13. Eine Milliarden-Dollar-Panik

Wir brachten unsere Vorhersagen zu Lieutenant McKerrow.

»Aufwachen, Lieutenant Tsuya!« rief er scharf und machte sich dann sofort an die Überprüfung unserer Ziffern. Gleich darauf kam Lieutenant Tsuya noch ziemlich schlaftrunken herein, und die beiden rechneten unsere Ergebnisse unendlich lange nach. Dann seufzte Tsuya und legte unsere Vorhersagen weg. Er beobachtete Lieutenant McKerrow und wartete.

»Das haben wir uns so vorgestellt, Tsuya«, sagte McKerrow endlich. Er drehte sich zu uns um. »Gratuliere«, brummte er. »Wir haben die gleichen Beobachtungen gemacht, und Ihre Schlüsse bestätigen die von Lieutenant Tsuya und meine. Spätestens innerhalb der nächsten sechzig Stunden haben wir vermutlich ein großes Beben zu erwarten.«

Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas. Die Stille wurde nur von ein paar Wassertropfen unterbrochen und gleichzeitig betont. Die Mikroseismographen zitterten bei jedem fallenden Tropfen.

Dann atmete Harley Danthorpe tief durch. »Ein großes Beben!« rief er. »Und was können wir dagegen tun?«

Lieutenant McKerrow zuckte die Schultern. »Geschehen lassen, denke ich. Oder haben Sie andere Vorschläge?« Sein mageres Gesicht verhärtete sich. »Eines werden wir jedenfalls nicht tun. Darüber reden. Unsere Arbeit ist streng geheim. Sie werden also keine privaten Bebenvorhersagen abgeben. Keinem Menschen gegenüber.«

»Aber Lieutenant«, wandte ich ein, »wenn die Stadt in Gefahr ist, hat sie doch ein Recht, es zu erfahren!«

»Die Stadt war immer gefährdet und wird es auch immer sein«, erwiderte Lieutenant McKerrow eisig.

»Aber doch nicht so! Nehmen wir an, es wird ein Beben der Stärke Zwölf - können Sie sich ausrechnen, was das an Leben kostet? Man müßte doch wenigstens den Versuch einer Evakuierung ...«

»Das«, erklärte McKerrow grimmig, »ist nicht unsere Aufgabe. Lieutenant Tsuya kümmert sich schon darum.« Besorgt musterte er unsere Karten. »Die Regierung der Stadt hat mit der Flotte zusammengearbeitet, um diese Station hier aufbauen zu können. Eine Bedingung war, daß wir ohne Genehmigung der Stadt keine Bebenvoraussagen abgeben. Lieutenant Tsuya hat vergangene Nacht den Bürgermeister angerufen und ihn alarmiert. Jetzt will der den Stadtrat zu einer Notsitzung zusammenrufen lassen, um die Genehmigung zu erhalten, die Vorhersage hinauszugeben.«

»Aber wir können nicht einfach auf der Vorhersage sitzen bleiben!«

»Etwas anderes können wir im Moment nicht tun«, erwiderte McKerrow.

In den nächsten zwei Stunden prüften wir jede einzelne Ziffer noch einmal nach. Immer kamen wir zum gleichen Ergebnis.

Dann kam Lieutenant Tsuya zurück. Er hatte sich rasiert und eine frische Uniform angezogen, aber sein rundes Gesicht sah verkniffen aus. Wortlos las er alle Instrumente ab, besonders gründlich die mikroseismographischen Aufzeichnungen, und kam langsam zum Tisch zurück.

Lieutenant McKerrow skizzierte gerade wieder einen Abschnitt des vermutlichen Bebenzentrums. Er schaute auf. »Hat sich etwas verändert?«

»Nein, nichts. Und wie war’s bei den Stadtvätern?«

»Die stecken zu tief in ihren Geschäften und haben dafür keine Zeit«, erwiderte Tsuya voll Bitterkeit. »Die meisten sind ja Geschäftsleute. Ich fürchte, sie meinen, eine Panik könnten sie nicht riskieren. Die ist aber jetzt schon groß genug.«

»Wieso Panik?« McKerrow funkelte Danthorpe und mich wütend an. »Hat einer von euch geredet?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Tsuya nachdenklich. »Nein. Wahrscheinlich ist die Panik nur ein verzögertes Ergebnis des ersten Bebens. Gestern früh gab es nämlich eine ganze Verkaufswelle. Und heute - nun, die Börse öffnete erst, als ich zum Büro des Bürgermeisters kam. Das reinste Irrenhaus. Ich konnte nicht einmal Mr. Danthorpe ans Telefon bekommen.« Er musterte Harley, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, wir müssen diese Sache so erledigen, wie es sich gehört. Durch die normalen Kanäle. Und der Bürgermeister sagt, den Rat können wir erst nach Börsenschluß zusammenrufen. Das ist ... knapp drei Stunden noch .«

»Sir, können wir etwas tun?« fragte ich.

