es ganz anders aus. Ich befand mich im Finanzdistrikt, die Geschäftsstunden waren vorüber, die Straßen waren leere Tunnels aus Glas, Granit und Edelstahl. Hier konnte ich Bob ganz bestimmt nicht finden. Aber ich fuhr weiter zum nächsten Oktanten.

Hier ging es lebendiger zu. Es war ein Wohnviertel für die weniger Reichen, also die Büroangestellten und Fabrikarbeiter, die Familien der Flottenangehörigen und die Mannschaften der Handelsschiffe der Tiefsee. Luxus gab es hier nicht. Die Läden waren hier klein, und darüber lagen Wohnungen. Männer in Unterhemden lasen Zeitungen auf den Balkonen, Kinder liefen herum und machten Lärm, und Frauen in Hausmänteln holten sie von der Straße ins Haus.

Hier würde ich Bob wohl auch nicht finden. Eben wollte ich dieses Viertel verlassen - da sah ich Bob!

Er sprach mit einem kleinen, verrunzelten Chinesen, mit dem Mann, den ich unten in unserem Quartier gesehen hatte.

Ich wollte schon zu ihm laufen, aber ich überlegte es mir doch anders. Gerne gab ich das nicht zu, doch mir schien, hier ging etwas vor, und mir gefiel es nicht, daß sich mein Freund Bob Eskow auf solch offensichtlich zwielichtige Sache einließ. Ich war kein Spion, dem es Vergnügen bereitete, einen anderen zu beschatten, um ihn auf einer bösen Tat zu ertappen. Aber hier verstand ich einiges nicht, doch ich mußte warten, bis ich wenigstens ahnte, was hier gespielt wurde.

Und die beiden benahmen sich, das muß gesagt werden, merkwürdig. Es war fast so, als wüßten sie, daß jemand ihnen folgte. Sie sprachen kurz miteinander, dann trennten sie sich. Bob kniete nieder, um an seinen Schuhen etwas zu tun und schaute sich heimlich dabei um. Der kleine Chinese trippelte ein Stück weg, warf eine Münze in einen Kaugummiautomaten und spähte ebenfalls in die Runde. Ich hielt mich im Hintergrund.

Erst als sie auf dem Rollsteig schon fast die Trennmauer erreicht hatten, sprang ich auf und folgte ihnen so nahe, wie ich es gefahrlos tun konnte. Wir glitten tiefer, zu einer Elevatorbank, dann noch weiter nach unten.

Ich kam mir vor wie ein verbundener Daumen. Meine rote Uniform war die schlechteste Verkleidung für einen Nachwuchsagenten bei einem Geheimauftrag. Ich kam mir sehr närrisch dabei vor. Die Zeit, mir um meine Gefühle Sorgen zu machen, hatte ich jedenfalls nicht, ich mußte ja bei ihnen bleiben.

Bob stand nun schon in einer Reihe hinter drei lauten Tiefsee-Männern vor einem Elevator, der nach unten ging. Der Chinese hatte einen Penny in eine Nachrichtenmaschine gesteckt und stand so über das Lesepult gebeugt, daß er, wenn er die Augen hob, den ganzen Platz vor der Liftreihe im Blick hatte. Je vorsichtiger sich die beiden benahmen, desto überzeugter war ich, sie müßten etwas in Schild führen.

Ich hielt mich nun auch an die Taktik. Ein paar Kadetten von einem im Dock liegenden Trainings-Tiefsee-Schiff, der Simon Lake, wie ich ihren Emblemen entnahm, standen vor einem Schaufenster. Dort war eine Menge Scuba-Gerät ausgestellt, das für zivilen Gebrauch in seichtem Wasser bestimmt war. Sie amüsierten sich darüber. Ich stellte mich neben sie. Solange ich mein Gesicht abwandte, hielt ich es für unwahrscheinlich, daß Bob oder der Chinese mich erkannte. Die Kadetten nahmen nicht einmal Notiz von mir. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, über das angeberische Chromzeug dieser Geräte zu lachen.

