11. Das Schiff in der Grube

Eine Stunde später war ich wieder im zivilen Bereich der Kuppel; übrigens auch Bob Eskow, nicht nur ich. Und Bob war nicht allein.

Es war kindisch einfach, ihm zu folgen. Ich hatte nur am Haupttor der Flottenbasis gewartet, einen Wettermantel über meine Uniform gezogen und mich ein bißchen versteckt. Bob kam wie eine Granate aus einem Kanonenrohr geschossen und rannte sofort zu den Elevatoren, die nach oben gingen. Dort traf er mit dem alten Chinesen zusammen.

Der Chinese hatte nun nicht mehr das vorige Paket bei sich. Er mußte es also irgendwo gelassen haben. Ich konnte mir nur einen einzigen Platz dafür denken - meines Onkels Tresor.

Getroffen hatten sie einander auf dem Deck Minus Eins, genau über dem Haupttor der Flottenbasis. Dann fuhren sie wieder nach unten, über das unterste Deck hinaus und weiter zum Drainagedeck. Sie gingen über das Deck, als ich ein paar »Pumpenaffen«, wie die Drainageleute genannt wurden, aus der Kabine folgte.

Wir kamen zu einem Quertunnel, der Sammelstation Vier. Ich spürte das Vibrieren der mächtigen Pumpen, die alles Brauchwasser von Krakatau Dome sammelten und drei Meilen nach oben zur Meeresoberfläche preßten, doch ich hatte keine Zeit, über dieses Wunderwerk der Technik nachzudenken, denn Bob und der alte Chinese gingen rasch weiter. Ich wartete einen Moment, dann nahm ich die Verfolgung wieder auf.

Im nächsten Tunnel war der Boden eben, mit kleinen Drainagerinnen entlang den Mauern; sie waren mit Druckbeton verkleidet und nicht besonders hell mit weitgesetzten Troyon-Röhren beleuchtet. Es war hier ziemlich trocken, nur von den Wänden lief dann und wann ein Tropfen hinab in die Rinne. Unvermittelt verschwanden die beiden vor mir.

Ich blieb eine Sekunde stehen und ging dann langsamer weiter. Ich sah, daß sie einen Drainage-Sammelbehälter betreten hatten. Und da blieb ich ein wenig länger stehen.

Mir wurde nämlich klar, was ich vorher nicht bedacht hatte, daß ich mich nicht mehr unter der Kuppel befand. Ich war draußen auf dem Meeresboden, das heißt, darunter. Über mir waren ein paar hundert Fuß Fels, der vom Beben erschüttert war .

Und darüber kamen dann drei senkrechte Meilen Salzwasser.

Die Drainagetunnels waren nicht verstärkt und nicht versiegelt, oder nur an ein paar sehr kritischen Punkten. Hier tropfte und platschte und murmelte die eindringende See. Es war hier sehr kalt, nahe dem Gefrierpunkt der Tiefen, schlecht belüftet; und vor allem roch es intensiv nach Salzwasser.

Und meine Beute verschwand mit jeder Sekunde mehr aus meinem Blickfeld.

Am Ende dieses Service-Tunnels war eine etwa metertiefe Stufe, die in den Drainagering führte; er schwang zu beiden Seiten in einem Bogen weg von mir. Ausgehoben worden war dieser Ring von automatischen Exkavatoren, und an den schwarzen Felswänden waren jetzt noch die Spuren zu sehen. Hier drang ziemlich viel Wasser durch, und der Tunnelboden war fast fußhoch damit bedeckt. Da wäre ich am liebsten umgekehrt.

Ich mußte aber unbedingt wissen, wohin sie verschwunden waren. Lauschend blieb ich stehen, doch ich hörte nur das Wasser aus den Undichtigkeiten der Wände tropfen. Dann gewöhnten sich meine Augen allmählich an das äußerst dürftige Licht, und ich sah rechts von mir einen schwankenden Schimmer auf dem schwarzen Wasser. Das war der Schein einer isotopischen Handlampe, aber nun fast schon außer Sichtweite.

Mein Entschluß, ihnen zu folgen, war schnell gefaßt. So lautlos wie möglich stapfte ich durch das Wasser, das mir bis zu den Knöcheln reichte; es war beißend kalt und nahm mir fast den Atem. Ich folgte dem Lichtschein, bis er hinter einem lärmenden Wasservorhang verschwand, der sich aus einer Felsspalte ergoß.