Tsuya musterte mich für einen Moment, fast fragend, meinte ich. Ich wußte, er hatte sehr vieles im Kopf, nicht nur die Gefahr des zu erwartenden Bebens, wie groß sie auch sein mochte. Ich verstand auch seine Lage. Er führte eine Versuchsstation, die sich erst bewähren mußte, und hatte zu seiner Verfügung noch einen Offizier und drei Kadetten; und jeder davon war wohl für ihn, als Leiter der Station, ein Problem. Bob Eskow, der sich zweifellos recht seltsam benahm; ich war vielleicht im Moment das größte Fragezeichen, weil ich keinen Beweis für das vorlegen konnte, was ich beobachtet hatte, und er mußte ja mit der Möglichkeit rechnen, daß ich irgendwie mit meinem Onkel unter einer Decke steckte, wenn er dunkle Pläne ausbrütete. Und dann war da noch Harley Danthorpe, der Sohn eines Mannes, von dessen gutem Willen die Existenz der Station weitgehend abhing.

Er war in keiner beneidenswerten Lage!

»Angenommen, Eden«, sagte Lieutenant Tsuya erstaunlich ruhig und vernünftig, »wir nehmen die Sache in unsere Hände und geben eine Vorhersage heraus, ohne uns vorher der Mitarbeit des Rates von Krakatau und der Polizei zu versichern. Können Sie sich vorstellen, was dann passiert? Es käme zu einer unvorstellbaren Panik. Eden, damit könnten wir nicht ein einziges Leben retten.

Andererseits ...« - seine ruhige Stimme wurde nun härter -»wenn Sie sich um Ihre eigene Haut sorgen, dann können Sie gleich damit aufhören. Die Flotte hat ihren eigenen Evakuierungsplan. Und vor allem genug Schiffe dafür. Ich habe dem Stützpunktkommandanten die Vorhersage mitgeteilt. Diese Station hier wird natürlich bis zum allerletzten Moment in Betrieb bleiben. Aber wenn Sie Ihre Versetzung beantragen wollen, können Sie evakuiert werden ...«

»Sir!« unterbrach ich ihn scharf. »Nein, Sir!«

Er lächelte. »Dann bitte ich um Verzeihung, Eden. Bringen Sie eine neue Geosonde aus. Wir machen noch einen Test.«

Die Sonde implodierte bei siebzigtausend Fuß.

Über die Aussage gab es keinen Zweifel: die negative Schwerkraft-Anomalie nahm unter der Stadt ständig zu. Nichts hatte sich verändert.

Als ich alle Instrumentenablesungen übertragen und die Gleichungen von Stärke und Zeit durch den Computer gejagt hatte, bekam ich als Ergebnis Stärke Elf - plus/minus eins -und dreißig Stunden Zeit, plus/minus zwölf.

Lieutenant Tsuya verglich meine Ziffern mit den seinen und nickte.

»Wir stimmen wieder überein, Kadett Eden«, erklärte er förmlich. »Die einzige Veränderung ist die, daß das Beben vielleicht eine Kleinigkeit schwerer, die Zeit ein wenig kürzer sein wird.« Seine Stimme klang noch immer ruhig, doch um seinen Mund zeigten sich weiße Linien. »Ich werde den Bürgermeister noch einmal anrufen.«

Harley Danthorpe kam in die Station, als der Lieutenant in sein Privatbüro zum Telefonieren verschwand. Harley brachte große weiße Kaffeetassen von der Messehalle mit. Er reichte mir eine. »Hier. Und magst du ein Sandwich?« Ich schaute den Teller an, den er mir vor die Nase hielt und schüttelte den Kopf. Bei diesen Ziffern konnte einem schon der Appetit vergehen. »Mir geht’s ähnlich«, meinte Harley düster. »Was macht der Lieutenant?«

»Er ruft den Bürgermeister an.«

»Wenn er mich mit meinem Vater reden ließe!« rief Harley gereizt. »Wenn ich ihm den heißen Draht verschaffen könnte, hätte er in fünf Minuten seine Ratssitzung!«

Dann schaute er auf. Tsuyas Bürotür war offen, und der Lieutenant kam heraus. »Das wird nicht nötig sein, Kadett Danthorpe. Die Ratssitzung läuft bereits.«

»Hurra!« schrie Harley. »Jetzt passiert endlich was! Wenn mein Vater . Verzeihung, Lieutenant«, sagte er verlegen.

