15. Stewart Edens Verbrechen

Lieutenant Tsuya schlug die Safetür zu und trat vorsichtig zurück, denn er hatte großen Respekt vor dem atomaren Tod, den der Tresor enthielt. Dann schaute er meinen Onkel an. Seine Miene war eine merkwürdige Mischung von Gefühlen: Sorge, Schock, Trauer - und Triumph.

»Na, schön, Eden. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Ich ...« Schwerfällig stapfte mein Onkel vom Safe zum Feldbett und ließ sich darauf nieder. Er schüttelte den Kopf, als wolle er seine Gedanken klären. Dann lehnte er sich matt an die grüne Wand zurück.

»Das sind thermonukleare Geräte!« rief Tsuya. »Sie gehören nicht in die Hände von Zivilisten, Eden! Sie wissen das sehr genau. Sie müssen der Flotte gestohlen worden sein. Aber selbst die Regierung von Krakatau hat sich verpflichtet, die internationalen Gesetze zu achten, die der Flotte die exklusiven Rechte über die Herstellung und Verwendung nuklearer Geräte einräumen. Das ist Konterbande! Und Sie können nicht leugnen, daß diese Dinge in Ihrem Besitz gefunden wurden!«

Mein Onkel blinzelte ihn an. »Ich leugne es ja gar nicht«, flüsterte er so, daß ich es kaum hören konnte.

»Und Sie haben diese Dinge vermutlich zur Erzeugung von Seebeben benützt!« rief der Lieutenant und deutete auf meinen Onkel. »Leugnen Sie das?«

Angestrengt schüttelte mein Onkel den Kopf.

Der Lieutenant war bestürzt. Er schaute mich an, dann wieder meinen Onkel. Er hatte wohl mit mehr Schwierigkeiten gerechnet. »Und Sie geben das alles zu?« fragte er ungläubig. »Sie geben zu, ein so schweres Verbrechen begangen zu haben, daß es keinen Namen dafür gibt? Tod und Vernichtung hervorgerufen zu haben, als Sie Seebeben auslösten?«

»Tod?« flüsterte mein Onkel. »Aber es hat doch gar keine Todes ...« Er sprach den Satz nicht fertig, sondern holte tief Atem. Er wurde sehr blaß, dann sank er auf das Feldbett, und sein Kopf hing schlaff über den Rand. Er atmete schwer.

»Onkel Stewart!« schrie ich und rannte zu ihm. Auch Gideon eilte an seine Seite.

»Stopp!« röhrte Lieutenant Tsuya. »Zurück! Nicht berühren! Der Mann ist ein Verbrecher!«

»Aber er ist doch krank«, wandte Gideon sanft ein. »Er braucht seine Medizin. Sie bringen ihn um, wenn ich ihm nicht helfen darf.«

»Das ist meine Verantwortung«, herrschte ihn der Lieutenant an. »Er ist mein Gefangener.« Er drehte sich zu meinem Onkel um, der nun bewußtlos war. »Stewart Eden«, dröhnte er, »als autorisierter Offizier der Tiefsee-Flotte und in Ausübung meiner Pflicht stelle ich Sie hiermit unter Arrest!«

Wenn mein Onkel diese Rede gehört hatte, so ließ er es nicht erkennen. Er lag keuchend da. Ich stand schweigend dabei, aber Gideon kümmerte sich um meinen Onkel. Geschickt schob er ihm ein Kissen unter den Kopf, hob ihm die Füße auf das Feldbett und breitete Decken über ihn. »Stewart, gleich bist du wieder in Ordnung«, redete er ihm zu. »Ich mach dir schon deine Injektion zurecht.«

»Sie tun nichts dergleichen!« schnappte der Lieutenant. »Er ist mein Gefangener!«

Gideon stand auf und wandte sich zum Lieutenant um. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals zornig gesehen zu haben. Aber nun war ich froh, daß es der Lieutenant mit ihm zu tun hatte, nicht ich.

