»Und als dann meine Halbbrüder zur Welt kamen, habe ich für Raistlin und Caramon gesorgt. Meine Mutter… konnte es nicht«, schloß Kitiara. Dieser letzte Satz bedeutete: die häufigen Trancen und Krankheiten ihrer Mutter, die endlosen Wochen, die die Frau im Bett gelegen hatte, während sich Kitiara, der nur ihr Stiefvater zur Seite stand, um die Zwillinge kümmerte.
»Als sie sechs waren und Raistlin zur Zauberschule zugelassen wurde, bin ich von Solace fortgegangen. Das ist lange her – sieben, nein, zehn Jahre.« Ihre Stimme blieb gleichmütig.
»Kehrst du jetzt zum ersten Mal nach Solace zurück?« fragte Tanis, während er seinen schweren Wallach Paladin um ein paar Felsen lenkte. Er hielt das kastanienbraune Pferd auf dem einfacheren, ausgetretenen Weg. Mit einer Hand zog er sein ledernes Stirnband ab, mit der anderen wischte er sich den Schweiß vom Gesicht. Dann setzte er das Band wieder auf. Die Sommerhitze war selbst hier im Schatten drückend.
»Hin und wieder komme ich heim«, meinte Kitiara achselzuckend. »Ich war da, als meine Mutter starb, und dann noch ein paarmal. Ich bringe den Zwillingen Geschenke und Geld, wenn ich welches habe.«
»Du scheinst nicht…« Tanis verbiß sich den Kommentar.
Kitiara sah ihn von der Seite an. »Was, Halbelf?« Als er nicht weiterredete, langte sie hinüber und boxte Tanis lächelnd in die Rippen, woraufhin er das Gesicht verzog.
»Dafür, daß du deine Brüder ewig nicht gesehen hast, scheinst du es nicht besonders eilig zu haben«, sagte Tanis schließlich. »Wir sind schon über einen Monat unterwegs, und du drängst nicht im mindesten auf etwas Tempo. Außerdem«, fügte er hinzu, weil er sich für das Thema erwärmte, »warst du diejenige, die darauf bestanden hat, dem Horax nachzujagen.«
Das sechs Fuß lange, insektenartige Ungetüm war vor über zwei Wochen eines Morgens in ihr Lager gestürmt, hatte ihre Sachen durchwühlt und sich mit Kitiaras Packsack aus dem Staub gemacht. Das Bodentier, dessen Körperplatten es von den Kiefern bis zum hintersten Beinpaar wie eine Rüstung schützten, hatte zwölf Beine und war erschreckend schnell und wild gewesen.
Zuerst hatte Kitiara befürchtet, der Zauberer des Valdan habe ihr den Horax nachgeschickt, um die Eisjuwelen zurückzuholen. Diesen Gedanken hatte sie jedoch verworfen, nachdem das Raubtier nach einigem Herumwandern schließlich einfach in seine unterirdische Kolonie zurückgekehrt war. Sie und der Halbelf hatten in der Kälte der frühen Morgenstunden zugeschlagen, wo der Kaltblüter und seine Artgenossen noch langsam gewesen waren.
Die Jagd nach dem Horax hatte sie südwestlich in die Wälder von Qualinesti zurückgeführt, wo Tanis sich bestens auskannte, allerdings waren sie weit von ihrem ursprünglichen Weg nach Solace abgekommen. Der Zwischenfall hatte die Hälfte des Monats in Anspruch genommen, der verstrichen war, seit sich Tanis und Kitiara beim Kampf gegen die Hobgoblins kennengelernt hatten. Jetzt lag der Packsack wieder sicher an seinem Platz hinter Kitiaras Sattel, und die Reisenden standen einige Meilen südlich von Haven.
»Ich finde immer noch, es wäre einfacher gewesen, wenn du dir einen neuen Packsack beschafft hättest«, beharrte Tanis. »Der da sieht aus, als habe er einen Bürgerkrieg mitgemacht.«
»Hat er auch«, murmelte Kitiara trotzig.
»Warum wolltest du ihn dann unbedingt wiederhaben?« Er starrte sie forschend und unnachgiebig an.
Sie wurde unwirsch. »Ich hab’ dir doch gesagt, das geht dich nichts an.«
Tanis wischte ihren Widerspruch wie eine der Fliegen, die sie in der Hitze umschwirrten, beiseite. »Ich habe dafür mein Leben riskiert, Kit.«
Kitiara schlug auf den Sattelknauf. »Ich habe mit Raistlin etwas Geschäftliches zu besprechen«, sagte sie hitzig. »Und in dem Sack ist etwas, was… ich ihm gerne zeigen möchte.«
»Das erklärt, warum du unbedingt den Horax verfolgen wolltest«, sagte er störrisch. »Es erklärt nicht, warum du es jetzt überhaupt nicht mehr eilig hast, deinem Bruder zu begegnen.«
Bei den Göttern, dieser Halbelf war wirklich neugierig! »Ich arbeite noch an dem Plan«, sagte sie erregt. »Du hättest ja ohne mich weiterreiten können, Halbelf. Es war nicht deine Sache. Du hättest ja weiterreiten können, zu deinem Zwergenfreund in Solace.«
»Als ob ich eine Frau im Stich lassen würde, damit sie allein gegen ein räuberisches Monster antritt.«
Blitzschnell hatte Kitiara einen Dolch gezogen. Bevor Tanis noch Luft holen konnte, sah er in die Spitze der scharfen Waffe. Ihre erstaunliche Geschwindigkeit schien ihn zu Kitiaras großem Ärger jedoch gar nicht zu beeindrucken. Schließlich sagte die Kämpferin, wobei sie jedes Wort einzeln ausspuckte: »Halbelf, ich brauche keinen Mann als Beschützer!«
Erstaunlicherweise lächelte Tanis. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Natürlich nicht, Kit. Natürlich nicht.«
Immer noch wutschnaubend steckte Kitiara den Dolch wieder ein. Eine Meile ritten sie wortlos weiter. Schließlich brach Tanis mit zerknirschtem Blick das Schweigen. »Kann ich dir helfen? Bei deinem Plan, meine ich?«
Die Söldnerin schnaubte. »Ganz sicher nicht.«
»Ich verkaufe die Waren von Flint Feuerschmied, und niemand ist verwirrter als dieser Zwerg, wenn’s um Geschäfte geht. Vielleicht könnte ich ein paar Vorschläge für dich und deinen Bruder machen.«
Kitiara sah Tanis an. »Danke, nein«, war alles, was sie sagte.
