20. Die Findlinge des Gezeitenvaters

Ein kleiner Weihnachtsmann in klerikalem Schwarz sagte immer wieder zu mir: »Jim, Junge, komm, nimm das!« Etwas Brennendes, Scharfes wurde mir in den Mund geschoben.

Ich setzte mich auf, keuchte und würgte und sah in die klaren, seeblauen Augen von Vater Tide.

»W-was .«

»Nicht reden, Junge«, riet mir Vater Tide gemütlich mit seiner warmen Stimme. Er lächelte, und seine roten Wangen wiesen Lachfalten auf. »Ist schon in Ordnung, Jim. Du bist in meinem Seewagen. Wir sind auf dem Rückweg nach Krakatau.«

»Krakatau?« fragte ich. Und dann kam mir wieder die Erinnerung. »Aber Krakatau ist doch geflutet, Vater Tide! Wir waren dort. Wasser in der Bebenstation. Kein Zeichen von Leben!«

Besorgt runzelte er die Brauen. »Wir gehen zurück, Jim. Vielleicht finden wir Überlebende ...« Anschauen konnte er mich dabei freilich nicht.

Ich stand auf und stellte fest, daß ich in der vorderen Kabine von Vater Tides eigenem Seewagen war. Die ganzen Wände waren mit seinem seismologischen Instrumentarium bedeckt, mit Mikroseismographen, Erzsammlern, Echolotgeräten und allen möglichen ähnlichen Dingen. In diesem kleinen Schiff hatte Vater Tide alle Weltmeere durchstreift und die Geheimnisse der Gesteinsverwerfungen und Bebenfalten studiert. Er hatte Wissen angesammelt, ohne das Dr. Koyetsus Grundsätze niemals hätten entwickelt werden können. Von diesem Seewagen hatte ich schon viel gehört, und jetzt war ich selbst da.

Und ich war nicht allein.

Gideon Park beugte sich über mich, und sein breites, schwarzes Gesicht strahlte wie ein Sonnenaufgang. »Jim, du bist ganz in Ordnung. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wir anderen sind schon seit ungefähr einer Stunde wieder da, aber du bist ein ganz vertrackter Fall, Junge.«

»Wir anderen?« fragte ich.

Gideon nickte. »Alle. Vater Tide kreuzte gerade in der Gegend. Wir befanden uns über einem Epizenter, verstehst du, und er hatte die Vibrationen des MOLEs entdeckt. Der Steuermechanismus hatte endgültig den Geist aufgegeben, aber der ortholytische Drill ging immer noch rund, nach oben, rührte den ganzen Schlamm des Seebodens auf, und wir lagen drinnen alle flach. Aber Vater Tide holte uns ‘raus ... Herrje, das ist ein Mann! Sein winziger Seewagen war schon vollgestopft mit Flüchtlingen und Gerät. Aber ihn hat das nicht gestört. Er nahm uns an Bord.«

Gideon wandte sich ab. »Wir sind in Sicherheit, Jim. Aber die anderen in Krakatau Dome . Dein Onkel und Doktor Koyetsu .«

Mehr brauchte er nicht zu sagen.

Alles andere war ein Triumph.

Ich trauerte zutiefst um meinem Onkel und die guten Leute von Krakatau Dome, aber wenn sie umgekommen waren, so hatten wir doch den Trost, daß sie die letzten sein würden, da nun die seismischen Kräfte unter Kontrolle genommen waren. Mit Dr. Koyetsus Technik war die Gefahr vorüber. Wir alle hatten wie die Teufel geschuftet und taten es auch jetzt wieder in der winzigen Kabine von Vater Tides Seewagen. Wir maßen, rechneten und zeichneten Karten. Und ...

»Es hat gewirkt!« rief Harley Danthorpe und wedelte mit seiner Vorhersagekarte. »Schaut mal, was ich da habe. Mögliche Stärke: Null. Mögliche Zeit: Unendlich. Und möglicher Irrtum: so gering, daß überhaupt keine Zahl herauskam.«

»Genau«, bestätigte Lieutenant Tsuya, und zum erstenmal seit Tagen strahlte sein abgemagertes Gesicht. »Ich hab’ die gleichen Ergebnisse. Und Sie, Eden und Eskow?«

Wir nickten beide.

Die negative Schwerkraftanomalie sank immer weiter ab, die Spannungen hatten sich gelöst. Was auch immer der Kuppel geschehen sein mochte - das Verfahren wirkte.

