5. Beben-Vorwarnung!

So tief unten gibt es keinen natürlichen Tag. Seit sich in Urzeiten die Ozeane aufgefüllt hatten, herrschte dort finsterste Nacht. Das Leben in der Tiefe bedurfte keiner Sonne als Uhr. Die Tiefsee-Zeit, die das Flotten-Observatorium auf den Bermudas setzt, ist überall dieselbe.

Um 15.15 Uhr erschien Yeoman Harris in unserem Quartier, um uns zur Station K zu bringen.

In einem Elevator kamen wir bis zum Boden der Kuppel, der noch unter den Docks lag. Aber von hier aus mußten wir noch ein ganzes Stück tiefer. Wir kamen durch die düsteren Lagerräume, schauten in finstere Tunnels mit den Luftleitungen und dem Röhrengewirr, das die ganze Stadt über uns versorgte und hörten das dumpfe Pochen der Pumpen, die aus Millionen von Leitungen das Tropf- und Sickerwasser sammelten, es in ein Abwasserbecken der Stadt leiteten und es dann unter ungeheurem Druck an die Meeresoberfläche beförderten.

»Jetzt haben wir den halben Weg«, bemerkte Yeoman Harris trocken, als wir in einen Tunnel kamen, dessen Bogendach aus schwarzem Basaltgestein bestand. Hier konnte man noch die Bohrstellen erkennen aus der Zeit, da die Kuppel gebaut wurde, um deren Verankerung aufzunehmen. Sehr viel erklärte uns Harris gewiß nicht. Er schien ein großer Schweiger zu sein.

Ein bewaffneter Posten trat uns aus einem metallenen Postenhäuschen entgegen. »Halt!« rief er.

Yeoman Harris zeigte ihm eine Kopie unseres Marschbefehls. Das war keine Höflichkeitsinspektion, auch kein militärischer Drill, das hier war ernst gemeint. Der Posten prüfte jedes Wort nach, und als er den Marschbefehl zurückgab, hatte ich den Eindruck, er habe ihn auswendig gelernt. Hier wurde einiges sehr ernst genommen, soviel war sicher.

»Kommt jetzt weiter«, brummte der schweratmende alte Yeoman und führte uns an dem Posten vorbei zu einem anderen Elevator.

Der hier war für mich eine völlig neue Sache. Eigentlich war er nur ein kleiner, runder Käfig, der in einem kreisrunden Schacht hing. Aber der Schacht war aus lebendem Fels gehauen, und innen schimmerte die Edenit-Beschichtung.

Hier war der Druck wesentlich höher als sonst irgendwo. Hier unten konnte man nicht einmal dem starren Basalt trauen, der die Ozeane der Welt wie eine Tasse umfaßt. Sogar der Basalt könnte einbrechen unter dem gewaltigen Druck von See und Gestein, und deshalb war er mit Edenit beschichtet worden.

Harris schob uns in den Käfig hinein und drückte auf einen Knopf. Der Käfig fiel unter uns weg, hinab in die schimmernde Tiefe; sie schimmerte in allen möglichen und unmöglichen Farbschattierungen je nach dem Druck, dem der Schacht ausgesetzt war. Für mich war das ein beruhigender Anblick, denn mit Edenit war ich ja aufgewachsen, und die Geschichte dieses Materials war so etwas wie eine Familiengeschichte. Aber Harley Danthorpe war kalkweiß. Und Bob wandte sein Gesicht ab.

Ein paar Minuten später verließen wir den Käfig in zehntausend Fuß Tiefe unter dem Meeresboden. Über uns befanden sich nahezu zwei Meilen soliden Gesteins, darüber die Masse des Krakatau Dome, eine ganze Stadt mit Menschen, Industrie, der Flottenbasis und den wuchtigen Säulen des Börsengebäudes, und darüber dann noch einmal drei ganze Meilen Ozean.

Wir kamen durch eine Edenitschleuse in einen Bogentunnel. Hier gab es kein Edenit. Vielleicht war auch nur dieser Schacht so gefährdet, denn hier war nur die rauhe Oberfläche des Druckbetons, der vor Feuchtigkeit glänzte. Zehntausend Fuß unter dem nächsten freien Wasser, und doch hingen überall die Wassertropfen, die von dem ungeheuren Druck durchgepreßt wurden. Während wir zusahen, wurden diese Tropfen langsam größer, daraus entstanden winzige Rinnsale, die sich dann in den kleinen Gullys verloren, die an den Wänden in den Basaltboden geschnitten waren.

»Hier unten gibt’s kein Edenit«, erklärte Yeoman Harris brummig. »Geht nicht. Wenn wir in den MOLEs hinausgehen, kämen wir nicht durch.«

Wortlos schauten wir einander an. Was sollten wir auch sagen?