Tanis schien es nicht zu bekümmern, daß Kitiara sein Angebot ausschlug. Einträchtig ritten die beiden fast eine Stunde durch den stillen Spätnachmittag nebeneinander her. Als Kitiara schließlich wieder etwas sagte, war es jedoch, als wäre nur wenig Zeit vergangen.
»Du scheinst es selbst nicht sehr eilig zu haben, nach Solace zurückzukehren«, stellte sie fest. »Was ist mit deinem Zwergenfreund? Macht der sich keine Sorgen, wo du bist?«
Der Halbelf schüttelte den Kopf. »Flint weiß, daß ich in Qualinesti war, um meine Verwandten zu besuchen. Er weiß, daß ich komme, sobald ich kann.«
Kitiara langte nach oben, rupfte einem überhängenden Sycamorebaum ein Blatt ab und zerriß es langsam in kleine Stücke. »Verwandte? Deine Eltern?«
Tanis zögerte, bevor er antwortete. »Meine Mutter ist tot. Ich bin beim Bruder ihres Mannes aufgewachsen.«
»Ihres Mannes…« Kitiara sah Tanis verwirrt an. »Nicht bei deinem Vater?« Das paßte nicht recht mit dem zusammen, was er ihr bisher über sich erzählt hatte. »Aber du hast doch gesagt, du bist bei der Stimme der Sonne aufgewachsen.« Sie konnte nicht verbergen, wie sehr sie davon beeindruckt war. Jeder wußte, daß die Stimme der Sonne der Herrscher des Qualinesti-Volks war. »Hat denn der Bruder der Stimme eine Menschenfrau geheiratet? Ich dachte, es wären jahrhundertelang keine Menschen in Qualinesti gewesen?«
»Wenn überhaupt jemals«, meinte Tanis angespannt. »Meine Mutter war eine Elf in. Mein Vater war ein Mensch.«
Kitiara riß Obsidian an den Zügeln. Die wohlerzogene Stute blieb auf der Stelle stehen. »Also, jetzt versteh’ ich gar nichts mehr«, gab die Kämpferin zu. »Der Bruder der Stimme der Elfen ist ein Mensch?«
Tanis sah zur Seite. »Können wir nicht das Thema wechseln?«
»Gut.« Kitiara spornte Obsidian zu einem leichten Galopp an. »Deine Herkunft ist mir sowieso schnuppe, Halbelf.« Hochaufgerichtet ritt sie davon.
Reglos saß Tanis in Gedanken verloren auf Paladin, während Kitiara ohne einen Blick zurück davonritt. Als sie schließlich hinter einer Biegung zu verschwinden drohte, rief der Halbelf hinter ihr her. Sie wartete, bis der Wallach aufgeholt hatte.
Der Halbelf sah Kitiara nicht an. »Meine Mutter war mit dem Bruder der Stimme verheiratet – und der war natürlich ein Elf«, sagte er tonlos. »Eine Bande Menschen lauerte ihnen unterwegs auf – Schurken und Diebe. Den Mann meiner Mutter brachten sie um. Meine Mutter wurde von einem Menschen vergewaltigt; sie starb nach meiner Geburt. Die Stimme hat mich zusammen mit seinen eigenen Kindern erzogen.«
»Aha.« Kitiara hielt es für klüger, nichts zu sagen. Aber Tanis war noch nicht fertig. Er schien weitererzählen zu wollen, um es hinter sich zu bringen. Sein Kiefer war angespannt, die braunen Augen blickten hart, die Hände um die Zügel von Paladin waren an den Knöcheln weiß.
»Der Drahtzieher hinter dem Überfall war kein Mensch«, sagte er. »Es war der andere Bruder der Stimme.«
Kitiara riß die Augen auf. »Ich dachte, Elfen stünden über solchen Sachen«, murmelte sie. »Elfenehre und so.«
Tanis durchbohrte sie mit seinem Blick. »Das ist kein Witz, Kitiara. Ehre ist mir sehr wichtig. Meine Mutter und der Mann, der mein Vater hätte sein sollen, sind wegen einer Unehrenhaftigkeit ums Leben gekommen.« Er brach ab. Die Haut über seinen spitzen Wangenknochen schimmerte rot.
Kitiara nickte besänftigend. Bei sich aber dachte sie: Nein. Tanis würde ihr bei den Purpurjuwelen keine große Hilfe sein.
Das Dorf hatte so viel Charme wie abgestandenes Bier.