Die verchromte Seite einer Elektrokieme benützte ich als Spiegel. Ich beobachtete, wie Bob den lauten Tiefsee-Männern in den nach unten führenden Elevator folgte. Der kleine Chinese verließ die Nachrichtenmaschine und stellte sich vor dem nächsten Wagen an. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf und stieg mit ihm in den nächsten Wagen.

Er wickelte sein kleines Kaugummipäckchen mit der Ernsthaftigkeit eines Dreijährigen aus. Aber als sich die automatische Tür des Wagens hinter mir zuschob, schaute er für einen Sekundenbruchteil auf.

Plötzlich war er mehr als nur ein alter Chines. Er war ein Mensch. In dem Blick, den er mir zuwarf, war hellwache Intelligenz. Ich war sicher, daß er mich erkannte, doch er machte nicht einmal den Versuch, mit mir zu sprechen. Seinen Gesichtsausdruck werde ich aber niemals vergessen.

Ich hatte für einen verrückten Moment geglaubt, ich sei hier in Gefahr. Doch nicht ich war in Gefahr, denn in seinen Augen hockte nackte Angst wie bei einem Tier, das in eine Falle geraten war. Sein faltiges Gesicht wirkte hager und gehetzt. Aus hohlen Augen musterte er mich kurz, dann schaute er weg, als warte er, von seinem Elend erlöst zu werden. Das verstand ich nicht.

Ich schaute auch weg, danach kreuzten sich unsere Blicke nicht mehr. Unten angekommen stiegen wir aus. Ich schaute mich schnell nach Bob um - nichts war von ihm zu sehen.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als bei diesem Chinesen zu bleiben. Ich folgte ihm länger als eine Stunde.

Wir machten eine Tour rund um die Kuppel, und bald wußte ich, daß er mit mir spielte. Er wußte, wer ich war, und daß ich ihm folgte. Also würde ich nichts erfahren. Trotzdem folgte ich ihm. Ich hatte sonst nichts zu tun.

Es ging auf 20 Uhr. Um diese Zeit sollte Bob zurück sein in der Bebenstation, denn da wollte Lieutenant Tsuya ihm beweisen, daß sich das von ihm vorhergesagte Beben nicht ereignen würde. Er hatte genug Zeit zur Rückkehr gehabt, seit ich ihn aus den Augen verloren hatte, und ich konnte nur hoffen, daß er auch wirklich zurückgekehrt war. Das Geheimnis, weshalb er unerlaubt die Station verlassen hatte, war nicht geklärt, und ein Geheimnis blieb auch seine Verbindung mit dem Mann, dem ich folgte.

Als es 20 Uhr und später wurde, erschien mir der Mann, dem ich folgte, immer aufgeregter. Ein paarmal schaute er zu mir zurück, öfter als einmal kam er mir sogar ein paar Schritte entgegen, doch jedesmal änderte er wieder seine Absicht. Er schien nicht nur meinetwegen besorgt zu sein, er schaute auch immer nach oben, an die Mauern, die Gebäude und nach den Menschen.

Etwas sehr Wichtiges schien ihn zu beschäftigen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was es war - bis ein schrecklich klagender Ton die ganze Kuppel erfüllte. Er kam von irgendwoher tief unter uns, und die Entfernung mußte so groß sein, daß das schreckliche Heulen gar keinen Sinn ergab.

Dann bewegte sich der Boden unter meinen Füßen. Nun wußte ich, was los war.

Ein Seebeben!

Bobs Vorhersage hatte gestimmt. Ich hörte Schreie von den Menschen um uns herum, sah den alten Chinesen, der sich umdrehte und mir entgegenrannte. Dann segelte ein großes, zerklüftetes Ding vom Deckdach herab, mir entgegen. Ich versuchte ihm auszuweichen, doch es war zu spät. Es streifte mich. Ich wurde etliche Meter weggeschleudert, und dann gingen für mich die Lichter aus.

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