17. Die Bebenärzte

Für einen kleinen, mageren Mann bewegte sich Lieutenant Tsuya ungeheuer schnell. Im Nu hatte er aus seinem Privatbüro einen Revolver geholt und war wieder da, als wir uns noch nicht von unserem Schrecken erholt hatten.

»Zurück!« schrie er. »Aus dem Weg!«

Der MOLE kroch ratternd und sirrend noch ein paar Meter in den Raum, demolierte die Wandkarten und den Arbeitstisch und zerbiß ein ganzes Regal mit leeren Karten und Diagrammblättern zu Konfetti. Endlich verlangsamte sich das Wirbeln der ortholytischen Drillelemente, dann standen sie still.

Die Luke oben an dem Seewagen bewegte sich. Eine Hand schob den Deckel ein Stück in die Höhe. Er schlug an ein Felsstück. Die Hand schob ein wenig fester an, zögerte und schlug mit dem Deckel ein paarmal gegen den schon mürben Stein. Ein paar Brocken fielen herab. Die Luke öffnete sich.

Und heraus kam Bob Eskow, der aussah wie das Ende eines Rachetags.

»Halt!« schrie Lieutenant Tsuya, den Revolver in der Hand. »Keine Bewegung, Eskow!«

Bob schaute so benommen drein, als begreife er nicht, was Tsuya mit dem Revolver in der Hand wolle. Er ließ sich die Einstiegleiter herabgleiten, torkelte, brach fast zusammen und hielt sich mühsam am Edenit-Rumpf fest. Und das war ein Fehler, denn die Schicht war ungeheuer heiß von der Reibung der Bohrelemente im nackten Fels. Bob tat einen Schrei und zog die Hand weg. Aber der Schmerz brachte ihn wieder zu sich.

»Tut mir leid«, flüsterte er und hielt die verbrannte Hand mit der anderen fest. »Sir, ich fürchte, wir haben hier in Ihrer Station ein schauerliches Durcheinander angerichtet.«

»Und nicht nur hier, Eskow«, knurrte der Lieutenant böse.

»Ich ... ich .« Bob schien keine Worte zu finden. Erst nach einer Pause gelang es ihm, zu fragen: »Sir, können die anderen aus dem MOLE herauskommen?«

»Die anderen? Na, schön«, antwortete er schließlich.

Mühselig kletterte Bob wieder die Leiter hoch und sprach in die Luke hinein. Dann erschien zuerst mein Onkel Stewart Eden. Er sah erschöpft aus, er war in Schweiß gebadet und furchtbar dreckig, doch an sich wirkte er gesünder als am Tag vorher. »Jim!« rief er strahlend, und dann erst sah er Lieutenant Tsuya mit dem Revolver. Er runzelte fragend die Brauen, sagte aber nichts.

Nach meinem Onkel kam Gideon Park heraus. Er stand in der offenen Luke und lachte breit auf uns herab, dann griff er nach unten und half dem letzten Crewangehörigen des MOLEs heraus. Es war der alte Chinese, den ich mit Bob gesehen hatte.

Lieutenant Tsuya schien es den Atem verschlagen zu haben.

»Dr. Koyetsu!« stöhnte er. Der Lauf seines Revolvers schwankte, dann klapperte die Waffe auf den Boden. »Doktor, was tun Sie hier?«

Der alte Chinese war kein Chinese, sondern der japanische Seismologe, der die meisten der Bücher auf den Regalen der Station geschrieben hatte, John Koyetsu!

Als Lieutenant Tsuya seinen eigenen persönlichen Helden sah, noch dazu in Gesellschaft meines Onkels und der beiden anderen, schwand seine Überzeugung, mein Onkel sei ein Verbrecher. Es war eine plötzliche Umkehr von der Nacht zum Tag. Wortlos drehte er sich um, hob seinen Revolver auf und steckte ihn weg.

Dann sagte er nur: »Doktor Koyetsu, wollen Sie mir bitte sagen, was dies alles soll?«

»Aber natürlich«, erwiderte ihm der Gelehrte müde. Der magere, alte Herr schaute sich um, denn er wollte sich setzen, da er unsagbar erschöpft war. Eiligst zog Harley Danthorpe einen Faltstuhl für ihn heran. »Danke«, sagte der Doktor lächelnd und setzte sich. »Sie wissen doch, was in Nansei Shoto Dome geschehen ist«, sagte er abrupt. Tsuya nickte. Wir nickten alle, denn die Zerstörung von Nansei Shoto war die größte Tiefsee-Tragödie der Geschichte. Damals hatte dieser Doktor John Koyetsu eine falsche Vorhersage herausgegeben und damit die Evakuierung der Kuppel verhindert.