Tanis und Kitiara zügelten die Pferde. Der Ort bestand aus zwei kurzen Hauptstraßen und einigen blaßgrauen Häusern, von denen manche nur aus einem einzigen großen Raum mit Strohdach bestanden. Statt mit Glas besetzt, waren die Fenster mit eingefettetem Pergament bespannt. Ein Haus, das größer war als die anderen, stach heraus. Der Besitzer hatte ihm einen dunkelbraunen Anstrich verpaßt. Neben dem warmen Braun des großen Hauses wirkten die grauen Gebäude wie tot. Ein Lattenzaun und eine Doppelreihe hoher Stockrosen zogen sich um das Haus, und die strahlenden, rosaroten Blüten hellten den ansonsten trostlosen Ort auf. Die Gefährten sahen keine Einwohner.
Kitiara schnupperte und zeigte auf die offenstehende Vordertür des braunen Hauses. »Gewürze und Hefe«, sagte sie. »Riechst du’s auch?«
Tanis war abgestiegen und war bereits auf dem Weg zu dem Gebäude. »Vielleicht verkauft der Besitzer uns etwas Brot«, rief er zurück. Kitiaras leerer Magen knurrte zustimmend.
Kitiara blieb auf Obsidian sitzen, während Tanis auf die Veranda des braunen Hauses sprang, den Türklopfer betätigte, kurz abwartete und dann eintrat, obwohl er von drinnen keine Antwort gehört hatte. Das Dorf hatte keinen Mietstall, kein Gasthaus, wo ein Reisender einen Krug Bier trinken konnte, aber darin unterschied es sich nicht von Dutzenden anderer Dörfer, in denen Kitiara über die Jahre haltgemacht hatte. Irgendwer in solchen Orten war normalerweise bereit, Fremden gegen entsprechende Bezahlung etwas zu trinken anzubieten.
Doch dieser Ort hier wirkte verlassen. Türen und Fensterläden waren fest geschlossen. »Jemand zu Hause?« rief Kitiara. Obsidian, die die Belagerungen im Sturmangriff mitgemacht hatte, stand ruhig da. Ihr einziges Lebenszeichen war der zuckende, schwarze Schwanz, denn es wimmelte von Fliegen.
Schließlich quietschte eine Tür. »Was wollt ihr in Meddow?« erklang eine schneidende Frauenstimme durch den Türspalt. »Was macht dein Freund in Jarlburgs Laden? Wir haben viele Männer hier, alle mit Schwertern und Streitkolben bewaffnet. Wir können uns verteidigen. Verschwindet.«
Kitiara unterdrückte ein Lächeln. Ja, ja, sich verteidigen! Sie versteckten sich wie die Kaninchen. Die Kriegerin nahm den Helm ab. »Wir sind auf dem Weg nach Haven. Wir wollen nur etwas zu essen und zu trinken, weiter nichts. Und« – sie machte eine bedeutsame Pause – »ich kann bezahlen.«
Wieder eine Pause. Dann trat zögernd eine Frau mittleren Alters in bäuerlichem Rock, Tuch um die Schultern und Lederschuhen auf die Veranda der Hütte neben dem braunen Gebäude. In den Händen hielt sie eine große, hölzerne Häkelnadel mit einem grünen Faden, der anscheinend am Rückenteil eines Kinderpullovers hing. Ihre Hände standen keinen Augenblick still, sondern häkelten weiter. Die Spitze der Häkelnadel senkte und hob sich unablässig, wie ein emsiges Eichhörnchen. Kitiara verfolgte den handgesponnenen Faden bis in eine ausgebeulte Tasche vorne am Rock der Frau. Alle paar Schlingen zog die Bäuerin an dem Faden, so daß die Tasche zuckte und aus dem Knäuel darin eine neue Länge Garn abgespult wurde.
»Ich kann euch Wasser geben, aber zu essen habe ich nichts übrig«, sagte die Frau nervös. Ihr Blick wanderte immer wieder von Kitiara zum Boden der Veranda und zurück.
»Kein Brot?« fragte Kitiara. »Aber ich rieche doch die Hefe.«
»Wir haben… hatten…« Die Frau holte tief Luft und setzte neu an. »Jarlburg…« Ihr Mut verließ sie, und sie drückte die Häkelnadel an die zitternden Lippen, um dann damit auf die offene Tür des braunen Hauses zu zeigen. »Da.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Jarlburg ist auch tot. Ich weiß es einfach. Einer nach dem anderen von uns stirbt.«
»Auch tot?« wiederholte Kitiara, die Obsidian etwas zurückzog. »Wieso denn – eine Seuche?« Sie bekam eine Gänsehaut. Mit jedem lebenden Gegner nahm Kitiara es bereitwillig auf, aber eine Seuche? Keiner auf Krynn wußte, woher Krankheiten kamen, auch wenn manche Leute sagten, daß die Kleriker und Heiler der alten Götter vor der Umwälzung solche Krankheiten geheilt hätten. Heutzutage behaupteten die Sucher der neuen Religionen, daß die Kranken ihr Schicksal durch moralische Verfehlungen selbst verursacht hätten.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, keine Seuche. Die Menschen… verschwinden einfach. Ich glaube, sie gehen in den Sumpf.« Sie zeigte mit ihrer dünnen Hand, die auf einmal kaum noch die Nadel halten konnte, nach Osten.
»Irgendwelche Spuren eines Kampfes?« fragte Kitiara.
Die Bauersfrau schüttelte den Kopf. Jetzt schien sie überzeugt zu sein, daß die Fremden nicht zu jenen gehörten, die Meddow heimsuchten – wer auch immer das sein mochte. Sie wagte sich einen weiteren Schritt vor. Die Frau sah nicht auf ihre Handarbeit, doch sie sprach im Takt der hektischen Bewegungen ihrer hölzernen Häkelnadel.