Von den isotopischen Troyonröhren ergoß sich weißes Licht über uns. Wir standen in einer kleinen Gruft von einem Büro, salutierten und meldeten uns bei Lieutenant Tsuya, unserem neuen kommandierenden Offizier, unserem unmittelbaren Vorgesetzten.

»Danthorpe«, sagte er fröhlich. »Eskow. Eden.« Er schüttelte einem nach dem anderen die Hand. Er war mager und jung und sah sehr lebendig und recht energisch drein. »Freut mich, Sie zu sehen, Eden.« Und wie heftig er mir die Hand schüttelte! »Ich weiß eine Menge über Ihren Onkel. Guter Mann. Achten Sie nicht auf das Geschwätz mancher Leute. Die sind nur eifersüchtig.«

»Vielen Dank«, antwortete ich, doch das war es eigentlich nicht gewesen, was ich hören wollte. Dann waren also die Gerüchte über Onkel Stewart schon bis hierher durchgedrungen!

Nun wandte er sich an uns alle. »Gut, Sie alle hier zu haben. Setzen Sie sich doch. Wir fangen gleich mitten drin an.«

Wir setzten uns. Es war kalt hier. Trotz des weißen Lichtes schien es recht düster zu sein; das kam von den schwarzen, feuchten Wänden und schon allein von dem Bewußtsein, daß Meilen von Fels und Wasser über uns waren.

Lieutenant Tsuya lachte, als errate er unsere Gedanken. »Sie wundern sich wohl, weshalb es hier nicht heiß ist.«

Ich nickte. Er hatte recht. Ich war der Meinung gewesen, so tief in der Erde hätte die Temperatur um einige Grade höher sein müssen, nicht niedriger. Mich fröstelte hier.

»Das ist zum Teil eine Sache der Psychologie«, erklärte Lieutenant Tsuya. Dazu lachte er über sein ganzes rundes Kürbisgesicht. »Teils kommt das Wasser hier, teils daher, daß wir aus diesem Fels einen Kaninchenbau gemacht haben. Aber keine Angst. Es wird warm genug sein, wenn ihr erst einmal die Geosonden einsetzen müßt.«

»Geosonden ...« Danthorpe schluckte. »Lieutenant, ich möchte sofort um einen Urlaub von vierundzwanzig Stunden bitten, damit ich meine Familie besuchen kann. Mein Dad«, fügte er stolz hinzu, »ist Mr. Benford Danthorpe, ein sehr wichtiger .«

»Weiß ich«, unterbrach ihn der Lieutenant, und sein Lächeln schwand. »Hier gibt es jedoch keinen Urlaub. Oder so schnell wenigstens nicht. In den nächsten zwei Wochen seid ihr alle drei täglich sechzehn Stunden beschäftigt. Keiner wird auch nur eine Minute Freizeit haben. In vierundzwanzig Stunden gibt es nur acht Stunden Freizeit, die ausschließlich zum Schlafen benützt werden. Alles andere ist Dienst. Und den Schlaf braucht ihr.«

Er setzte sich und drehte eine Wählscheibe an seinem Tisch. An der Wand hinter ihm erschien eine merkwürdige Karte, wie ich sie noch niemals gesehen hatte. Sie schien den Seeboden zu zeigen, doch darüber lagen Linien und farblich abgesetzte Zonen, auf die ich mir keinen Reim machen konnte.

»Man hat Sie zu den schwierigsten Studien abgestellt«, sagte Lieutenant Tsuya. »Es gibt kaum schwierigere in Ihrer ganzen Tiefsee-Laufbahn. Ein kleiner Teil Ihrer Arbeit besteht darin, daß Sie den Fels um uns herum untersuchen, also fünf Meilen unter der See-Oberfläche, zwei Meilen tief im soliden Gestein.

Gentlemen, die Wichtigkeit Ihrer künftigen Aufgabe läßt sich kaum übertreiben.

Und Sie sind nur aus einem einzigen Grund hier. Sie werden sich mit der Wissenschaft der Vorhersage von Tiefsee-Beben befassen.«

Das waren zwei Wochen!

Unsere ersten Tage an der Akademie waren auch sehr rauh gewesen, doch das hier war kein Vergleich dazu. Ohne Pause, praktisch ohne daß uns einmal Zeit zum Atemholen blieb, schufteten wir in diesem elenden Verlies unter dem Meeresboden. Wir studierten, übten und studierten, und der rundgesich-tige, lächelnde Tsuya peitschte uns mit seiner nadelspitzen, höhnischen Zunge an. Lieutenant Tsuya war ein guter Mann, jawohl, aber er hatte den Befehl, in zwei kurzen Wochen die ganze Tiefsee-Seismologie in uns hineinzustopfen.