Allmählich wurde die Sache immer schwieriger. Meine Füße waren taub vom eisigen Wasser, ich war durchfeuchtet und zitterte vor Kälte, kurz, ich fror erbärmlich. Und ich war nicht bewaffnet.

Falls sie - nur angenommen - hinter dem Wasserfall warteten, wäre ich ein leichtes Opfer. Trotzdem, von Bob Eskow konnte ich so etwas nicht glauben. Eine Troyon-Röhre weiter vorne spiegelte sich nur matt in der Feuchtigkeit der Tunnelwand. Ich spähte in die Dunkelheit, tat ein paar platschende Schritte - und dann hielt ich den Atem an und watete weiter durch den eisigen Wasserfall. Der Tunnel dahinter war völlig dunkel. Das eisige Wasser war hier tiefer und lief schneller. Wie blind tappte ich weiter, etwa fünfzig Meter.

Dann sah ich voraus einen schwachen Schimmer. Ich wartete und rührte mich nicht. Dann sah ich, daß sich das Licht in nassem Fels spiegelte. Das Licht kam aus einer größeren Röhre, die von dem runden Tunnel nach unten führte. Eine Anzahl dieser Röhren leitete das Sickerwasser in der Form von Radspeichen zu den Pumpen hinab.

Und am Ende einer Speiche erblickte ich weit unten zwei Gestalten - Bob Eskow und den Chinesen. Diese Speiche war eine gerade Linie, und ich sah ihre Umrisse schwarz vor dem beweglichen Schein der isotopischen Handlampe.

Ich betrat den »Speichen«-tunnel. Er war so steil, daß ich fast stürzte. Das Wasser lief hier reißend und zerrte an meinen tauben Füßen. Doch ich fand schnell festeren Stand. Ich ent-deckte mitten im Tunnelboden eine erhöhte Rippe, die kaum im Wasser lag. An die mußte ich mich also halten.

Die beiden Männer waren nun ein gutes Stück vor mir. Dann verschwanden sie plötzlich. Der Tunnel schien dunkel und leer zu sein. Schließlich entdeckte ich wieder einen schwachen Lichtschimmer auf einer schwarzen Wasseroberfläche.

Ich tappte so vorsichtig weiter, wie es meine halberfrorenen Füße erlaubten. Links und rechts von mir rauschte das Wasser vorbei. Die Mittelrippe war zwar nicht oder kaum mit Wasser bedeckt, doch von oben und den Wänden tropfte und spritzte das Wasser so sehr, daß meine Uniform nur noch ein nasser Lappen war. Und ich fror entsetzlich.

Endlich erreichte ich den Fuß dieser Speiche. Das Wasser ergoß sich in ein riesiges, höhlenartiges Becken. Man hatte hier den Fels so weit ausgehöhlt, daß im Fall von Schwierigkeiten mit den Drainagepumpen die Stadt immer noch eine relativ große Sicherheit hatte. Diese Wasserkammer dehnte sich nach beiden Seiten hin ungefähr dreißig Meter aus, und wie tief sie war, konnte ich nicht ahnen. Das Dach war mit DruckEisenbeton verkleidet, doch die Wände waren reiner Basalt. Aus einem halben Dutzend »Speichen« ergoß sich das Wasser in dieses Riesenbecken, und der Fels unter meinen Füßen bebte von den Vibrationen der unsichtbaren Pumpen, die das Wasser hinauspreßten.

Im schwachen Licht konnte ich nur ein paar Einzelheiten erkennen, und dieses Licht kam von unterhalb des Abflußtunnels, dem ich gefolgt war. Ich trat ein wenig näher an den Rand der »Grube«. Hier schäumte das Wasser um meine Füße, obwohl ich mich auf der schmalen Rippe zwischen zwei Rinnen hielt. Viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre mitgerissen worden. Um über den Rand schauen zu können, mußte ich auf Hände und Knie niedergehen.

Da fand ich die Quelle des blaßschimmernden Lichtes. Es war ein Edenit-Film, die Beschichtung eines langen Tiefsee-Schiffes, das unter dem Rand auf dem Wasser schwamm!

Das war der erstaunlichste Anblick meines Lebens.