»In Nansei Shoto hatte ich nicht recht«, fuhr er fort. »Und den Rest meines Lebens habe ich dazu bestimmt, den Grund dafür zu finden und etwas dagegen zu tun. In erster Linie arbeitete ich mit Vater Tide für die Fordham Stiftung, wo wir die Geosonde und später diesen MOLE entwarfen.« Er tätschelte die sich abkühlende Flanke. »Sie wissen, mit Hilfe der Sonden waren wir in der Lage, Beben viel genauer vorherzusagen als je zuvor.«

»Da bin ich nicht allzu sicher«, warf ich voll Bitterkeit ein, doch dann entschuldigte ich mich eiligst wegen dieser Unterbrechung. Aber Doktor Koyetsu lächelte.

»Jim, Ihre Vorhersagen waren aus guten Gründen falsch«, sagte er. »Wir machten sie falsch.

Reine Vorhersagen genügen nicht. Ich war entschlossen, eine Möglichkeit zu finden, Beben zu verhindern. Und die einzige Möglichkeit, sie zu verhindern, war die Schaffung künstlicher Beben. Kleiner Beben. Zeitlich und örtlich so gesetzt, daß Spannungen im Gestein, die sonst zu größten Zerstörungen hätten führen müssen, in kleinen, harmlosen Beben abreagiert werden konnten. In solchen etwa, die wir hier in Krakatau gesehen haben. Denn die haben wir vier geschaffen.«

Das erschütterte uns viel mehr als jedes der letzten Beben. Lieutenant Tsuya sah unglaublich verblüfft drein, Harley Danthorpe schaute unbeschreiblich entgeistert drein und war wie versteinert. Lieutenant McKerrow konnte mit dem Kopf schütteln nicht mehr aufhören.

Aber ich - ich freute mich über alle Maßen.

»Ich hab’s ja gesagt!« schrie ich. »Immer hab’ ich gesagt, daß mein Onkel nichts Unehrenhaftes oder Schlechtes tun könnte. Sie hätten mir glauben sollen!«

»Moment mal, Eden«, fuhr mich Lieutenant Tsuya an. »Ich kann Ihnen garantieren, daß ich auf Doktor Koyetsus Wort sehr viel gebe, aber da gibt es noch eine ganze Menge Fragen zu beantworten, ehe ich zufriedengestellt bin. Ihr Onkel hat zum Beispiel schon zugegeben, daß er aus dem ersten Beben eine Million Dollar Profit gemacht hat. Von den Nuklearzündern in seinem Besitz ganz zu schweigen!«

»Aber das erklärt doch alles!« rief ich aufgeregt. »Wenn Sie nur zuhören würden! Ich meine, er hat sehr viel mehr Geld ausgegeben als eine Million Dollar, und das Geld sollte ja nur das große Projekt finanzieren, an dem er arbeitete.«

»Und wie sieht dieses Projekt aus?« bellte Tsuya.

»Die Reitung von Krakatau Dome!«

Mein Onkel lachte. »Guter Junge, Jim«, sagte er mit seiner warmen Stimme. »Und wie, glaubst du, sollte ich das anstellen?«

»Nun ja . « Ich versuchte mich genau an das zu erinnern, was der kleine Gelehrte gesagt hatte, und es einzupassen in die Theorien der seismischen Prozesse, mit denen man mich hier in dieser Station vertraut gemacht hatte. »Nun, ich denke, es wäre ungefähr so gelaufen: Die Stadt steht auf einer gefährlichen Gesteinsspalte. Entlang dieser Falte haben wir den ständigen Aufbau seismischer Spannungen beobachtet. Die einzige Frage war also die, wann die Sache sich abspielen würde.

Könnte man vorzeitig ein Beben auslösen, so konnten sich die Spannungen erst gar nicht voll aufbauen. Wenn die Spannungen immer wieder ein wenig abgebaut werden könnten, dann entstünde kein Beben, das zur Vernichtung einer ganzen Kuppel ausreichte oder sonst großen Schaden anrichtete. Diese Kleinbebenwirkung würde das große Beben verhindern.

