2. Der Mann namens Gezeitenvater

Die Gezeiten warten nicht!

Das stand in groben Silberbuchstaben über dem Korallenportal der Akademie und war ihr Motto.

Aber ich wartete. Ich war zehn Minuten früher gekommen, doch für den Kommandanten war 13 Uhr immer und jederzeit 13 Uhr, keine Sekunde früher oder später. Ich saß stramm in seinem Vorzimmer und überlegte, ob die Ordonnanz mit seiner Vermutung recht gehabt haben könne.

Mein Onkel Stewart war mein einziger naher Verwandter. Sein Heim lag zehntausend Meilen entfernt und drei Meilen tief im Tiefsee-Staat Marinia. Ich wußte, daß er in letzter Zeit nicht mehr recht gesund gewesen war, und vielleicht hatte sich sein Zustand verschlechtert. Aber daran wollte ich ja gar nicht denken. Möglicher Tod, das heißt, daß keine Krankheit vorausgegangen war .

Genau um 13 Uhr kam der Kommandant aus der Offiziersmesse. Er war ein düsterer Riese von einem Mann, so kraftvoll wie die See selbst. Begleitet wurde er von einem kleinen, zierlichen Mann in klerikalem Schwarz. Er mußte sich mit seinen viel kürzeren Beinen ordentlich ‘ranhalten, und gleichzeitig redete er drängend auf den Riesen ein.

»Ach-TUNG!« bellte der Posten und präsentierte seine Waffe. Ich sprang auf.

Der Kommandant blieb auf seinem Weg in sein Büro stehen, der kleine Mann ebenfalls. »Kadett Eden«, sagte der Kommandant ernst, »Sie haben einen Besucher. Das hier ist Vater Jonah Tidesley von der Gesellschaft Jesu. Er ist einen weiten Weg gekommen, um Sie zu sehen.«

Ich erinnere mich daran, des kleinen Mannes Hand geschüttelt zu haben, doch recht viel mehr weiß ich nicht, nur daß ich dann mit den beiden Männern im Kommandantenbüro saß. Der Kommandant, der großen Respekt vor dem Priester zu haben schien, musterte mich so scharf, daß ich mich fast unbehaglich fühlte. Sie sagten, der Kommandant könne die Gedanken der Kadetten lesen, und das konnte wahr sein.

Dann konzentrierte ich mich auf das, was Vater Tidesley sagte: »Ich kannte Ihren Onkel, Jim«, sprach er mit klarer, warmer Stimme. »Vielleicht hat er schon einmal von mir erzählt. Gewöhnlich nannte er mich Gezeitenvater. Das tun alle.«

»Ich kann mich nicht erinnern, Sir. Aber ich sehe ja meinen Onkel auch sehr selten.«

Er nickte. Er war ein liebenswerter kleiner Mann, doch seine blauen Augen waren ebenso scharf wie die des Kommandanten. Und er war nicht mehr jung. Sein Gesicht war rund und dicklich, doch die roten Wangen wiesen viele Falten auf. Ich wußte gar nichts von ihm. »Aber setzen Sie sich, Jim«, sagte er, und der Kommandant nickte aufmunternd. »Ich habe von Ihrem Abenteuer mit den Seeschlangen gehört, Jim. Ah, das war sicher keine Kleinigkeit! Ich selbst hätte den TongaGraben auch gerne einmal gesehen, doch bis jetzt war mir das nicht möglich. Vielleicht später einmal ...

Aber Sie haben viel mehr getan als dies. Ich weiß sehr viel über Sie, Junge, wenn wir einander auch noch nie begegnet sind.« Das war alles richtig. Möglich, daß Onkel Stewart mit ihm über mich gesprochen hatte, doch er mußte sich in der Tiefsee wirklich gut auskennen, diese Landra ...

Nein, bestimmt keine Landratte! Eine närrische Idee. Aber da kannte ich ja den Gezeitenvater noch nicht.

Er redete eine ganze Weile. Vermutlich wollte er mir eine gewisse Befangenheit nehmen, und das gelang ihm auch. Endlich öffnete er eine Aktentasche.

»Jim«, sagte er, »schauen Sie sich dies mal an.« Er nahm einen dicken Plastikumschlag heraus und schüttete den Inhalt auf den Tisch. »Erkennen Sie diese Gegenstände?«

Ich berührte sie. Es war nicht nötig. Da war der abgenützte Silberring mit einer milchigen Tonga-Perle; die Uhr, ein feines Chronometer in einem Gehäuse aus rostfreiem Stahl, Münzen und ein paar kleinere Scheine, amerikanische und mariniani-sche Dollars. Und ein aufgerissener Umschlag.