Ich klammerte mich an den rauhen Felsen, wurde vom Wasser überspült und wußte es kaum. Ein Seewagen! Ein großer sogar, hier in diesem Becken, ohne Schleuse, ohne einen Weg hinein oder heraus. Das erschien mir unglaublich, doch hier sah ich es selbst.

Natürlich konnte ich die Tiefe des Beckens nicht abschätzen, doch die Oberfläche des dunklen Wassers lag ein paar Dutzend Fuß unter mir. Aus den Röhrentunnels kam das Drainagewasser wie Wasserfälle, und der Lärm übertönte jedes Geräusch. Wegen der großen Dunkelheit bestand kaum Gefahr, daß mich jemand sehen konnte.

Der lange, schimmernde Rumpf wurde gerade vom Wasser überspült. Ein gedrungener Kommandoturm ragte einen Meter etwa über das Wasser. Der alte Chinese kletterte eben in diesen Turm hinein. Eine andere Person stand außerhalb auf der kleinen Plattform davor, hielt sich an einem Geländer fest und schaute in das schwarze Wasser.

Er wartete. Ich wartete auch, nur ein paar Meter über ihm, bis der Kopf eines Tauchers durch das Wasser stieß. Hier ein Taucher! Das war ja phantastisch, schier unglaublicher als das Schiff selbst. Der Taucher trug einen schweren Thermoanzug, denn ohne ihn hätte er in diesem Wasser kaum eine Minute überlebt. Der Helm verbarg sein Gesicht. Er hob den Arm. In der plumpen Hand hielt er das Ende einer Leine.

»Fertig?« Die Stimme klang durch den Helm ziemlich gedämpft und verzerrt. Das Echo rumpelte in der dunklen Betonkuppel. »Einholen!« Er ließ sich wieder ins Wasser gleiten.

Der Mann auf dem Deck holte die Leine ein. Sie mußte schwer sein, denn er atmete heftig. Einmal legte er eine kleine Pause ein und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. Er sah mich nicht, doch ich konnte ihn erkennen. Einen Irrtum gab es nicht. Es war Bob Eskow.

Plötzlich wurde ich mir der beißenden Kälte bewußt. Die ganze Welt war für mich eisig kalt. Immer hatte ich gehofft, daß alles nur ein Irrtum, vielleicht ein grotesker Zufall wäre, aber nun konnte ich nicht mehr zweifeln.

Wie betäubt wartete ich, bis der Taucher wieder heraufkam und den Gegenstand, den Bob so mühsam auf das Deck des Seewagens hievte, anhob. Der Taucher ging sehr vorsichtig damit um und schützte ihn mit seinem Körper vor einem Anprall an der Schiffswand.

Ich lehnte mich so weit hinaus, wie ich es wagen konnte, um zu sehen, was es war. Wie konnte dieses Schiff überhaupt hier sein, im Abwasserbecken der Kuppel und tief unter ihr? Es gab von hier aus keinen Ausgang zur See, gar keine Möglichkeit dafür, denn der ganze Ozean würde, angetrieben von drei Meilen Salzwasser, mit einem ungeheuren Druck hereinströmen. Hier konnte es auch keine Schleuse geben. Ein Edenit-Schleusensystem war etwas überaus Kompliziertes. Es wäre einfacher und billiger, einen neuen Seewagen unten auf dem See selbst zu bauen, als hier ein ganzes Schleusensystem zu konstruieren.

Selbst wenn man all diese phantastischen Tatsachen und Überlegungen einmal wegschob, blieb immer noch eine Frage: Warum?

Was war der Zweck? Wem konnte es nützen, einen Edenit-beschichteten Seewagen hier hereinzuschmuggeln? Nun ja, dieses Wort deutete eine Erklärung an: Schmuggler. Aber das war doch lächerlich! Nein, hier gab es nichts so Wertvolles zu schmuggeln, das einen solchen Aufwand rechtfertigen würde.

Dann sah ich, was auf das Schiff gehievt wurde. Sie gingen überaus sorgsam damit um, und das Ding wirkte irgendwie bekannt. Es war eine polierte goldene Kugel von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser. Für ihre Größe mußte sie unverhältnismäßig schwer sein. Ein Reifen aus Edelstahl lag um die Kugel, daran war ein Ring, und die Schleppleine war an diesem Ring befestigt.

