6. Der Erdbohrer

Die Zeit verging, und wir lernten.

Eines Tages kam Lieutenant Tsuya zu uns, als wir an unseren Konvektionsdiagrammen arbeiteten.

»Sie lernen allmählich, zu verstehen«, stellte er fest. Er lächelte, sah unsere Karten Linie für Linie durch und nickte. »Sehr schön. Nun habe ich etwas Neues für Sie.«

Er nahm eine versiegelte Röhre aus gelbem Plastik aus seiner Aktentasche. »Beobachtungen sind der Schlüssel für Vorhersagen«, begann er. »Und Sie haben gesehen, es sind die Tiefenfokus-Beben Hunderte von Meilen unter der Oberfläche, die bestimmen, was mit unseren Kuppelstädten geschieht. Und dort sind Beobachtungen sehr schwierig. Aber jetzt .«

Er öffnete die Röhre. Innen war eine kleine Maschine, keinen halben Meter lang und nicht einmal fünf Zentimeter im Durchmesser. Das Maschinchen sah dem Modell-MOLE sehr ähnlich, das wir im Akademiemuseum gesehen hatten, nur war dies hier noch dünner und kleiner.

»Das ist die Geosonde«, erklärte er stolz. »Ein Telemeter, dazu bestimmt, in die Tiefen der Erde hinabzutauchen, etwa so, wie eine Radiosonde in die Atmosphäre und darüber hinaus reicht.

In der Nase ist ein atomisch-ortholytischer Bohrer. Der Körper ist ein Rohr, das mit Hochspannungs-Edenit ausgekleidet ist. Und innen sind dann die Sensoren und ein sonischer Transmitter.

Der Edenit-Film stellte uns vor ein schwieriges Problem. Sie wissen ja, daß unsere Instrumente nicht durch Edenit lesen können. Aber wir haben das Problem gelöst, denn einmal in der Minute schalten wir den Film für einen Sekundenbruchteil aus. Nicht sehr lange, aber jedenfalls lange genug für die Sensoren, daß sie registrieren können, ohne daß das Gerät durch den Druck vernichtet wird.

Mit dieser Geosonde können wir nun endlich die tiefsten Bebenzentren erreichen. Wir können damit, wie wir inständig hoffen, sicherstellen, daß sich keine solche Katastrophe mehr wie im Nansei Shoto Dome ereignet.

Oh, und noch etwas«, fügte er lachend hinzu, »unsere ersten zwei Ausbildungswochen sind vorüber. Morgen können Sie alle einen Paß bekommen.«

Da wurde Harley Danthorpe wieder lebendig. »Großartig, Lieutenant!« rief er. »Darauf habe ich dringend gewartet. Mein Vater wird jetzt ...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Lieutenant Tsuya trocken. »Von Ihrem Vater haben wir alle schon gehört. Ich bereite die Pässe für morgen 12 Uhr vor. Am Morgen möchte ich, daß jeder von euch noch eine Vorhersage fertigstellt, die sich auf die laufenden Ablesungen stützt, also eine echte Vorhersage. Ist dies geschehen, könnt ihr gehen.«

Wir kehrten zur Basis zurück, hoch über dem Tiefenobservatorium, und eilten zur Messehalle. Bob verschwand für einen Moment, und als er zu uns zurückkam, schien er etwas besorgt zu sein. Aber da dachte ich kaum darüber nach.

Harley Danthorpe prahlte die ganze Mahlzeit hindurch mit seinem Vater. Der Gedanke, in die ihm zustehende Umgebung zurückzukehren, als Kronprinz des Königreichs der See, über das sein Vater herrschte - so sah er es -, schien ihn zu erregen.

Bob war dagegen sehr schweigsam.

Nach dem Essen gingen Harley und ich zurück zu unseren Unterkünften, um ein paar Ablesungen für die Vorhersage morgen zu üben. Harley wollte seinen Vater anrufen. Bob sah ich eine ganze Weile nicht.

Dann bemerkte ich, daß das Mikroseismometer, das ich benützte, nicht ganz stimmte. Das sind Präzisionsinstrumente, und selbst wenn man daran für den Ernstfall übt, müssen sie in Ordnung sein.

Ich verließ also das Quartier - und fiel fast über Bob. Er sprach leise, aber ziemlich hitzig mit einem Mann, den ich noch nie vorher gesehen hatte, einem kleinen, runzeligen Mann mit gelblicher Haut, der ein Chinese oder Malaie sein konnte. Gekleidet war er wie ein ziviler Hausmeister.

Bob hatte die Hand ausgestreckt, als reiche er dem Mann etwas. Dann schaute er auf und sah mich.

Schlagartig veränderte er sich. »Du, was hast du mit meinem Buch gemacht?« rief er.

Der kleine Hausmeister warf mir einen Blick zu, dann wich er zurück. »Nein, Mister!« quiekte er. »Nicht Buch genommen, Mister.«

»Was ist denn los?« fragte ich.