Wie ein riesiger Krieger aus dem alten Afrika stand er da, und seine Augen waren so schwarz wie der tiefste Grund der Tiefen. Er sagte mit seiner tiefen, leisen Stimme so drohend, wie ich es noch nie gehört hatte: »Stewart Eden hat ein schwaches Herz, Lieutenant. Ich werde ihm jetzt eine Injektion machen. Wenn Sie mich daran hindern wollen, müssen Sie mich schon erschlagen.«

Der Lieutenant hörte sich einen Moment die mühsamen Atemzüge meines Onkels an, und Gideon holte aus dem Schreibtisch eine Spritze und krempelte den Hemdsärmel meines Onkels hoch. »Na, schön. Geben Sie ihm die Injektion«, knurrte er und schaute mich wütend an.

Aber da hatte es Gideon schon getan, geschickt und vorsichtig wie eine altgediente Krankenschwester. Natürlich dauerte es ein paar Augenblicke, bis die Wirkung sichtbar wurde.

Wir alle standen um meinen Onkel herum. Gideon kniete neben ihm und redete leise auf ihn ein. Meines Onkels Gesicht sah hager und blutlos aus, und auf der Haut standen winzige Schweißperlen.

»Sie halten ihn besser am Leben«, schnappte der Lieutenant. »Wir haben eine Menge Fragen an ihn. Gestohlene Atomzünder! Seebeben veranstalten, um daraus privaten Profit zu ziehen. Erschütternde Verbrechen! Und dies bei einem Mann, den die ganze Welt als Helden verehrt! Park, ich will ihn am Leben haben!«

»Ich auch«, erwiderte Gideon leise. Er stand auf. »Es wird noch ein paar Minuten dauern, aber ich glaube, es wird jetzt schon gut. Wenn er aufwacht, möchte ich, daß Sie dem zuhören, was er zu sagen hat.«

»Das werde ich auch tun«, bellte der Lieutenant grimmig. »Damit können Sie rechnen. Aber ich warne Sie. Ich werde nicht alles glauben, was er zusammenkocht.«

»Angenommen, es sind keine Lügen?« warf Gideon leise ein.

Da mischte ich mich ein, ich konnte nicht anders, obwohl mein Hals wie ausgetrocknet war. Ich hatte schon zu lange geschwiegen. Das war schließlich mein Onkel, der größte Mann der Welt! Nie hatte ich etwas anderes in ihm gesehen, und auf bestimmte Art ging es mir noch heute so.

»Lieutenant, geben Sie ihm eine Chance«, sagte ich. »Sie kennen meinen Onkel nicht, aber ich kenne ihn. Er kann kein solches Verbrechen begangen haben, es ist einfach ausgeschlossen. Ich garantiere Ihnen, er hat gute Gründe und noch bessere Erklärungen. Warten Sie und hören Sie ihn an, wenn er aufwacht.«

Tsuya sah mich fest an, ehe er sprach. Natürlich war ich mir darüber klar, wie überanstrengt er war. In den letzten Tagen hatte er kaum einmal eine Stunde Ruhe gehabt, noch viel weniger als ich, und ich war schon gefährlich übermüdet.

»Kadett Eden«, sagte er leise und tonlos, »Sie gehen mit Ihrer Familienloyalität etwas zu weit. Ich kenne Ihren Onkel gut genug, um zu wissen, welch großer und bewunderter Mann er war - früher. Was hat das aber mit der jetzigen Lage zu tun? Sie hörten doch selbst, Eden, daß er seine Schuld zugab.«

Das war ein furchtbarer Schlag, und ich hatte keine Antwort.

Gideon setzte zum Sprechen an, doch da gab es eine Unterbrechung. Ich fand, daß ich unsicher auf meinen Füßen stand, streckte die Arme aus, um mich irgendwo festzuhalten und schaute zu den anderen .

Alle taumelten leicht und schauten ebenso verblüfft drein wie ich.

Und dann war mir alles klar. Von ganz tief unten, aus den Felsen unter der Stadt kam das rumpelnde Grollen eines Riesen, ein Baß-Stöhnen. Der große Tresor schüttelte sich ein wenig und rollte mir entgegen. Dann nahmen die Vibrationen zu. Eine Tintenflasche auf dem Tisch meines Onkels tanzte auf der Platte und zerschellte dann auf dem Boden. Blauschwarze Tinte bespritzte die Aufschläge meiner scharlachroten Uniform. Harley Danthorpe tat einen raschen Schritt - und lag auf dem Boden.