Dazu war er auch entschlossen, selbst um den Preis, daß er uns damit umbrachte. Sehr nahe daran war er ja auch.

Zuerst kam die Theorie: Vorlesungen, Studium, Prüfungen. Was ist die Erdkruste? Fels. Solider Fels? Nein, nicht unter Druck. Denn unter hohem Druck fließt sogar solider Fels. Fließt er gleichmäßig? Nein, er hängt einmal, dann fließt er, und schließlich baut sich Druck auf.

»Beben passieren«, dozierte der Lieutenant, »weil der Fels nicht völlig plastisch ist. Es baut sich Streß auf, der sich ansammelt. Der immer mehr zunimmt. Und dann macht es päng! Die Spannungen lösen sich.

Beben sind einfach die Vibrationen, welche die Energie dieses plötzlich abgebauten Stresses verteilen.«

Wir mußten eine Unmenge neuer Worte lernen, die Sprache der Seebeben. Ich erinnere mich gut daran, wie Bob murmelte: »Epizenter, Epizenter ... wenn sie das Zentrum des Bebens meinen, warum sagen sie das nicht auch?«

Und Harley Danthorpe: »Landratten! Das Epizenter ist der Punkt der Erdoberfläche genau über dem Zenter! Und das Zenter kann zwanzig Meilen tiefer liegen.«

Und wir mußten uns auch mit den drei Haupttypen seismischer Wellen vertraut machen:

Die schiebende, hämmernde Grundwelle, die »P«-Welle, die am schnellsten ist und daher auch die Instrumente zuerst erreicht. Sie rast mit einer Geschwindigkeit von fünf Meilen in der Sekunde durch die Substrata der Erde.

Die zweite Welle, die »S«-Welle, pflanzt sich mit drei Sekundenmeilen fort und vibriert rechtwinkelig zur Stoßrichtung, etwa so, als schüttle man eine Wäscheleine oder knalle mit einer Peitsche.

Dann kommt die riesige, mächtige und langsame »L«-Welle, die für die Zerstörungen verantwortlich ist. Wir lernten, wie man die Intervalle zwischen P und S mißt und daraus errechnet, wann die zerstörerische L-Welle ankommt.

Darüber hinaus lernten wir noch eine Menge anderer Dinge. Vor allem erfuhr ich einiges über unseren Lehrer Lieutenant Tsuya.

Wir zeichneten unsere ersten Karten, die jener ähnelten, die Lieutenant Tsuya für uns an die Wand projizierte; diese Karten zeigten die Fehler und Spannungen in der Erdkruste im Umkreis von vielen hundert Meilen. Die verschiedenen Farben und Schattierungen bezeichneten die Thermalenergien und die Konvektionsflüsse - denn, und das durften wir niemals vergessen, so weit unten fließt auch der solide Fels! Wir zeichneten die Linien des Mikroseismus ein, die Auslösekräfte, alles was zum »fließenden« Fels gehörte.

Lieutenant Tsuya kritisierte sie, und dann lockerte sich seine Art ein wenig.

Wir saßen da, machten ausnahmsweise eine kurze Pause, und an den Wänden aus Druckbeton hingen Perlen aus Salzwasser.

»Lieutenant«, sagte da Bob Eskow, »der Yeoman sagte uns, hier unten könne man kein Edenit verwenden, weil die Geosonde nicht durchkäme. Ist das richtig?«

Lieutenant Tsuyas Kürbisgesicht lächelte. »Nein, das ist eine Sache der Vorhersage.«

Er stand auf und berührte unsere Karten. »All diese Informationen erhalten wir von Instrumenten«, erklärte er. »Deshalb wurde auch die Station so weit unterhalb der Stadt angelegt. Jede Vibration, ob vom Verkehr oder von den Pumpen, würde sie stören. Sie müssen lernen, hier sehr vorsichtig zu gehen. Und Sie müssen vermeiden, schwere Gegenstände fallen zu lassen.«

»Ja, Sir«, antwortete Harley Danthorpe sofort und nickte aufmerksam. Dazu kniff er die Augen zusammen, als suche er nach dem heißen Draht, der nach innen führt. »Ich verstehe, Sir.«

»Wirklich?« Der Lieutenant musterte ihn nachdenklich. »Nun ja, gut. Deshalb müssen wir hier in der Station auf den Schutz des Edenits verzichten. Seismische Vibrationen erreichen uns durch den Fels. Sie würden durch die Eden-Anomalie aufgefangen werden, verstehen Sie? Wären unsere Instrumente hier mit einem Schutzschild versehen, könnten sie ja die leisesten Schwingungen nicht registrieren.«

»Ja, Sir.« Das war wieder Harley Danthorpe, doch seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so forsch. Ich bemerkte, wie er die glitzernden Tropfen anblinzelte, die aus dem Fels sickerten.