»Morgens stehen die Türen offen, und sie sind fort«, sagte sie, den Tränen nahe. »Ich weiß einfach, daß sie alle tot sind – Berk, Duster, Braun, Johon, Maron und Keat bisher. Und jetzt Jarlburg! Es sind nur noch drei Männer übrig, ein halbes Dutzend Frauen und mehr als doppelt so viele Kinder. Was wird aus unseren Kindern, wenn es ihre Eltern alle erwischt hat?« Sie fing an zu weinen und wischte die Tränen mit dem Häkelwerk ab. »Ihr seid doch Soldaten. Könnt ihr uns nicht helfen, du und dein Freund?«
Kitiara überlegte. »Was könntet ihr bezahlen?«
Die Frau wich einen Schritt zurück. »Bezahlen?« bebte sie. »Wir haben kein Geld.«
»Dann tut’s mir leid«, erklärte Kitiara kurz angebunden. »Mein Begleiter und ich haben dringende Geschäfte in Solace. Wir dürfen uns nicht verspäten.« Sie wendete Obsidian zu Jarlburgs Laden hin. Die Frau hinter ihr brach wieder in Tränen aus.
»Warte!« Das war wieder die Frau. »Ich kann dir das hier geben.« Sie winkte Kitiara mit dem Pulloverteil. »Der ist bald fertig. Vielleicht hast du ja eine Tochter oder einen Sohn, dem es passen könnte?«
»Mögen die Götter es verhüten«, erwiderte Kitiara mit kurzem Lachen. »Das fehlte mir noch.« Wieder wehrte sie die Bäuerin ab. »Ich muß meinen Kameraden suchen, und dann müssen wir weiterziehen. Wir wollten noch vor Einbruch der Dunkelheit in Haven sein.«
Die Hände der Frau hielten inne und suchten die Schürze, in der sie sich festklammerten. Als Kitiara sich umdrehte, wich der flehende Ausdruck aus den Augen der Bäuerin. »Es gibt eine Abkürzung«, rief sie Kitiara zu. »Folgt dem Pfad hinter Jarlburgs Haus, und zwar nach Osten. Dann kommt ihr bald an die Gabelung beim Rosenquarzfels. Der linke Weg schlängelt sich zwar, führt aber nach Haven.«
»Und der rechte?« Als Kitiara auf Jarlburgs Veranda trat, sah sie sich noch einmal um.
»Der geht mitten in den Sumpf. Seid vorsichtig.«
Kitiara bedankte sich und betrat das braune Haus.
Die Bäuerin drehte sich wieder zu ihrer Hütte um. »Oder vielleicht ist es andersrum«, murmelte sie mit bösem Lächeln in sich hinein. »Vergeß ich immer.«Trotz der offenen Tür war es in der Bäckerei stickig. Kitiara rann der Schweiß den Rücken hinunter. Sie konnte den Duft von Zimt, Ingwer und Nelken riechen, dazu noch etwas Süßes wie Blütenblätter. Sie hörte Tanis hinten rumoren und trat in eine große Küche. Am einen Ende stand ein gemauerter Ofen, die Mitte des Raums wurde von einem dicken Holztisch beherrscht. Unter dem Tisch lagen eineinhalb Sack Weizenmehl.
Tanis stand an der Doppeltür in die Seitengasse. Die untere Hälfte war geschlossen, doch die obere war offen. »Von hier aus riecht man den Sumpf«, sagte er und fügte hinzu: »Es ist alles verlassen, aber offenbar hat jemand erst vor kurzem gebacken.«
»Irgend etwas Seltsames geht hier vor, und zwar immer nachts. Eine Bauersfrau hat es mir erzählt.« Kitiara berichtete, was die Frau gesagt hatte, ließ jedoch die vergebliche Bitte um Hilfe aus. »Wir sollten Proviant einpacken und verschwinden.« Ausgeblichene Mehlsäcke waren über einige Tabletts gelegt, von denen eines gleich neben Kitiaras Ellbogen in einem Regal stand. Kitiara hob die Abdeckung hoch und fand ein paar Küchlein mit Zuckerguß. Sie spießte eins mit ihrem Dolch auf und biß hinein.
»Mmmmmm«, sagte sie, noch bevor sie den Bissen geschluckt hatte. »Mit Marzipanfüllung. Du auch?«
Tanis suchte ein Geldstück – zweifellos Bezahlung für den Proviant – aus einem Beutel an seinem Gürtel. Er sah sich um und legte es dann auf einen zerkratzten Tresen. »Da wird es schon jemand finden. Wie kannst du eigentlich hier essen?« wollte er wissen. »Der Besitzer liegt wahrscheinlich tot da draußen im Sumpf.«
Mit drei Bissen hatte sie das Küchlein aufgegessen, leckte sich die Finger und nahm noch eins. »Wenn ich wegen so etwas jedesmal fasten würde, dann würde ich verhungern, Halbelf. Und halbverhungert bin ich als Kriegerin nicht zu gebrauchen.« Sie wischte sich die Hände an ihrem kurzen Lederrock ab. »Siehst du irgendwo Brot? Guck mal unter das Tuch an der Tür.«
Tanis regte sich nicht. Er sagte kein Wort.
»Empfindlich?« fauchte Kitiara. »Ich glaube kaum, daß es dem alten Jarlburg etwas ausmacht, wenn wir sein Lager ausräumen. Was hat er jetzt noch von den paar Keksen?«
Tanis sagte immer noch nichts. Kitiara schob ihren Dolch in die Scheide. Sie schüttete ein Tablett voll Brötchen auf ein Handtuch und knotete das Tuch zusammen. »Die können wir später gut gebrauchen«, meinte sie dazu.
»Interessiert es dich denn überhaupt nicht, was aus den Leuten geworden ist?« fragte Tanis.