Es wäre eine Sache der Auslöserkräfte«, fuhr ich schnell fort, und Gideon blinzelte mir zu. Da wußte ich, daß ich auf dem richtigen Weg war. »Um so kleine, künstliche Beben zu erzeugen, würde man natürlich nukleare Energie einsetzen. Man müßte tatsächlich die H-Bombenzünder verwenden, die wir in deinem Safe fanden, Onkel Stewart!«

Doktor Koyetsu nickte lächelnd und dozierte: »Genau richtig, Kadett Eden. Aufgestaute Spannungen in der Erdkruste werden abgebaut mit einer Reihe kontrollierter kleiner Beben, die durch nukleare Sprengungen erzeugt werden.«

»Jim, du bist eindeutig Klassenbester!« rief mein Onkel strahlend.

Für Lieutenant Tsuya genügte das aber noch nicht.

Überzeugt war er, daran ließ sich nicht zweifeln, denn für ihn war Dr. Koyetsu sowieso ein Halbgott, und von meinem Onkel hatte er ja auch immer sehr viel gehalten. Aber er war Offizier der Tiefsee-Flotte und hatte seine Pflichten, deren Erfüllung er notfalls erzwingen mußte.

»Bleiben noch drei Fragen«, bellte er. »Woher haben Sie einen MOLE bekommen? Woher die Nuklearzünder? Und warum war es nötig, das alles heimlich zu machen?«

Mein Onkel lächelte. »Die letzte Frage müßten Sie aber wirklich selbst beantworten können.« Er setzte sich, seine Wangen bekamen Farbe, seine Augen waren wieder voll Feuer. »Es war doch absolut nötig, diese Sache in aller Heimlichkeit durchzuführen. Was sollten wir sonst tun? In der Stadt herumlaufen und sagen: Bitte, Leute, wir haben eine Idee, wie wir Bebenschäden an der Kuppel vermeiden können. Natürlich müssen wir damit anfangen, ein paar künstliche Beben zu veranstalten ... Hätten wir etwa so vorgehen sollen? Hätten Sie das getan, wenn Sie die Schwierigkeiten kennen, die ein von Barnacle Ben Danthorpe beherrschter Stadtrat einem bereiten kann?«

Harley Danthorpe wurde tiefrot, doch er sagte nichts. Lieutenant Tsuya legte die Stirn in nachdenkliche Falten, dann nickte er. »Na, schön. Und die anderen Fragen?«

»Wir taten nur das, was wir tun mußten, um Menschenleben zu retten!« erklärte mein Onkel voll Nachdruck. »Es begann vor ein paar Jahren, als Doktor Koyetsu zu mir nach Marinia kam. Er hatte die Krakatau-Falte genau beobachtet. Er wußte, daß hier große Gefahr bestand, daß es hier früher oder später zu einem großen Beben kommen mußte, das für Krakatau Dome das Ende bedeuten würde.

Aus Gründen, die uns allen bekannt sind, war er entschlossen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den Verlust von Leben durch die Vernichtung einer Unterwasserstadt zu verhindern. Können Sie ihn dafür tadeln?«

»Warum ist er damit aber zu Ihnen gekommen?« wollte Tsuya wissen. »Warum nicht zu irgendwelchen Leuten in der Kuppel?«

»Das tat er doch«, erwiderte mein Onkel leise. »Erst suchte er Mr. Danthorpe auf. Ich denke, Sie können sich vorstellen, was dieser zu ihm sagte. Wir wollen die wirtschaftliche Blüte der Stadt nicht mit einem hirnverbrannten Unsinn vernichten, sagte er und wie Koyetsu überhaupt wisse, daß man so etwas machen könne und so weiter.

Natürlich vergaß er nicht, Dr. Koyetsu an das zu erinnern, was in Nansei Shoto geschehen war. Also war der Doktor abgelehnt. Danthorpe weigerte sich, die Erlaubnis zur Erprobung seines Planes zu geben und drohte ihm mit Verhaftung, wenn er sich je wieder in Krakatau Dome zeigen sollte.«

»Unter einer Bedingung ließ er mich bleiben, Stewart«, warf Dr. Koyetsu ein.