Der Lieutenant nickte. »MacKerrow!« rief er, »ich gehe nach oben und lege dem Rat die Vorhersage vor. Du übernimmst inzwischen die Station.« McKerrow nickte. »Wird eine rauhe Sache werden«, fuhr Tsuya nachdenklich fort. »Einige Ratsmitglieder wollen von diesen Vorhersagen absolut nichts wissen. Jetzt sieht die Sache natürlich sehr viel ernster aus.«

»Sir, kann ich mitkommen?« bat Harley eifrig. »Ich meine, wenn ich hier bin, wird mein Vater wissen, daß mit den Vorhersagen alles in Ordnung ist .« Wieder schwieg er verwirrt.

»Danke, Kadett Danthorpe«, erwiderte Tsuya trocken. »Ich hatte schon geplant, Sie und Kadett Eden mitzunehmen. Ihre Pflicht besteht allerdings nur darin, mir die Karten vorführen zu helfen. Reden werde ich. Vergessen Sie das nicht.«

Die Ratshalle von Krakatau Dome lag hoch im nordwestlichen oberen Oktanten, zwischen dem Finanzbezirk und dem Plattform-Terminaldeck.

Bürgermeister und Ratsmitglieder warteten in einem großen Raum mit Wandmalereien, die Tiefsee-Szenen darstellten -eine Kelpfarm, eine Uranmine, Tiefsee-Frachter beim Ein- und Ausladen und dergleichen. Es waren sehr schöne, sehr beruhigende Wandmalereien. Die Ratsversammlung war dagegen weder das eine, noch das andere.

Vor allem war es eine sehr laute Angelegenheit, und jeder äußerte seine Meinung streitsüchtig, ausfallend und unbeherrscht. Der Bürgermeister mußte mindestens ein Dutzendmal um Ruhe bitten, bevor der Lärm aufhörte, und als er Lieutenant Tsuya bat, die Lage zu erklären, herrschte immer noch mehr Rechthaberei als Aufmerksamkeit.

Aber der Lieutenant fand schon nach den ersten paar Worten ihre Aufmerksamkeit, denn er erläuterte ihnen recht trocken und ohne jede Beschönigung, daß man mit einem Seebeben der Stärke Elf zu rechnen habe. »Vielleicht sogar Stärke Zwölf«, schloß der Lieutenant grimmig.

Barnacle Ben Danthorpe meldete sich. »Möglicherweise Zwölf, nur möglicherweise? Und möglicherweise Stärke Elf, richtig?«

»Das sagte ich ja schon, Mr. Danthorpe.«

»Vielleicht aber auch Stärke Zehn?«

»Auch das ist möglich.«

»Oder Neun, eh? Vielleicht nur Acht oder Sieben?«

»Das, Mr. Danthorpe, sind äußerst geringe Chancen.«

»Gering? Na, vielleicht. Aber nicht ausgeschlossen, eh?«

»Nicht ausgeschlossen«, gab Lieutenant Tsuya zu. »Das sind alles relative Möglichkeiten.«

»Und wegen dieser relativen Möglichkeiten«, meinte Ben Danthorpe lachend, »wollen Sie, daß wir die Stadt evakuieren. Haben Sie eine Ahnung, Lieutenant, was das kostet?«

»Geld sollte hier nicht die einzige Überlegung sein, Mister!« fuhr Lieutenant Tsuya auf.

»Aber man muß daran denken. Selbstverständlich. Wir müssen es ja auch verdienen, Lieutenant. Verstehen Sie, wir leben ja nicht auf Kosten der Steuerzahler.«

Da rauchte Lieutenant Tsuya aus allen Poren. Ich sah die gefährlichen Linien in seinem Kürbisgesicht. Doch Danthorpe kannte sie nicht und fuhr leichthin fort: »Ich leugne ja nicht, daß ihr Wissenschaftler uns recht nützliche Informationen geben könnt. Mein eigener Sohn arbeitet ja bei Ihnen, nicht wahr? Und er ist ein kluger Junge, ein sehr kluger.« Harley Danthorpe wurde vor Stolz eine Handbreite größer. »Aber er ist ja noch ein Junge!« bellte sein Vater plötzlich, »und von Jungen können wir uns nicht vorschreiben lassen, wie wir Krakatau Dome zu verwalten haben. Sie sagen uns, wir sitzen auf einer Erdbebenfalte. Na, schön. Das wissen wir längst. Und was schlagen Sie vor, dagegen zu unternehmen?«