Kitiara schüttelte den Kopf. »Solange nicht ich in Gefahr bin, ist mir das egal.« Tanis sah ihr mit undurchschaubarer Miene zu. »Was ist?« fragte sie verärgert.
»Ich versuche, etwas zu entscheiden«, sagte der Halbelf ruhig, der sich zu der Seitengasse umdrehte.
»Was?« fragte sie.
»Ob du ein Unmensch bist oder typisch menschlich.«
Tanis trat ins Freie und ließ Kitiara mitten in der Küche stehen. In der einen Hand hielt sie einen Laib Roggenbrot, in der anderen das Tuch mit den Brötchen.
Dieser verdammte Kerl. Mit seinem verdammt arroganten Elfenblut.
Tanis sprach kein Wort, als sie Meddow verließen. Kitiara zeigte auf die Abkürzung, von der sie erfahren hatte, und als sich der Weg nach einigen Minuten gabelte, wies sie wortlos auf den linken Pfad. Es wurde langsam dunkel, daher ließen sie die Pferde schneller gehen.
Bald wurde der Pfad matschig, und die Hufe der Pferde saugten sich so fest, daß es schmatzte, wenn sie sie aus dem nassen Untergrund zogen.
»Das kann nicht der richtige Weg sein«, meinte Tanis, der vorn ritt und sich nach Kitiara umsah.
»Die Frau hat gesagt, der linke Weg würde sich ein bißchen schlängeln«, schimpfte Kitiara. »Das ist schließlich der linke Weg, verdammt. Los jetzt. Es wird dunkel.«
Tanis nickte. »Dann will ich aber nicht den rechten Weg sehen«, murmelte er.
Während sie weiterritten, veränderte sich die Vegetation. Die Bäume krümmten sich unter graugrünen Moosgirlanden, die wie die Zöpfe einer ausgedörrten Leiche aussahen. Neben dem Pfad ragte schulterhoch sonderbares Gras auf, um dessen Spitzen Wolken winziger Insekten schwirrten. Kitiara berührte eins und zog mit einem Aufschrei die Hand zurück. »Es hat mich gebissen!«
Tanis zügelte Paladin und beugte sich hinüber, um ihre Hand zu untersuchen. »Die Fliege oder die Pflanze?« fragte er. Aus zwei Schnitten unten an ihrem Daumen quoll Blut. »Sieht aus wie von Zähnen«, überlegte er.
Kitiara brauste schon wieder auf. »Mach dich nicht lächerlich. Es gibt keine beißenden Pflanzen!«
Der Halbelf machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe schon von viel seltsameren Dingen gehört«, sagte er.
Sie riß ihre Hand zurück. »Du willst mir bloß angst machen, Halbelf. Los, weiter.« Sie trieb Obsidian an dem Fuchs vorbei nach vorn. Tanis folgte ihr langsam.
Der Pfad wurde schmaler. An beiden Seiten wuchs das rote Gras immer dichter, bis Tanis und Kitiara rechts und links kaum noch etwas sahen. Es war so eng, daß die Pferde nur hintereinander gehen konnten. Der modrige Geruch wurde stärker, das Summen der Insekten lauter. Einmal krabbelte genau vor Obsidian etwas Purpurrotes von der Größe eines Pferdehufs über den Weg und zog einen kleinen, flatternden Vogel mit sich. Die Stute scheute dermaßen, daß Kitiara das sich aufbäumende Pferd gerade noch halten konnte. Als Obsidian sich schließlich wieder beruhigt hatte, rief Kitiara nach hinten: »Beim schwärzesten Abgrund, was war das denn?«
»Moorspinne«, sagte Tanis nervös. »Giftig.«
Als der Abend anbrach, senkten sich Schwaden von Moskitos über die Reisenden. Tanis nahm eine Decke aus seiner Schlafrolle, die er über den Kopf zog, um die hungrigen Quälgeister abzuhalten. Kitiara folgte seinem Beispiel. »Komm nicht an das Gras«, warnte er. Kitiara antwortete mit einem Grunzen, hielt Obsidian jedoch in der Mitte des Wegs.
Plötzlich stieg Tanis ab, hob einen Stein auf und warf ihn in das rötliche Gras. Es gab ein Platschen. »Der linke Weg ging nach Haven?« fragte er.
Kitiara hielt an und sah sich um. »Hat sie gesagt.« Sie ließ den Blick schweifen. »Hat sie gesagt.«
Auf beiden Seiten wurden sie vom Gras bedrängt. Als es noch dunkler wurde, hörten sie weiter links etwas Großes ins Wasser springen. Fledermäuse erhoben sich und kreisten über ihnen, um Nachtinsekten zu jagen. Ein Summen wie von abertausend Mücken erfüllte den Sumpf.
»Hast du schon einmal im Sumpf gekämpft?« fragte Tanis leise. Ohne auf die Moskitos zu achten, ließ er die Decke vom Kopf rutschen und tastete nach seinem Schwert.
Kitiara schüttelte den Kopf. »Du?«
Tanis nickte. »Einmal. Mit Flint.«
Ohne sich darüber verständigt zu haben, blieben beide äußerlich gelassen. »Was gibt es denn hier?« fragte Kitiara.
»Schon mal von den Jarak-Sinn gehört?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Eine Rasse der Echsenmenschen. Ihr Gift ist tödlich«, sagte Tanis. Da ringsherum die Nacht anbrach, schien es passender, zu flüstern. »Und dann natürlich Oger; die gibt es überall«, fuhr er fort. »Und Watschler. Die sehen aus wie ein Haufen alter Blätter – bis sie sich aufbäumen und dich verschlingen. Sumpfkrokodile, gegen die hab’ ich mit Flint gekämpft. Am Schwanzende haben sie einen Giftstachel. Sie versuchen dich zu lähmen und ziehen dich dann ins Wasser, damit du ertrinkst.« Er erwähnte nicht, daß der reizbare Zwerg bei einer solchen Begegnung fast ums Leben gekommen wäre. Er hatte nur überlebt, weil reichlich Qualinesti-Kräuter die Wirkung des Giftes aufgehoben hatten.