»Ein Beben!« schrie ich. »Ein Seebeben! Und viel zu früh!«

Die Vibrationen mußten wohl meinen Onkel aus dem Koma geweckt haben, denn Onkel Stewart war ein Mann der See, den ein solches Ereignis selbst von den Pforten des Todes zurückgeholt hätte. Benommen stützte er sich auf einen Ellbogen. »Beben«, flüsterte er. »Gideon ...«

Gideon nickte. »Richtig, Stewart. Genau nach Programm. Jetzt verschwinden wir aber lieber von hier.«

»Wartet!« schrie Lieutenant Tsuya und hielt sich am Tisch fest. »Wovon reden Sie überhaupt?«

»Dieses Gebäude«, erklärte Gideon grimmig, »wird nicht viel vertragen. Wenn Sie hoffen, Ihren Gefangenen lebendig hereinzubringen, Lieutenant, dann schaffen Sie ihn am besten hinaus in die Radiale Sieben und uns alle mit.«

Jetzt tanzte der Boden unter den Füßen wie irr. Noch war es kein schweres Beben, vielleicht Drei oder Vier, schätzte ich. In solchen Momenten hat man ja keine Zeit, etwas genau abzuschätzen. Und es war ja auch noch nicht vorüber. Dieses Beben konnte sich durchaus noch zu einem der Stärke Elf oder Zwölf entwickeln, und in diesem Fall - war alles vorüber.

Dann kam ein Gurgeln aus dem Lautsprecher der Alarmanlage:

»Achtung, Achtung, an alle Bürger der Stadt! Dies ist ein Bebenalarm! Ab jetzt sind alle Routine-Vorsichtsmaßnahmen in Kraft. Die Sicherheitsmauern werden aktiviert, die Rollwege werden angehalten, um Energie zu sparen! Alle öffentlichen Wege sind nur noch für den offiziellen Verkehr frei!«

Die Stimme hustete, dann wurde der Strom abgeschaltet. »Haben Sie das gehört?« fragte Gideon. »Lieutenant, wir müssen hier weg.«

Aber so leicht war das nicht.

Der Boden unter uns schwankte, und der Safe, der sich in die Zimmermitte geschoben hatte, rutschte wieder in seine Ecke zurück. Nicht nur in die Ecke, sondern noch ein Stückchen weiter. Es war ein schwerer Tresor, und da sich der Boden etwas geneigt hatte, krachte er donnernd an die Wand. Mörtel brach heraus, von innen kam ein Poltern, als schlügen Kegelkugeln aneinander - kein angenehmes Geräusch! Theoretisch waren diese Dinger sicher, bis sie von ihren eigenen Zündern aktiviert wurden, aber keiner von uns wollte die Richtigkeit der Theorie überprüfen. Wenn eine dieser Kugeln infolge eines irren Zufalls explodierte .

Nun ja, dann würde unsere Vorhersage gar keine Rolle mehr spielen. Ein Beben der Stärke Zwölf konnte dann die Kuppel treffen, und keinem würde es mehr etwas ausmachen, weil schon alle tot wären, denn die Explosion einer Kugel zündete sofort die nächste und so weiter; die Explosion wäre so ungeheuer, daß die ganze Kuppel vernichtet wäre.

Gideon befahl: »Das Ding festhalten! Pack hier an, Jim. Festhalten!«

Wir alle sprangen herzu, sogar mein Onkel versuchte es. Die Injektion, die Gideon ihm verpaßt hatte, zeigte nun Wirkung. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, seine Augen wurden wieder lebhafter. Neben mir stemmte er seine Schulter ein, und zu zweit hielten wir den Tresor auf der einen Seite fest, Danthorpe und der Lieutenant taten es auf der anderen Seite, während Gideon mit Telefonbüchern, der Matratze vom Feldbett und allem, was er sonst noch fand, die Räder blockierte.

»Und jetzt nichts wie weg!« rief Gideon.