Die Adresse brauchte ich nicht anzuschauen. Ich wußte, er war für Mr. Stewart Eden, gerichtet an sein Büro in der Tiefsee-Stadt Thetis, Marinia. Ich hatte ihn selbst geschrieben. Der Ring gehörte meinem Onkel, und die Perle war ein Geschenk seines alten Freundes Jason Craken gewesen. Die Armbanduhr hatte Onkel Stewart vor vielen Jahren von meinem Vater erhalten.

»Das gehört meinem Onkel Stewart Eden«, sagte ich so ruhig wie möglich.

Vater Tide schaute mich lange nachdenklich und voll Mitgefühl an. Dann sammelte er alles wieder ein und legte es in den Plastikumschlag. »Das habe ich gefürchtet«, erwiderte er leise.

»Ist meinem Onkel Stewart etwas zugestoßen?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht, Jim. Ich hoffte, Sie könnten es mir sagen.«

»Ich Ihnen? Wie denn? Woher haben Sie diese Sachen?«

Vater Tide sah mich an. »Ich fand dies alles in einem Seewagen. Jim, ich möchte das jetzt auf meine Art erklären.« Er stand auf und lief hin und her. »Vielleicht wissen Sie«, sagte er mit seiner klaren, warmen Stimme, »daß unser Orden Pionierarbeit geleistet hat in Vulkanologie und Seismologie, also in den Wissenschaften, die sich mit Vulkanen und Erdbeben befassen. Ich selbst gelte als Spezialist in diesen Dingen.« Er trat ans Fenster und schaute auf die ruhige Bermuda See hinaus. »Vor zwei Wochen nun gab es im Indischen Ozean eine überraschende Eruption. Sie kam wirklich ganz unerwartet.«

»Wieso unerwartet, Sir? Dann stimmt es also nicht, daß diese Dinge vorhergesagt werden können?«

Er nickte. »Natürlich, Jim. Das ist heute eine Wissenschaft. Aber diese Eruption wurde eben nicht vorhergesagt. Nichts deutete auf eine Aktivität in dieser Gegend hin, nichts, überhaupt nichts.

Trotzdem ereignete sich die Eruption. Ich war in Krakatau Dome, als die Wellen dieses Ausbruches von den Seismographen dort aufgezeichnet wurden. Das Epizenter war weniger als zweitausend Meilen entfernt. Ich machte mich sofort auf, um an Ort und Stelle Beobachtungen anzustellen. In der folgenden Nacht erreichte ich das Epizenter.«

Bisher hatte er mir über Onkel Stewart nichts erzählt, doch mein Respekt vor ihm wuchs beträchtlich, und ich war sehr interessiert.

»Die See-Oberfläche war noch recht erregt«, fuhr er fort. »Darunter entdeckte ich einen neuen Lavafluß und Schlamm, der sich über Dutzende von Quadratmeilen ausgebreitet hatte. Die Lava war noch heiß, und es wurde noch eine beträchtliche Menge Dampf erzeugt. Mein eigener Wagen ist so konstruiert, daß er in Seebebengebieten eingesetzt werden kann. Ich weiß nicht, ob Sie das Gebiet kennen, Jim, doch es ist fast unbewohnt. Zum Glück, kann man da nur sagen, denn wäre dort eine Kuppel gewesen, so wäre sie vernichtet worden und riesige Menschenmassen mit ihr. Ich fürchte, daß dieses Beben auch so vielen Minenarbeitern das Leben kostete.«

»Sir«, sagte ich und deutete auf die Aktentasche, »haben Sie diese Dinge dort gefunden?«

Er nickte düster. »Ja. Bitte, Jim, hören Sie mir weiter zu. Ich kreuzte über dem Seeboden, etwa am Rande des noch heißen Lavafelds. Ich stellte wissenschaftliche Beobachtungen an und hielt nach Überlebenden Ausschau, die vielleicht meiner Hilfe bedurften. Die Explosionen hatten meine MikrosonarAusrüstung beschädigt, und natürlich war das ganze Wasser trüb vor Schlamm.