Kitiara warf die Decke ab und zog ihr Schwert. Tanis hatte seins bereits in der Hand.
»Wir sind also im Sumpf. Sollen wir umkehren oder weiterreiten?« fragte die Kämpferin.
Tanis betrachtete das rote Gras. »Auf diesem engen Pfad könnten wir die Pferde noch nicht einmal wenden. Also vorwärts, aber paß auf, Kit.«
Sie ritten langsamer weiter und lauschten auf jedes neue Platschen und Gurgeln aus dem Sumpf. Der Gestank verfaulender Pflanzen und Tiere wurde schlimmer. Solinari war aufgegangen und tauchte die Reisenden in platinweißes Mondlicht.
Dann sah es auf einmal so aus, als würden zwei Silbermonde am Himmel stehen. Kitiara deutete darauf und rief: »Sieh nur, Halbelf! Ein Licht! Das ist endlich Haven!« Ohne auf den Schreckensschrei von Tanis zu achten, trat sie Obsidian in die Seiten und trabte zuversichtlich vorwärts. Der Halbelf mußte Paladin wohl oder übel zum Galopp zwingen.
»Kitiara, warte!« schrie er. »Das ist ein Irrlicht!« Die Kämpferin ritt weiter, als ob sie ihn nicht gehört hätte.
Der Pfad wurde breiter und führte rechts an einem schwarzen Teich vorbei. Über ihnen schien Solinari, der einen außerirdischen Glanz auf die Moosfäden in den Bäumen warf, die die Gefährten streiften. Tanis holte Kitiara endlich ein und griff schnell nach Obsidians Zügeln. Die Kriegerin drehte sich zu ihm um. Einen Augenblick lang war sie ganz verwirrt. Dann wurde ihr Blick wieder klar. »Ein Irrlicht?« fragte sie.
Der zweite Kreis hing tiefer, hinter dem Teich. Er hatte etwa zwei Ellen Durchmesser. Seine pulsierenden Farben veränderten sich von Weiß zu Blaßgrün, dann zu Violett und schließlich zu Blau.
»Ein Irrlicht ist schlau«, erklärte Tanis, der sein Schwert immer noch bereit hielt. »Es lockt seine Opfer, indem es sich als Laterne tarnt, und bringt die Leute durcheinander, bis sie im Treibsand landen.«
»Treibsand?« Kitiara sah sich um.
Tanis zeigte auf den schwarzen Teich vor ihnen. »Treibsand.«
Ihre Stimme klang gedämpft. Sie warf der glitzernden, wabernden Kugel einen Blick zu. »Wird es uns angreifen?«
»Vielleicht. Es darf dich auf keinen Fall berühren. Das könnte dich auf der Stelle umbringen.«
Kitiara stieg ab. In der rechten Hand hielt sie ihr Schwert, in der Linken den Dolch. »Das muß das Wesen sein, das Jarlburg und die anderen getötet hat«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist es bei Meddow an den Rand des Sumpfs gekommen und hat sie hineingelockt.« Tanis nickte zustimmend. »Wovon lebt ein Irrlicht?« erkundigte sich die Kämpferin.
»Von Angst.«
Kitiaras Blick verriet, daß sie dachte, Tanis würde sich über sie lustig machen, doch der Halbelf fuhr fort: »Ich habe gehört, daß von einer ängstlichen Person eine Aura ausgeht. Manche Wesen können das spüren. Anstatt seine Opfer gleich zu töten – zum Beispiel indem es sie streift –, bevorzugt das Irrlicht einen langsamen Tod, weil es ihre Angst als Nahrungsvorrat speichern kann.«
In diesem Augenblick wurde die pulsierende Kugel langsam, aber stetig heller, bis der Halbelf und die Kämpferin in dem Lichtschein sehen konnten, was um den schwarzen Treibsand verstreut lag. In dem unheimlichen Glühen sahen sie Schädel. Schwerter und Geldbeutel. Kitiara zeigte darauf: »Ein Schatz?«
»Das haben bestimmt die Opfer dem Irrlicht hingeworfen, um sich freizukaufen«, sagte Tanis.
Die tieferhängenden Zweige der Bäume über dem Teich hatten keine Blätter mehr. Offensichtlich hatten verzweifelte Hände sich an alles geklammert, was dem Sog des schwarzen Sandes vielleicht widerstehen konnte.
Kitiaras Gesicht glänzte vor Schweiß – das von Tanis zweifellos auch, wie der Halbelf plötzlich feststellte. Das Irrlicht wurde noch heller, und seine Farbe änderte sich immer schneller. »Kit«, sagte er, »es frißt unsere Angst! Denk an etwas anderes.«
Sie machte die Augen zu. »Solace.«
»Das ist gut«, sagte Tanis beruhigend. »Die Vallenholzbäume… stell sie dir vor.«
»Überall, wo ich hinkam«, sagte sie, »haben mich die Leute gefragt, wie es denn ist, wenn man in Häusern in den großen Vallenholzbäumen von Solace wohnt.«
»Mit den Hängebrücken von Baum zu Baum.«
»Wenn man wollte, brauchte man sein ganzes Leben nicht den Fuß auf die Erde zu setzen.«
»Nicht gerade ein Leben für einen Zwerg«, stellte Tanis fest. »Flint Feuerschmied hat eines der wenigen Häuser auf dem Erdboden. Er steigt selten hoch – außer zu Otiks Gasthaus.«
Das Licht wurde schwächer, dann heller, dann wieder schwächer.