Wir hatten bewiesen, daß sich Beben vorhersagen ließen. Und wenn sich Seebeben vorhersagen ließen, konnte man sie auch unter Kontrolle bekommen. Ein neues Nansei Shoto Dome-Drama brauchte es also nie mehr zu geben. Selbst die Trockenstädte waren jetzt sicherer. Die ungeheuren Tragödien von Lissabon und San Franzisko und alle späteren brauchten nie mehr zu passieren.

Aber denen, die in Krakatau umgekommen waren, nützte dies nicht mehr ...

Düster schüttelten wir einander die Hände.

In der nächsten Stunde surrte der kleine Seewagen geschäftig zurück nach Krakatau. Wir hingen über unseren Seismographen und Geosonden, um nur ja jede Vibration in der Erdrinde aufzufangen, die vielleicht unser strahlendes Bild verdüstern konnte. Aber die Spannungen in der Erdrinde hatten sich gelöst, soviel war sicher. Die Erde unter der Stadt war ruhig. Die Flüchtlinge in den hinteren Abteilungen verhielten sich geduldig; ihre Gesichter waren grimmig, aber entschlossen. Man hatte ihnen schließlich erzählt, wie wir entdeckten, daß die untersten Ebenen der Krakatau-Kuppel von der hämmernden See überflutet worden waren, und sie wußten, wie gering die Aussicht war, dort noch Leben vorzufinden. Jeder hatte Freunde oder Verwandte dort. Kein Wunder also, daß sie über alle Maßen besorgt waren. Aber alle waren Pioniere der Tiefsee, und wenn die Kuppel vernichtet war, würden sie anderswo eine neue bauen!

Nach langen, spannungsgeladenen Minuten näherten wir uns Krakatau Dome.

Vater Tide rief, und seine Stimme klang halb erstickt: »Ich sehe ... Anzeichen des ... Edenit-Effekts! Die elektronischen Impulse auf meinen Schirmen ... Ich meine, die Kuppel ist noch intakt .«

Einen Augenblick später sahen wir es.

Es war ein ungeheurer Bau, der da in den Tiefen stand, und ganze Schwärme von Seewagen eilten zu den Docks. Die blaßschimmernde Kuppel stand stark und sicher da.

Die Beschichtung hatte gehalten!

Nicht nur Dr. Koyetsus Technik hatte sich für die Zukunft bewiesen, sie hatte auch Krakatau selbst gerettet, die Hunderttausende, die dort lebten, sogar die ganzen Bauten.

Wir waren kaum eines Wortes mächtig vor bewunderndem Staunen, als sich unser Schiffchen an die lange Reihe jener anschloß, die alle vor den Schleusen warteten, um die Menschen wieder in ihre selbstgewählte und selbstgeschaffene Heimat zurückzubringen. Die Zeit blieb stehen. Es dauerte wohl länger als eine Stunde, doch uns schienen es nur ein paar Minuten gewesen zu sein, bis wir in der Schleuse waren und die Luken öffnen konnten .

Wir traten wieder hinaus in das warme, geschäftige Leben von Krakatau Dome!

Meinen Onkel und Dr. Koyetsu fanden wir im Krankenhaus. »Nichts Ernstes, Junge«, wisperte mir mein Onkel zu, und in seiner Stimme war das alte, vertraute Lachen. »Nur ein bißchen abgenützt. Als ihr mit dem MOLE verschwunden wart, hämmerte die See auf Station K ein. Wir mußten schnellstens verschwinden.

Und wir schafften es. Die ganze Flottenbasis war auf eine höhere Ebene evakuiert worden, innerhalb des Edenit-Schildes. Und der hielt, Junge, trotz aller Beben!« Der drehte sich zu Dr. Koyetsu um und lachte über sein ganzes Gesicht.

Gideon Park legte seinen Arm ein bißchen fester um meine Schulter. »Wir machten uns da ja überhaupt keine Sorgen, Stewart. Was, Jim?«

»Natürlich nicht«, versicherte ich meinem Onkel ernsthaft. »Wir wußten doch, daß du schon durchkommst.«

Das sagte ich ganz ernst, aber Bob und Harley Danthorpe verpatzten mir die Wirkung, weil sie sich fast den Kopf vom Hals lachten. Und mein Onkel grinste verschmitzt.

»Ist ja alles vorbei«, sagte er. »Und wir können wieder an unsere Arbeit zurückkehren. Die See hat noch eine Menge Kampf für uns, und wir können sie nicht besiegen, wenn wir in Krankenhausbetten herumfaulenzen. Schwester!« bellte er, stieß die Decken von sich und stand auf. Er sah komisch aus in seinem kurzen Krankenhausnachthemd. »Schwester! Bringen Sie mir meine Kleider, damit ich hier ‘raus kann! Die Gezeiten warten nicht!«

ENDE

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