Trotzdem nahm ich einen Notruf auf.«

»War es das Signal meines Onkels?«

»Das weiß ich nicht, Jim«, antwortete er leise. »Das Signal stammte von einem automatischen Notsender. Ich konnte ihn bis zum Rand des Lavaflusses verfolgen. Dort fand ich einen havarierten Seewagen, der halb begraben war unter Schlamm und Felsblöcken. Ich gab Signal, bekam aber keine Antwort. Da ich kein Anzeichen von irgendwelchen Überlebenden fand, zog ich den Edenit-Anzug an und ging in das Wrack.«

»Das haben Sie getan?« rief ich verblüfft. »Sie müssen doch wissen, wie gefährlich das ist.« Ich bemerkte, daß mich der Kommandant anschaute, und schwieg, aber ich wußte nun eine Menge über Vater Tide. Selbstverständlich hatte er die Gefahr gekannt, doch sie hatte ihn nicht aufgehalten.

»Es war doch nötig«, erwiderte er. »Ich fand aber niemanden. Ich nehme an, der Seewagen war von emporgeschleuderten Steinen getroffen und beschädigt worden. Die Schleusen waren offen, die Tauchgeräte weg.«

Er war nicht nur ein großer, wagemutiger Wissenschaftler, sondern auch ein wahrer Seemann. Er hatte nämlich für Tauchgeräte den Fachausdruck Scuba benützt.

»Dann konnten also die Leute im Seewagen noch herauskommen?« fragte ich hoffnungsvoll.

Er nickte. »Ja. Aber ich bin absolut nicht sicher, daß sie auch dem Vulkan entkamen.« Er deutete auf die Aktentasche. »Das hier habe ich im Seewagen gefunden. Ich mußte dann wieder weg, und ich schaffte es gerade noch rechtzeitig. Fast wäre ich in einen neuen Strom Lavaschlamm geraten.«

Ich schluckte heftig. »Und was, vermuten Sie, könnte mit meinem Onkel Stewart geschehen sein?«

Vater Tides Augen war kalt und scharf. Das erstaunte mich, denn ich hätte mitfühlende Wärme erwartet. »Ich hoffte, Sie könnten mir das sagen. Oder wenigstens ... Nun ja, ich hoffte, Sie würden mir erklären, diese Dinge gehörten ihm nicht.«

»Doch, sie gehören ihm. Ich kann nur nicht daran glauben, daß er ... umkam.«

»Dafür bete ich«, versicherte mir Vater Tide. »Vielleicht läge ihm daran nicht sehr viel.« Er seufzte. »Aber unglücklicherweise wäre das nicht die schlimmste Möglichkeit.«

»Sir, worüber sprechen Sie?« fragte ich erstaunt.

»Der Tod ist mir vertraut«, erklärte er. »Darauf sind wir alle wohl ziemlich gut vorbereitet. Aber dieser Tiefsee-Vulkan stellt mich einem anderen Problem gegenüber ... Jim, warum war Ihr Onkel im Indischen Ozean?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Mir ist nur bekannt, daß er in Thetis Dome lebte.«

»Vor wie langer Zeit?«

»Noch vor zwei Monaten.«

»Und was tat er dort?«

»Er war krank, Vater Tide. Ich zweifle daran, daß er überhaupt viel tun konnte. Er ist nicht gesund und ...«

»Ah, ich verstehe. Das heißt, er war verzweifelt. Vielleicht so sehr, daß er ... alles tat.«

»Was wollen Sie damit ausdrücken, Sir?«

Der kleine Priester sah mich düster an. »Dieses Beben war nicht vorhergesagt. Es gibt Beweise dafür, daß es ... künstlich erzeugt wurde.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nur ein erfahrener Seismologe kann die Beweise richtig deuten. Ich gebe zu, daß kein Punkt der Erdoberfläche als garantiert erdbebensicher bezeichnet werden kann. Aber die Beobachtung könnte Hinweise auf bevorstehende Beben liefern. Und diese Eruption ist nur eine in einer Reihe verschiedener relativ kleinerer Beben, die alle in unbewohnten Gegenden stattfanden, aber einem gewissen Muster zu folgen scheinen.

Es waren sechs, und sie wurden zunehmend heftiger. Der Brennpunkt des ersten Bebens war relativ flach. Die späteren wurden immer intensiver.«

»Sie meinen also ...« Ich brach ab, denn die Idee war zu absurd.

Vater Tide nickte. »Ich vermute«, antwortete er mit seiner klaren, warmen Stimme, »daß jemand eine recht unheilige Technik vervollkommnet, die zu künstlichen Erdbeben führt.«

Ich schluckte. »Und mein Onkel .«

Er nickte. »Ja, Jim. Ich fürchte, daß Ihr Onkel, sollte er nicht am Leben sein, mitten drin steckt. Irgendwie.«

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