Dann war es finster.
Plötzlich war die einzige Lichtquelle der blasse Schein von Solinari. Tanis sprang vom Pferd und warf seinen Bogen über die Schulter. »Es greift an!« Er schlug den Wallach auf die Flanke, während Kitiara bei Obsidian dasselbe tat. Die zwei Pferde galoppierten nach beiden Richtungen auseinander. Der Halbelf und die Söldnerin stellten sich Rücken an Rücken und warteten. Tanis hörte, wie Kitiara vor sich hinwisperte: »Solace, Solace.«
»Vallenholzbäume«, gab er zurück. »Denk an die Vallenholzbäume.«
Dann explodierte die Nacht um sie herum. Es wurde so hell, daß der Halbelf für einen Moment geblendet war. Als er wieder sehen konnte, sah er einen blauen Feuerball auf sie zurasen. Er packte Kitiara am Arm, riß sie herunter, und das Wesen jagte wie ein Komet über ihre Köpfe, wobei es eine blaßgrüne Farbe annahm. Tanis’ Haarspitzen knisterten, als das Irrlicht vorbeisauste. Kitiara fluchte.
»Mennnn-schennnnn!« Die geisterhafte Stimme schien überall zugleich zu sein, ebbte ab, wurde stärker und drang in jede Pore ihrer Körper ein. Das Irrlicht war an seinen Platz zurückgekehrt und schillerte, und mit jedem Atemzug von Tanis und Kitiara änderten sich seine wirbelnden Farben.
»Bei Takhisis!« stieß Kitiara aus. »Du hast mir nicht gesagt, daß das Ding spricht!«
»Wußte ich selber nicht.«
»Iiiihr könnnnt niiicht eeentkommmmeeennn, Mennn-schennn.« Das Irrlicht flackerte erst grün, dann blau, dann violett, dann gleißend weiß.
Tanis schluckte und umklammerte sein Schwert fester. »Es vibriert schneller. Wahrscheinlich spricht es auf die Weise.«
»Ich werrrdeee… euuuch laaangsaaam… tööötennn.«
Kitiara flüsterte: »Wie können wir es erledigen?«
»Man kann es mit dem Schwert töten, aber es darf uns nicht berühren.«
Das Wesen kam näher. »Iiiihr werrrdet groooßeee Schmer-zennn habennnn, Mennn-schennnn.«
Tanis und Kitiara hielten ihre Schwerter ausgestreckt vor sich. Beide hatten auch den Dolch in der Hand.
»Könnte ein Pfeil es töten?«
Tanis nickte.
»Dennnkt an eure Aaaangst, Menschennn. Denkt an eurrren Toood.«
»Du bist der Bogenschütze, Halbelf«, sagte Kitiara. »Meine Waffe ist das Schwert. Ich gebe dir Deckung.«
»Iiiihr weerdet… naaach Lufffft ringen, Mennn-schennn. Iiiihr weerdet schreeecklicheee Aaangst haaabennn.« Das Ding schwebte noch näher. »Halllb-Elfff. Ich glauuube, duuu stiiirbst zueeerst.«
»Es will dich einschüchtern, Tanis. Denk dran, Kitiara Uth Matar hält dir den Rücken frei.«
Tanis flüsterte: »Lenk es ab. Wenn ich schieße, schmeißt du dich hin.«
Kitiara schwieg und verharrte einen Augenblick. Dann sprang sie auf das Irrlicht zu. Sie trat in den nassen Torf.
»Na gut, du Mistvieh«, fauchte sie. »Jaaaaaa?« Das Wort wurde von den Moosflechten zurückgeworfen und hallte über den Treibsand. Aus den Augenwinkeln sah Tanis, wie eine Moorspinne auf den plattgetretenen Torf krabbelte.
Kitiara sagte hochmütig: »Wir haben keine Angst vor dir, du Mistvieh!«
Eine Art lispelndes Gelächter brach über sie herein. »Dassss glauuub’ ichhh kauuummm. Ichhh schmmmeckeee euuure Fuuurchttt sssehr geeenauuu. Ichhh weeerdeee euuurennn Toood geniiiessenn.«
In diesem Augenblick zog Tanis einen Pfeil aus dem Köcher und bückte sich gleichzeitig nach seinem Bogen. Er wälzte sich von Kitiara und dem Irrlicht fort, wobei er die Spinne ins Gras zurückstieß. Dann legte er den Pfeil auf und schoß. Kitiara war bereits mit ausgestrecktem Schwert auf ein Knie heruntergegangen. Ihr Dolch wirbelte durch die Luft.
Der Pfeil sauste durch die Nacht und traf den Rand des pulsierenden Lichtballs. Das Ding verschwand mit einer kleinen, weißen Explosion.
Dann war es still.
Und weiter Stille. Tanis und Kitiara sahen einander an. »Das war’s?« fragte Kitiara ungläubig.
»Ich weiß nicht«, sagte der Halbelf und stand auf. »Ich habe noch nie gegen eins gekämpft.« Er legte einen neuen Pfeil auf und ging auf Kitiara zu. Sie blieb in Kampfstellung. Ihr Blick ging von einer Seite zur anderen.