»Der Kerl da hat meinen Koyetsu genommen! Frag mich nicht, warum, aber ich will ihn zurück!«

»Koyetsu?« Er meinte Koyetsus Buch über die Grundlagen der Seismologie, das war eines unserer Lehrbücher. »Aber Bob, hast du das nicht Harley geliehen? Ich glaube bestimmt, daß ich ihn damit gesehen habe.«

»Harley?« Bob zögerte. Dann brummte er: »Na, gut. Verschwinde!«

Der kleine Hausmeister hob die Hände über den Kopf, als habe er Angst, Bob werde ihn schlagen. Dann rannte er davon.

Ich kehrte in die Unterkunft zurück - und da lag es. Bobs Buch auf dem Regal über Harleys Lager, deutlich zu sehen.

Ich zeigte es ihm. »Oh ... Ja ... Ich erinnere mich jetzt.« Aber Bob schaute mich dabei nicht an.

»Ich werde jetzt eine kleine Pause einlegen«, sagte er, und seine Stimme klang noch immer unsicher. Ohne mich anzuschauen, warf er sich auf sein Bett. Ich fand das recht rätselhaft.

Unterwegs zum Ersatzteillager, wo es die Mikroseismometer gab, die ich brauchte, dachte ich darüber nach. Ich fand eines, und da fiel mir ein, daß ich auch die Geosonde nachprüfen sollte, da Lieutenant Tsuya uns aufgegeben hatte, ein schematisches Diagramm davon zu zeichnen. Damit hätte ich zwei Dinge auf einmal erledigt.

Die Geosonde war in einer feuchtigkeitsdichten Kiste gelagert. Ich fand sie und begann sie zu öffnen. Dann hatte ich keine Zeit mehr, über Bobs sonderbares Benehmen nachzudenken.

Ich hatte die Kiste offen. Sie war voll, aber was da drinnen war, sah mir absolut nicht nach Geosonde aus. Sie enthielt Bleigewichte eines Schwerkraft-Anzeige-Instruments mit dazwischengestopftem Papier, damit nichts klapperte.

Die Geosonde war verschwunden.

Lieutenant Tsuya ging an die Decke. »Scheußliche Sache, Eden«, wütete er, als ich am nächsten Morgen den Verlust des wertvollen Instrumentes berichtete. »Warum sind Sie nicht sofort zu mir gekommen?«

»Nun ja, Sir ...« Ich zögerte, denn ich hatte mir um Bob Eskow zu große Sorgen gemacht, doch den Grund wollte ich nicht nennen, weil ich Bobs merkwürdiges Verhalten nicht mit dem Lieutenant besprechen wollte.

»Keine Entschuldigung, was?« fragte Tsuya gereizt. »Natürlich nicht. Nun, Sie bleiben alle drei hier und arbeiten an den Vorhersagen. Ich werde eine Ermittlung in die Wege leiten. Es geht natürlich nicht an, daß Eigentum der Flotte gestohlen wird.«

Besonders dann nicht, fügte ich für mich hinzu, wenn es sich um ein so geheimes Projekt wie die Vorhersage von Beben handelte. Er ging also, um das Personal der Station zu befragen.

Als er zurückkam, war sein Gesicht der reinste Gewitterhimmel. »Ich will wissen, was mit diesem Instrument geschehen ist«, sagte er. »Vor zwei Wochen war es da, weil ich es selbst in die Kiste legte.« Er schaute einen nach dem anderen an. »Wenn jemand von Ihnen weiß, wer es weggenommen hat, dann soll er reden! Haben Sie jemanden gesehen, der etwas aus der Station wegtrug?«

Ich schüttelte den Kopf, doch da fiel mir Bob ein und der kleine Hausmeister. Hatte Bob ihm etwas gegeben? Ausgesehen hatte es so. Aber sicher wußte ich es nicht. Also schwieg ich.

»Na, schön«, brummte Lieutenant Tsuya. »Ich muß es also dem Kommandanten berichten. Und nun möchte ich diese Vorhersagen sehen.«

Schweigend zeigten wir ihm unsere Karten und synoptischen Diagramme und die ausführlichen Vorhersagen, die wir nach unseren eigenen Instrumentenablesungen gemacht hatten.

Lieutenant Tsuya sah sie sehr genau an und runzelte die Brauen. Er hatte natürlich seine eigene Vorhersage im normalen Stationsprogramm erstellt, und die verglich er nun mit den unseren. Die seine war die amtliche Vorhersage dessen, was man in Krakatau Dome an Erdbewegungen, größeren und kleineren, in den nächsten vierundzwanzig Stunden zu erwarten hatte.

Es war deutlich zu erkennen, daß ihm etwas nicht gefiel.

Er schaute uns über seinen dunkelgerahmten Gläsern an.