»Wir haben innerhalb von achtundvierzig Stunden ein katastrophales Beben zu erwarten«, erklärte Lieutenant Tsuya nachdrücklich. »Sogar möglicherweise schon in zwölf Stunden. Die Stadt muß evakuiert werden!«

»Nichts muß sie!« fuhr Danthorpe auf. »Sie machen Ihre Vorhersage, und wir entscheiden, was geschieht. Nehmen Sie das als Richtschnur: die Stadt kann nicht evakuiert werden!«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann holte Lieutenant Tsuya tief Atem, zog eine Karte aus seinen Unterlagen und studierte sie. »Ich habe mit den Stadtingenieuren gesprochen. Hier ist ihr Bericht.

Die Stadt wurde so angelegt, daß sie ein Beben der Stärke Neun mit einiger Sicherheit überstehen könnte. Sie glauben, daß die Edenit-Sicherheitsbeschichtung dafür garantieren könnte, daß die meisten Einwohner überleben; das heißt natürlich nur dann, wenn das Beben nicht übermäßig lange dauert. Aber unter Stärke Zehn wird die Kuppel einstürzen.

Und unsere Vorhersage geht, wie Sie wissen, nach einem Beben der Stärke Elf, eher noch Zwölf.«

Ben Danthorpe hörte schweigend zu, dann nickte er. »Lieutenant, genau die gleichen Zahlen habe ich vor mir liegen. Trotzdem wiederhole ich meine Antwort: Die Kuppel kann nicht evakuiert werden. Euer Ehren«, wandte er sich an den Bürgermeister, »sagen Sie ihm bitte, weshalb nicht.«

Der Bürgermeister erschrak sichtlich. Er war ein dicker, rosiger, schwitzender Mann, der offensichtlich seine Befehle gern von Ben Danthorpe entgegennahm. Daß er bei einer solchen Diskussion den Mund auftun sollte, schien ihn zu überraschen. Und nun hatte er dies zu sagen:

»Mein Büropersonal hat schon vor Jahren die Evakuierungspläne ausgearbeitet, und sie sind praktisch immer greifbar. Heute früh habe ich die Leute nun beauftragt, alles auf den neuesten Stand zu bringen. Es ist wirklich ein Problem, Lieutenant! Und ich fürchte, wir haben dafür keine Lösung. Unsere Einwohnerschaft beträgt Dreiviertel Millionen. Die verfügbare Tiefsee-Tonnage könnte nicht mehr als fünfzigtausend wegbringen. Wir können einen Luftpendler einsetzen, der in zwei Tagen weitere hunderttausend Menschen wegbringen kann, falls wir zwei Tage Zeit haben.

Für weitere fünfzigtausend Einwohner können wir einen Notraum auf der Plattform schaffen, vielleicht sogar für hunderttausend, wenn wir sie auf die Flugdecks stellen. Aber dann haben wir immer noch eine halbe Million hier. Lieutenant, fünfhunderttausend Männer, Frauen und Kinder warten dann hier unten, um dem alten Neptun die Hand zu schütteln ...«

»Warum haben Sie nicht längst bessere Pläne ausgearbeitet?« fuhr ihn Lieutenant Tsuya an. »Wußten Sie nicht, daß dies eines Tages passieren könnte?«

»Lieutenant!« röhrte der Bürgermeister mit violett angelaufenem Kopf. »Vergessen Sie sich nicht!«

Barnacle Ben Danthorpe schaltete sich ein, ehe sich die Gemüter noch mehr erhitzten. »Das ist nur das physische Problem, Lieutenant. Wir haben aber auch ein psychologisches. Die meisten Leute würden die Stadt auch dann nicht verlassen, wenn sie könnten. Wir sind hier zu Hause. Und die meisten Leute sind, ebenso wie ich, der Meinung, daß wir keinen Bebenpropheten brauchen, der uns sagt, was wir zu tun haben .« Er wandte sich wieder an den Bürgermeister. »Euer Ehren, ich meine, wir sollten uns beim Lieutenant bedanken für die Mühe, die er sich gemacht hat, und ihn zu seinem Spielzeug zurückschicken.«

Es kam noch zu einer stürmischen Diskussion, die länger als eine Stunde dauerte, und vor allem wurde nach den Beträgen gefragt, die für verschiedene Bebenkontrollmaßnahmen ausgeworfen worden waren. Doch schließlich beruhigten sich die Leute wieder.

Wir wurden zu unserem Spielzeug zurückgeschickt, mit unserem Wissen, daß die Lebenserwartung der Menschen in Krakatau Dome kaum noch zwei Tage betrug.

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