10. Das Paket im Zellstoff

Ich war so verblüfft, daß ich gar nichts sagen konnte.

Mein Onkel hatte sich sehr verändert. Seine breiten Schultern waren gebeugt, und er hatte einiges Gewicht verloren. Seine Haut war ungesund gelblich, und sein Gang hatte alle Frische verloren und erschien mir schleppend. Seine blauen Augen blinzelten mich trübe an, als erkenne er mich kaum.

»Onkel Stewart!« rief ich.

Er drückte meine Hand mit verzweifelter Kraft. Dann wandte er sich unsicher dem wackeligen Stuhl hinter dem wackeligen Tisch zu und setzte sich langsam. Dann mußte er sich erst die Nase putzen und die Augen wischen. »Ist was nicht in Ordnung, Jim?« erkundigte er sich besorgt. »Ich dachte, du bist in Bermuda.«

»Da war ich, Onkel Stewart. Wir kamen zu einem Spezialkurs hierher.« Dabei beließ ich es. Die Sicherheitsvorschriften ließen weitere Auskünfte nicht zu. Aber ich hatte das Gefühl, mein Onkel wisse es sowieso. »Und wie geht es dir, Onkel Stewart?« fragte ich schnell.

Er straffte sich. »Mir geht es besser als ich aussehe, Junge. Ich mußte durch ziemlich grobes Wasser, das siehst du ja selbst. Aber das habe ich jetzt hinter mir.«

Ich holte tief Atem. »Das hörte ich, Onkel Stewart. Und ich hörte sogar, du hast letzte Nacht aus dem Beben eine Million Dollar herausgeholt.«

Er sah mich mit ausdruckslosen Augen an. Ich konnte nicht erraten, was er dachte. Dann seufzte er. »Ja, vielleicht hab’ ich das«, meinte er fast gleichgültig. »Es gab einen großen Profit, aber ich bin noch nicht flüssig, Jim.«

Er beugte sich mir entgegen. »Aber was soll’s, über Geld zu reden, Junge? Laß dich anschauen. Du bist ja jetzt ein Mann, Jim. Fast schon ein Offizier.« Leise lachte er und besah sich prüfend den Sitz meiner Uniform. »Ah, Jim. Dein Vater wäre sehr stolz, könnte er dich so sehen.«

Als er sich so zurücklehnte, als seine Augen blitzten, sah er fast wieder gesund aus, so wie in den aufregenden Tagen von Marinia. »Keine Angst, Jim, du und ich, wir beide bekommen das, was wir von dieser Welt wollen! Du wirst Offizier der Tiefsee-Flotte sein, und ich schaffe mir das wieder, was ich verloren habe, Gesundheit und Geld, Jim. Ich bin schon früher immer wieder flott geworden und werde es auch diesmal wieder.«

Nachdenklich schaute er seinen neuen Tresor an.

Gideon hüstelte vorsichtig. »Stewart«, sagte er mit seiner warmen, leisen Stimme, »hast du deine Verabredung vergessen?«

»Verabredung?« Mein Onkel schaute auf seine Uhr. »Was, schon so spät? Jim, ich ...« Plötzlich sah er wieder müde und besorgt aus, und seine Stimme hatte die vorige Wärme und Vitalität verloren. »Jim, mein Junge, ich freue mich, wenn ich mit dir zusammen sein kann, aber im Moment habe ich eine Verpflichtung. Zum Lunch, weißt du. Ich glaube nicht, daß du diesen Mann kennst. Wenn du mich also entschuldigst .«

»Ganz selbstverständlich, Onkel Stewart«, sagte ich und stand auf. »Ich muß jetzt sowieso wieder zurück. Ich rufe dich aber an, sobald ich wieder einen Paß bekommen kann. Dann essen wir zusammen.«

Hier gab es eine Unterbrechung, gerade als ich gehen wollte. Der Lunchpartner meines Onkels kam. Ich kannte ihn. Der Mann war Vater Tide.

Der nette kleine Mann mit dem faltigen Seekorallengesicht redete ununterbrochen auf dem Weg zum Restaurant. »Jim«, sagte er, »Sie sehen aber gut aus.« Er nickte dazu wie ein alter, freundlicher Mönch auf einer alten bayerischen Bierreklame. »Schön! Es ist mir ein Vergnügen, Sie hier zu sehen, ein sehr unerwartetes Vergnügen. Was, Stewart?« Er lachte leise. Es war sein Vorschlag gewesen, zum Lunch mitzukommen, nicht der meines Onkels.

Und dabei hatte ich das bestimmte Gefühl, meinem Onkel wäre es viel lieber, er hätte mich nicht dabei.

An diesem Nachmittag erfuhr ich jedoch nichts. Nicht ein Wort fiel, das mir von einiger Wichtigkeit erschien. Man sprach in erster Linie vom Essen. Fast alles kam aus der See, und zubereitet wurde hier jedes Essen auf orientalische Art, wie es in Krakatau Dome Sitte war. Es schmeckte wundervoll.