»Oh, natürlich, John. Er bot Dr. Koyetsu einen Job an - die Vorhersage von Beben, damit er selbst einen heißen Draht zur Beeinflussung der Börse hätte. Das faßte Dr. Koyetsu damals als Beleidigung auf. Aber mir macht es nichts aus, nun zuzugeben, daß diese Idee später für uns nützlich wurde.

Da kam John Koyetsu zu mir. Er berichtete mir von seinen Sorgen um Krakatau Dome und seinen Hoffnungen, das große Beben abwenden zu können. Und nicht nur hier, sondern überall, wo man seine Technik anwandte.

Erst war ich auch skeptisch. Man darf mir das nicht verdenken. Auch Vater Tide zweifelte anfangs. Aber Doktor Koyetsu überzeugte mich, und ich ging das Risiko ein. Schließlich habe ich mein ganzes Leben lang ein Risiko nach dem anderen auf mich genommen, um die Reichtümer der Tiefsee der ganzen Menschheit zugänglich zu machen.

Die Frage war nur die: wie konnte ich helfen?

Meine Gesundheit war und ist nicht mehr besonders gut, wenn ich auch glaube, das Schlimmste ist nun vorüber. Viel Geld hatte ich nicht, und wir brauchten sehr viel davon. Der MOLE kostete nahezu zehn Millionen Dollar. Und ich hatte ja auch die Nuklearzünder nicht, die wir dazu brauchten. Aber ich bekam sie.

Auch das Geld; durch Spekulationen an der Börse, die sich auf Johns Vorhersagen stützten. Und die Zünder? Nun, da fiel mir das Wrack der Hamilcar Barca ein.«

»Hamilcar Barca?« wiederholte Tsuya. »Ah, ja! Das ist aber schon sehr lange her. Ich war damals noch ein Kind. Sank dieses Schiff damals nicht, ehe Sie die Edenit-Beschichtung erfanden? Und hatte es nicht eine Ladung von .«

»Natürlich. Es hatte eine Ladung von Nuklearzündern an Bord. Lieutenant, Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, stellte mein Onkel lächelnd fest. »Das Schiff sank vor einunddreißig Jahren am Mount Calcutta. Und nach achtundzwanzig Jahren gehört die Ladung eines jeden versunkenen Schiffes dem, der sie birgt. Das ist Gesetz.

Ich beschloß also, derjenige müßte ich sein. Mehr noch, um den Mount Calcutta herum gab es eine Menge Arbeit. John hatte dort ein starkes Beben vorhergesagt und wollte seine Theorien erproben. Nun, ich bekam die Ladung, und Johns Theorien erwiesen sich als wundervoll richtig, aber wir kamen dann in Schwierigkeiten.« Er lachte verschmitzt. »Mein alter Seewagen ist zwar ein Totalschaden, aber wir entkamen.

Dann rettete uns Dr. Koyetsu im MOLE, mit der Ladung. Anschließend kamen wir hierher nach Krakatau Dome. Die Reaktoren versteckten wir im Ablaufbecken, auch den MOLE selbst, bis es an der Zeit war, Johns Theorien in die Praxis umzusetzen.

Das ist jetzt vier Tage her. Den Rest kennt man ja.«

»Stewart, die Zeit!« rief Doktor Koyetsu.

Mein Onkel zögerte und schaute auf die Uhr der Station. Dann nickte er ernst. »Meine Herren, halten Sie sich fest«, riet er.

Schweigen. Sekunden vergingen. Eine Minute. »Worauf warten wir noch?« fragte Lieutenant Tsuya. »Wir ... Es ist ...«

»Moment noch«, befahl mein Onkel. Und dann spürten wir es, wie auf ein Stichwort.

Unter uns schüttelte sich der Fels. In der Luft sang ein heulender Chor seismischer Massen. Jeder hielt sich irgendwo fest.

»Das dritte Beben!« rief mein Onkel in den Lärm hinein. »Und es wird noch weitere fünf geben!«

Der Fels unter uns stöhnte, dehnte und schüttelte sich. Der Boden der Station hob und senkte sich.

Die ortholytischen Elemente an der Nase des MOLEs zitterten und drehten sich langsam infolge der Erdbewegungen, und das sah aus, als protestiere der MOLE gegen die Wirkungen des von ihm erzeugten Bebens. Aus der Decke des Raumes fielen Gesteinsbrocken.

Und aus sich verbreiternden Spalten schoß kaltes Salzwasser.

Загрузка...