Im Labor für thermonukleare Waffen an der Akademie hatte ich mit einem solchen Ding gearbeitet, darum kannte ich es.

Es war der Zünder einer H-Bombe.

Niemand brauchte mir zu sagen, daß die private Verwendung einer thermonuklearen Waffe eine sehr ernste Angelegenheit war.

Was wurde hier gespielt? Wurde dieses Schiff hier für eine Piratenreise ausgestattet, um Beute zu machen oder Zerstörungen vorzunehmen? Das war mein erster Gedanke, doch Bob Eskow paßte nicht in mein Piratenbild.

Fast vergaß ich, wie erbärmlich mich fror, denn ich mußte ja sehen, was jetzt geschah. Bob hob die kleine tödliche Kugel äußerst behutsam durch die Luke. Der alte Chinese unten mußte sie ihm dann wohl abgenommen haben, denn Bob warf das Leinenende zum Taucher zurück, der sofort wieder nach unten ging.

Davon schien es also noch mehr zu geben.

Nicht nur ein einziger H-Bombenzünder, es mußten einige sein. Vielleicht viele. Bald hoben sie noch eine Goldkugel heraus, dann eine dritte, und noch eine und noch eine. Es waren acht von diesen tödlichen Dingern.

Acht thermonukleare Zünder! Und jeder konnte eine Explosion auslösen, die diese ganze Kuppel einfach wegblasen würde. Das war keine Piraterie mehr, es war sehr viel ernster.

In halber Betäubung sah ich zu, während der Taucher, der seine gefährliche Arbeit vollendet hatte, sich aus dem Wasser stemmte und seinen umfangreichen Thermoanzug öffnete. Und als er den Helm abnahm, wäre ich um ein Haar in die Grube gestürzt, denn das Gesicht, das ich erblickte, war das freundliche, ehrliche Negergesicht der rechten Hand meines Onkels, das von Gideon Park!

Das genügte. Es war ein erschreckendes Finale für den schlimmsten Tag meines Lebens. Doch der Tag war noch lange nicht zu Ende. Das dicke Ende sollte erst noch nachkommen.

Während ich zusah, faltete Gideon schnell den Thermoanzug, wickelte die Leine auf und verstaute alles auf der kleinen Plattform. Er sagte etwas zu Bob, doch ich konnte es nicht verstehen. Dann kletterten beide durch die Luke hinein. Im Schiff begannen Motoren zu summen, der Lukendeckel schloß sich.

Dann wurde der Turm eingezogen, bis der Deckel mit der Deckebene abschloß. Der Edenit-Film schimmerte pulsend und wurde heller.

Dann begriff ich wenigstens etwas von diesem sonderbaren Rätsel. Schleusen? Gab es keine! Denn das Schiff brauchte keine. Es war auch nicht irgendein Tiefsee-Schiff, das einen offenen Weg in die Tiefe brauchte. Es war viel mächtiger, viel geheimnisvoller:

Ein MOLE!

Ein Tiefsee-Kreuzer also, der mit den ortholytischen Bohrern ausgerüstet war, die sich durch den soliden Fels fressen konnten. Jetzt, da der Turm eingezogen war, konnte ich die Spiralelemente des ortholytischen Bohrers erkennen.

Das konnte nur eines bedeuten: Jemand hatte eines der bestgehüteten Geheimnisse der Tiefsee-Flotte verraten ...

Das Schiff tauchte, das schwarze Wasser wusch darüber weg. Der Edenit-Film des Rumpfes wurde noch heller, als er auf den veränderten Druck reagierte. Es glitt nach unten, das Wasser verwischte die Umrisse des Schiffes, dann war es weg. Es war in den Fels getreten.

Das riesige Becken war nun völlig dunkel. Mühsam kam ich auf die Füße. Ich zitterte vor Schock und Kälte, stolperte zum Abfluß und machte den langen, mühseligen Weg zurück in das erstickende Dunkel. Der Fels zitterte unter meinen Füßen. Die Pumpen? Oder die Bohrer des MOLES?

Erschöpft, naß und halb erfroren taumelte ich weiter, wäh-rend unter meinen Füßen ein winziges Schiff mit zweien von meinen besten Freunden vielleicht zu einem verräterischen Auftrag unterwegs war.

Загрузка...