Gegen Ende machte Vater Tide eine Bemerkung über seine seismischen Forschungen, und mein Onkel antwortete darauf: »Tut mir leid, Vater. Ich kann nichts mehr zu diesem Projekt beitragen.« Das war alles und zugegebenermaßen nicht viel und vor allem nicht aufschlußreich.

»Stewart, es geht doch nicht nur um das Geld«, erinnerte ihn Vater Tide sanft. »Und die seismische Forschung macht sich erst noch bezahlt. Falls einer weiß, wie Tiefsee-Beben präzise vorherzusagen sind, kann er ein Vermögen damit machen. Das hörte ich wenigstens. Nur so mit der Vorhersage. Oder, wollen wir’s so ausdrücken, auch mit ihrer Erzeugung.«

Der Kaffee in der Tasse meines Onkels schwappte über. Er wischte sich die vom heißen Getränk verbrühten Finger mit der Serviette ab und funkelte Vater Tide wütend an.

»Mein lieber Gezeitenvater«, sagte er vorwurfsvoll, »dein Problem ist, daß deine Ausbildung allzu großes Gewicht auf die Sünde legt. Das führt immer dazu, das Allerschlimmste zu vermuten. Und es macht dich, sobald es um Menschen geht, zum ausgesprochenen Pessimisten.«

Ich bin überzeugt, das war ein in Scherz gefaßter milder Vorwurf, doch Vater Tide dachte ernsthaft darüber nach. »Vielleicht stimmt das, Stewart«, antwortete er mit seiner klaren Stimme. »Das über die menschlichen Schwächen. Aber ich bin wenigstens hinsichtlich der Möglichkeiten einer Erlösung Optimist.«

Er trank den Rest seines Kaffees und lehnte sich zurück. »Mein ganzes Leben lang, seit ich mein Studium und das Noviziat begann, haben mich Seismologie und Vulkanologie fasziniert. Und warum? Weil ich sie als direkten Ausdruck des Willens Gottes sehe. Selbst ein lebenslanges Studium ihrer Ursachen konnte daran nichts ändern.

Du darfst nicht denken, ich würde daran zweifeln, daß der Mensch dazwischentreten kann. Natürlich nicht. Ich bin auch nicht der Meinung, das Eingreifen des Menschen sei ein Unrecht. Stewart, du kannst mich ruhig einen Sünderjäger nennen, aber denken kannst du das nicht. Die Vorhersage von Seebeben ist so wichtig und unsündig und proper wie eine Wettervorhersage. Daran ist nichts falsch.«

Er schaute mich an, und mir lief ein kalter Schauer den Rük-ken hinab. Wußte denn jeder in Krakatau Dome das, was Lieutenant Tsuya für ein wohlgehütetes Geheimnis hielt?

»Da gibt es noch ein anderes Gebiet als die Vorhersage«, fuhr der Gezeitenvater fort. »Wenn man sich hier einmischt, ist es gefährlich. Ein Spiel mit dem Leben von Menschen, mit ihren Seelen. Stewart, du weißt, was ich meine. Ich habe allen Grund anzunehmen, daß jemand - den Namen dieser Person kenne ich nicht sicher - ganz nach Belieben Seebeben erzeugen kann. Falls das richtig ist, dann muß diese Kraft dazu benützt werden, Leben und Besitz zu retten und nicht dazu, sündige Menschen zu bereichern!«

Das war alles, was gesprochen wurde. Vielleicht genügte es, denn es wirkte auf meinen Onkel. Er aß schweigend und düster weiter.

Es war ein Zusammenprall zweier starker Menschen, und ich muß zugeben, er erschütterte mich. Mein Onkel glaubte unerschütterlich an sich selbst, an seinen Verstand und sein überragendes Wissen von der See, auch wenn er jetzt nicht mehr der starke Mann war wie früher; und Vater Tide war ebenso unerschütterlich im Glauben an seine Religion.

Daß mein Onkel ein durch und durch ehrenhafter Mann war, konnte und wollte ich nie bezweifeln. Nie würde ich glauben, er könne einem Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier, etwas Böses tun. Und doch: warum hatte er nicht das abgestritten, was Vater Tide behauptet hatte?

Und noch eine Frage: warum hielt Vater Tide die enge Verbindung mit meinem Onkel aufrecht, wenn er glaubte, er sei fähig, so etwas zu tun? Das paßte nicht zu beiden Männern!

Vater Tide blieb heiter bis zum Schluß. Er rühmte den delikaten Geschmack der See-Steaks und die saftige Frische der Seefrüchte, die wir zum Nachtisch bekamen, doch mein Onkel Stewart blieb wortkarg.

Ich war froh, als das Essen vorbei war. Vater Tide verließ uns, und ich ging mit meinem Onkel durch die lauten, lebhaften Straßen zurück zu seinem schäbigen Büro. Ich bemerkte, daß ihm das Gehen schwerfiel.