Plötzlich erschütterte eine neue Explosion die Lichtung. Purpurrote, blaue und grüne Blitze zuckten durch das Gras. »Halllb-Elfff!«
Obwohl er genau neben dem Treibsand stand, fuhr Tanis herum, um der neuen Gefahr zu begegnen, und schoß einen weiteren Pfeil ab. Der Schuß ging weit daneben, und das Irrlicht senkte sich über ihm, wobei es tiefblaue Lichtblitze durch die Luft zucken ließ. Tanis hörte Kitiara rufen: »Es darf dich nicht berühren!«, dann sprang er zur Seite. Das Ding sauste vorbei, als er sich hinwarf.
In dem Moment, als sein Körper die kalte, schwarze Oberfläche des Treibsands berührte, wußte der Halbelf, daß er genau das getan hatte, was das Irrlicht wollte. Er begann in dem klebrigen Schlamm zu strampeln, bis ihm klar wurde, daß sein Kampf ihn nur tiefer in dem tödlichen Sand versinken ließ. Schon jetzt war er bis zum Bauch eingetaucht und konnte den Rand der Grube nicht mehr erreichen.
Kitiara stieß einen Schlachtruf aus, und Tanis sah, wie sie das Irrlicht angriff. Wieder strampelte er, sank dadurch jedoch nur noch tiefer ein.
Er ergab sich vorläufig. Über ihm und rechts von ihm tobte der Kampf. Das Irrlicht, das grüne und purpurrote Funken aussandte, griff an und wich zurück, weil es offenbar hoffte, Kitiara so in den Treibsand zu drängen, aber die Kämpferin machte nicht mit. Sie blieb auf dem Weg zwischen den verstreuten Knochen, den Waffen und Geldbeuteln. Tanis feuerte sie an. Kitiara lächelte grimmig und kämpfte weiter.
Der Halbelf nahm über sich vor der Scheibe von Solinari einen Ast wahr. Wenn er ihn erreichen konnte… Tanis streckte sich. Seine Finger streiften ein paar Zweige. Er versuchte nicht an frühere Opfer zu denken, die sich hier auch eine Rettung erhofft hatten. Wieder streckte er sich. Seine rechte Hand umklammerte einen Zweig und zog, doch der Zweig brach in seiner Hand ab. Mit der Linken konnte er einen etwas dickeren Zweig packen; er hielt.
Schließlich hing Tanis mit beiden Armen an einem daumendicken Ast, der sein Versinken zwar nicht aufhielt, aber doch verlangsamte. Damit hatte er vielleicht genug Zeit gewonnen. Dickere Äste, die sogar noch Blätter hatten, hingen einen Fuß über dem dünnen, aber diese kurze Entfernung war so unüberwindlich wie eine Meile.
Das Irrlicht kämpfte zäh weiter. Die Söldnerin wehrte sich mit Dolch und Schwert, stach und schlug und narrte den durch die Luft hüpfenden Lichtball. »Komm schon, du armseliges Glühwürmchen!« höhnte sie. »Da hab’ ich doch von Stahl und Stein schon größere Funken gesehen!«
»Bei den Göttern«, flüsterte Tanis erstaunt, »sie hat keine Angst!«
Das Irrlicht glühte bei Kitiaras Spott auf. Als das Glühen nachließ, war das Wesen kleiner geworden. Tanis wurde klar, was Kitiara ausprobierte. Wenn das Irrlicht von Furcht lebte, konnte man es vielleicht schwächen, indem man keine Angst zeigte. Während Kitiara also spottete, hangelte sich Tanis an dem Ast ein Stück weiter.
Seine linke Hand streifte etwas Pelziges.
Tanis sah hoch, und ihm stockte der Atem. Genau neben seiner Hand hockte eine mehr als faustgroße, giftige Moorspinne auf dem Ast. Er versuchte sein Gewicht nach rechts zu verlagern. Die Bewegung zog ihn eine Handbreit tiefer in den Treibsand, und das purpurrote Tier folgte ihm den Ast entlang.
»Kit!« rief er.
Die Kämpferin sah zu ihm hin, schnitt eine Grimasse und setzte ihre Angriffe gegen das Irrlicht mit doppelter Wucht fort. Aber das Luftwesen wich aus und blieb genau über dem Ast stehen, an dem der Halbelf hing.
»Deine Angst läßt das Irrlicht wachsen, Tanis!« schrie Kitiara. »Gib ihm nichts mehr!«
Die purpurrote Spinne streckte ein Bein vor und streichelte Tanis’ kleinen Finger. »Vallenholzbäume«, murmelte der Halbelf vor sich hin.
»Solace«, ergänzte Kitiara. »Hängebrücken, Gewürzkartoffeln und Bier im Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹.«
Das Irrlicht schwebte nach unten. Die Giftspinne setzte ein Bein, dann noch eins auf Tanis’ Hand. Die winzigen Klauen am Ende der Beine pieksten die Hand des Halbelfen. Er wagte keine Bewegung, versuchte, nicht an die Giftdrüsen der Spinne zu denken, doch die Farbe des Irrlichts wurde kräftiger und glühte auf.
»Flint Feuerschmied«, stammelte Tanis verzweifelt. »Gewürzkartoffeln.«
Kitiara faßte ihren Dolch jetzt an der Klinge. Nur einen Fuß über Tanis hielt das Irrlicht still, es konzentrierte sich offenbar auf den Halbelfen. Kitiara blinzelte, zielte und warf dann mit einer schnellen Bewegung den Dolch. »Tanis! Laß los!« schrie sie gleichzeitig. Gefolgt von der Spinne plumpste Tanis in den Treibsand.
Kitiaras Dolch zischte genau durch die Stelle, wo Tanis gehangen hatte, und mitten in das Irrlicht hinein.
Die Luft zitterte von der Wucht der Explosion. Diesmal war das Wesen endgültig verschwunden.