»Genaue Vorhersagen«, erinnerte er uns, »hängen von genauen Beobachtungen ab.«

Harley Danthorpes Arbeit und die meine gab er zurück mit der Bemerkung »zufriedenstellend.«

Dann wandte er sich an Bob. »Eskow, Ihren Angaben kann ich nicht folgen. Sie haben für heute 21 Uhr ein Beben der Stärke zwei vorhergesagt. Ist das richtig?«

»Ja, Sir«, erwiderte Bob mit steinerner Miene.

»Hm. Ich verstehe. In der offiziellen Vorhersage der Station gibt es keine solche Angabe, Eskow. Enthalten ist sie auch nicht in der Arbeit von Eden oder Danthorpe. Wie erklären Sie sich das?«

»So habe ich die Instrumente abgelesen, Sir«, antwortete Eskow. »Fokus zwanzig Meilen Nord-Nordwest von Krakatau Dome. Der thermale Fluß .«

»Verstehe«, schnappte Lieutenant Tsuya. »Ihr Wert für den thermalen Fluß liegt nahezu fünfzig Prozent niedriger als jener der beiden anderen Berechnungen. Die Spannungen werden also nicht abgebaut. So ist es doch, oder?«

»Jawohl, Sir.«

»Aber ich bin mit Ihren Ablesungen nicht einverstanden«, fuhr der Lieutenant nachdenklich fort. »Ich fürchte, deshalb kann ich Ihnen keine gute Note für diese Vorhersage geben. Tut mir leid, Eskow. Ich muß Ihren Paß streichen.«

»Aber Sir ...«, begann Bob. »Ich meine, Sir, ich habe fest mit einem Paß gerechnet.«

»Geht nicht, Eskow«, erwiderte der Lieutenant kalt. »Ein Paß ist eine Belohnung für die zufriedenstellende Erfüllung von Pflichten. Diese Vorhersage ist nicht zufriedenstellend. Wegtreten!«

Im Quartier duschten Danthorpe und ich und schlüpften in unsere scharlachrote Uniform, damit wir bei Yeoman Harris unseren Paß abholen konnten.

Bob war verschwunden, während wir duschten. Mir war das angenehm, denn ich ließ ihn äußerst ungern allein zurück. Hartley Danthorpe ließ sich natürlich von nichts stören. Er blubberte vor Plänen und Hoffnungen. »Komm, Eden«, drängte er. »Komm doch mit. Zum Dinner bei meinem Vater. Er wird dir zeigen, was man in der Tiefsee alles kochen kann! Er hat einen Küchenchef - prima! Komm doch, Eden!«

Yeoman Harris sah ihn säuerlich an, doch ehe er etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. »Jawohl, Sir«, keuchte er mit seiner Asthmastimme. »Sofort, Sir.« Er legte auf. »Ihr zwei, wißt ihr, wo Kadett Eskow ist?« fragte er.

»Ich nehme an, in der Unterkunft«, sagte Harley. »Harris, geben Sie uns doch endlich unsere Pässe.«

»Moment noch. Das war Lieutenant Tsuya. Er will, daß Eskow sich um 20 Uhr bei Station K für eine Spezialaufgabe meldet. Und er ist nicht in der Unterkunft.«

Harley und ich schauten einander an. Wo konnte er nur sein? Doch nirgends sonst als in der Unterkunft.

»Was wohl die Spezialaufgabe ist?« fragte Harley.

Ich nickte. Wir beide konnten es uns leicht vorstellen. 20 Uhr, also eine Stunde vor dem von Bob vorausgesagten Beben. Der Lieutenant wollte offensichtlich, daß Bob um diese Zeit im Dienst war, um ihm zu beweisen, daß seine Vorhersage nicht stimmte, und zwar auf eine Art, die Bob nicht anzweifeln konnte. Und Bob war nicht da.

»Sein Paß fehlt«, sagte Yeoman Harris und zeigte uns die leere Schublade, wo er gelegen hatte, seit Lieutenant Tsuya ihn zurückzog. »Ich wollte ihn zerreißen. Jetzt ist er nicht mehr da.«

Ich fand das unverständlich. Bob benahm sich in allerletzter Zeit seltsam; diese Sache mit dem kleinen Chinesenhausmeister, danach das Verschwinden des Mikroseismometers. Aber Bob war mein Freund. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Bob aus irgendeinem Grund seinen Dienst schwänzte oder sonst so eklatant gegen alle Vorschriften verstieß.

»Dann sucht ihn aber mal besser«, riet uns Yeoman Harris. »Lieutenant Tsuya ist ein guter Offizier, solange ihr spurt.«

Wir nahmen unsere Pässe und eilten wortlos in unser Quartier zurück. Bob war nicht da. Und seine Ausgehuniform auch nicht.

»Was sagst du nun dazu, er ist ausgerückt!« rief Harley Danthorpe.

»Du kannst dich wieder abregen. Bob ist ein guter Kadett«, sagte ich ihm. »Er tut so etwas nicht.«

»Wo ist er denn dann?«

Darauf wußte ich allerdings keine Antwort.

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