»Unsere Arbeit ist hoch klassifiziert, also wird außerhalb dieser Station nicht darüber gesprochen«, sagte der Lieutenant fast barsch.

»Weshalb, Sir?« fragte ich.

Sein rundes Gesicht wirkte plötzlich müde. »Weil es eine böse Geschichte gibt, die mit der Seebeben-Vorher sage zusammenhängt.

Einige der ersten waren bei ihren Vorhersagen zu selbstsicher. Sie machten Fehler. Natürlich hatten sie noch nicht die Instrumente, die uns heute zur Verfügung stehen, und sie wußten sehr viele Dinge noch nicht, die wir heute wissen. Aber sie machten auch Fehler und gaben daher fehlerhafte Vorhersagen ab.

Am schlimmsten war die für Nansei Shoto Dome.«

Der Lieutenant wischte sich nervös mit der Hand über die Stirn, als wolle er eine störende Erinnerung wegwischen.

»Ich weiß einiges von dem, was in Nansei Shoto Dome passierte«, sagte er, »denn ich war einer der Überlebenden. Die Kuppel wurde völlig vernichtet.«

Er setzte sich wieder, schaute uns aber nicht an. »Ich war damals noch ein Junge. Meine Leute waren von Yokohama dorthin gezogen, als die Kuppel noch ganz neu war. Wir kamen im Frühling des Jahres an, und im Sommer gab es eine ganze Anzahl Beben. Natürlich bekamen die Menschen allmählich Angst.

Aber nicht alle hatten panische Angst. Unglücklicherweise.

Zu denen gehörte mein Vater. Ich erinnere mich gut, wie sehr meine Mutter ihn doch bettelte, dort wegzugehen, doch er wollte nicht. Das war zum Teil eine Geldsache, denn mein Vater hatte den letzten Yen ausgegeben, um dorthin zu kommen, zum Teil war es auch Mut. Mein Vater hatte keine Angst.

Es gab dort einen Wissenschaftler, Dr. John Koyetsu. Er war Seismologe, der Chef der experimentellen Vorhersagestation der Stadt. Er sprach im Fernsehen der Stadt. Er sagte, nein, ihr braucht keine Angst zu haben, es gibt keinen Grund dazu. Seid ruhig, das sind nur unbedeutende Beben, die euch erschrecken. Ihr braucht nicht zu fliehen. Hier besteht keine Gefahr für ein wirklich ernstes Beben. Seht, ich zeige euch meine Karten, und ihr könnt darauf sehen, daß im Nansei Shoto Graben mindestens seit einem Jahr kein ernstliches Beben war!

Seine Karten waren sehr überzeugend. Doch er hatte nicht recht.«

Der Lieutenant schüttelte seinen dunklen Kopf, und sein rundes Gesicht sah plötzlich mager und eingefallen aus.

»Es war am Freitag früh. Meine Mutter und mein Vater sprachen darüber, als ich von der Schule nach Hause kam. Sie waren recht beruhigt. Aber es war zufällig so, daß sie beschlossen hatten, mich auf dem Festland zur Schule zu schicken. Meine Mutter dachte, die Zeit sei genauso gut wie jede andere. Oh, Angst hatten sie nicht. Aber meine Mutter wollte kein Risiko eingehen.

Am Abend brachten sie mich auf ein Schiff nach Yokohama. Am nächsten Nachmittag schlug das Beben zu. Es zerstörte Nansei Shoto Dome. Nicht einer überlebte.«

Einen Augenblick lang stand Lieutenant Tsuya schweigend da, und seine dunklen Augen folgten dem kleinen Rinnsal schwarzen Wassers, das in den schmalen Gully unter der Betonwand floß.

Danthorpe musterte ihn scharf aus zusammengekniffenen Augen, als halte er wieder nach dem heißen Draht nach innen Ausschau. Bob besah sich den Beton mit ausdrucksloser Miene.

»Deshalb ist unsere Arbeit so streng geheim«, sagte der Lieutenant unvermittelt in die Stille hinein.

»Die Bebenvorhersage hatte einen schlechten Namen. Sie verhinderte die Evakuierung von Nansei Shoto Dome und hatte viele Todesfälle zur Folge. Meine Eltern waren unter den Toten.

Die Tiefsee-Flotte ist autorisiert, diese Station zu führen, doch an die Öffentlichkeit werden keine Vorhersagen geliefert. Ich hoffe, daß wir damit viel mehr Menschenleben erhalten können als durch Koyetsus Irrtum vernichtet wurden. Aber erst müssen wir die absolute Genauigkeit unserer Vorhersagemethoden sichern.

Im Moment dürfen Sie also mit keinem Menschen über unsere Arbeit hier sprechen. Das ist ein Befehl.«

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