Der Lieutenant besah sich noch einmal mißtrauisch die schwankenden Wände, dann gab er nach. Das Gebäude war aus Stahl, es konnte also kaum zusammenbrechen. Aber die Innenwände - das war schon eine andere Sache. Sie waren alt, und wenn da ein bißchen daran gerüttelt wurde, war das eine Katastrophe. Gideon hatte recht. Wir konnten nichts Besseres tun, als zur Radiale Sieben flüchten, wo wir solange sicher waren, als die Kuppel standhielt.

Der Lautsprecher hustete und machte ein paarmal »hick«, dann krackelte er, als wir gerade zur Tür hinauseilten.

»Achtung, Achtung! Alle Bürger, Achtung! Hier ist eine Mitteilung des Bürgermeisters. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Ich wiederhole: es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Unsere Sicherheitsvorrichtungen funktionieren ausgezeichnet. Der Bürgermeister erwartet keine Verletzungen oder ernstliche Schäden. Der Bebenalarm wird so schnell wie möglich wieder aufgehoben. Ich wiederhole: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung!«

»Aber ich gehe jede Wette ein, der hat Angst wie ein junger Hund, wenn es donnert.« Gideon winkte mir zu. Wir hatten schon allerhand Gefahren gemeinsam durchgestanden - künstliche Beben, verbotene nukleare Geräte und dergleichen Dinge zählten in diesem Moment nicht mehr. Wichtig waren jetzt nur mein Onkel und Gideon Park. Sie würden schon alles erklären, und wir brauchten nur ein bißchen zu warten und zu glauben.

Und da passierte etwas.

Wir kamen zum Straßenausgang und schauten hinaus auf die Radiale Sieben, durch die nun viele Menschen rannten, um Sicherheit zu finden oder nach Hause zu eilen und ihren Besitz zu schützen. Schäden schien es aber keine gegeben zu haben. Lieutenant Tsuya flüsterte mir zu: »Wenn es nur kein weiteres Beben mehr gibt ...«

»Es wird noch weitere sieben geben«, sagte da mein Onkel Stewart laut und deutlich.

»Sieben!« Der Lieutenant wirbelte herum, sein Gesicht war verzerrt. »Dann geben Sie also zu, daß .«

Den Satz konnte er nicht vervollständigen.

Das alte Gebäude zitterte unter den Restspannungen des Bebens. Nicht nur die Innenwände waren brüchig. Ein altes, reich verziertes Gesims über der Tür knackte ein wenig, es gab ein Geräusch wie einen tiefen Seufzer, das Ding hing noch ein bißchen in der Luft - und krachte herunter.

»Spring, Jim!« schrie mir Gideon zu, und ich sprang. Nicht mehr ganz rechtzeitig, denn ich knallte in Harley Danthorpe, dieser in den Lieutenant. Es war ein altes, häßliches Ding, zum Glück für uns nur aus Gips, nicht aus Granit, aus dem zu sein es vorgab. Trotzdem traf es mich noch an der Schulter, so daß ich zusammen mit Harley und dem Lieutenant so etwas wie einen Salto tat. Ich hörte noch ein paar Schreie und ein Getümmel, dann war ich weg.

Als ich wieder da war, hörte ich Lieutenant Tsuya wie einen übergroßen Raben kreischen, weil seine Beine eingeklemmt waren. »Mörder! Verräter! Sie sind davongelaufen! Stewart Eden, dich krieg’ ich noch, und wenn es meine letzte Tat auf Erden ist!«

Gideon und mein Onkel waren in der allgemeinen Verwirrung glatt entkommen.

Als wir endlich den Lieutenant frei hatten und uns mit der Stadtpolizei in Verbindung setzen wollten, waren zu viele kostbare Minuten vergangen. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, da der Bebenalarm noch andauerte. Verrückte Ge-schichten interessierten keinen, besonders dann nicht, wenn ein Flottenoffizier von Konterbande, Atomzündern und künstlichen Beben redete.

Lieutenant Tsuya wandte sich schließlich voll Bitterkeit an mich. »Na, schön, Kadett Eden«, bellte er. »Was haben Sie jetzt noch zur Verteidigung Ihres Onkels zu sagen? Er hat die Flucht ergriffen, und das beweist seine Schuld.«

Was sollte ich darauf antworten?

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