Vor dem Hauseingang blieb er stehen und griff nach meinem Arm. »Tut mir leid, Jim«, sagte er. »Ich hoffte, du könntest noch eine Weile oben bei mir bleiben. Aber ich habe eine Verabredung. Sie ist sehr wichtig für mich. Ich weiß, du verstehst das.«

»Natürlich, Onkel Stewart«, antwortete ich und verabschiedete mich gleich auf der Straße. Ich verstand es dete mich gleich auf der Straße. Ich verstand es nämlich.

Als wir uns der Nr. 88 näherten, hatte ein Mann aus dem Haus gespäht. Und diesen Mann hatte mein Onkel einen Sekundenbruchteil vor mir gesehen und deshalb gesagt, er habe eine Verabredung. Und den Mann hatte ich schon gesehen, unter Umständen, die den jetzigen sehr ähnlich waren. Es war der alte, zusammengeschrumpfte Chinese, den ich in der Unterkunft und später auf den Straßen der Kuppel mit Bob Eskow gesehen hatte. Er hatte ein kleines, schweres Paket bei sich, eingewickelt in Zellstoff. Es war genau von der Größe des fehlenden Modells der ortholytischen Sonde .

Ich weiß nicht mehr, wie ich zur Station kam. Bob Eskow und Harley Danthorpe schauten mich sonderbar an, voll Neid Harley Danthorpe, und mit Gefühlen, die ich nicht zu deuten vermochte, Bob Eskow. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, Bob habe irgendwie Angst.

»Du glückliche Landratte!« rief Harley. »Sag mal, welchen Stein hast du bei Lieutenant Tsuya im Brett? Das war jetzt dein zweiter Paß.«

»Der Lieutenant wünscht, du sollst dich sofort auf Station K melden«, sagte Bob leise.

Ich eilte also hinab, denn in diesem Moment hatte ich nicht den Wunsch, mit Bob zu sprechen. Lieutenant Tsuya arbeitete an seinem Tisch im feuchten, toten Schweigen der Station und zog Isobaren, Isogeothermen und Isogale auf der plutonischen Karte nach.

»Nun, Eden?« seine Stimme klang angestrengt. »Haben Sie etwas zu berichten?«

Ich zögerte nur eine Sekunde. »Nichts, Sir.« Es stimmte ja, ich hatte keine Tatsachen. Und was mein Onkel auch tun mochte, mit Vermutungen und Verdachten konnte ich dem Lieutenant nicht kommen.

»Genau das habe ich erwartet«, antwortete der Lieutenant bekümmert. Er nahm einen roten Stift und schattierte mechanisch die Gefahrenzonen seiner plutonischen Karte. Ich bemerkte, daß die möglichen Frakturebenen fast unmittelbar neben der Kuppel von Krakatau lagen.

Er blinzelte mich an. Ich sah, daß seine Augen geschwollen waren. »Ich habe Kadett Eskow einen Paß gegeben«, sagte er. »Denn er bat darum, und ich meinte, er solle ihn haben.«

Das brachte mich aus dem Gleichgewicht. »Aber er war doch eben jetzt in der Unterkunft.«

»Das ist richtig. Ich ließ den Paß in Yeoman Harris’ Büro liegen, bis Sie zurückkamen, Eden. Ich möchte, daß Sie ihm folgen.«

»Ich und ihm folgen?« fuhr ich auf. »Das kann ich nicht. Er ist mein bester Freund. Ich würde nie .«

»Eden, Achtung!« bellte er mich an. Ich versteifte mich und schwieg. Etwas freundlicher fuhr er fort: »Ich weiß, daß er Ihr Freund ist. Aus genau diesem Grund will ich ja, daß Sie der Sache nachgehen. Ist Ihnen denn die Alternative nicht klar?«

»Warum ... Nein, Sir. Ich meine, ich habe darüber noch nicht nachgedacht.«

»Die Alternative wäre die Überweisung der ganzen Sache an die Sicherheitsabteilung der Tiefsee-Flotte«, sagte Lieutenant Tsuya leise. »Und sobald dies geschieht, liegt die Sache nicht mehr in meinen Händen. Ist Kadett Eskow eines schweren Verstoßes gegen die Vorschriften schuldig, dann ist er dort an der richtigen Stelle. Ich kann nämlich nicht billigen, wenn gegen Befehle verstoßen wird, sofern die Befehle so wichtig sind wie in diesem Fall.

Hat sich aber Kadett Eskow nur eines, sagen wir, kleinen Irrtums schuldig gemacht, dann wäre es eine grobe Ungerechtigkeit, wollten wir die Sache der Sicherheitsabteilung übergeben. Es liegt also an Ihnen, Eden.«

Der Lieutenant musterte mich schweigend und wartete auf meine Antwort.

»Ich sehe, daß ich keine Wahl habe, Sir«, sagte ich schließlich.

Er nickte schwer. »Das sehe ich auch so.«

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