16 Die Staubebenen

»Xanthar, wo sind wir?« Als der Riesenvogel nicht antwortete, beugte sich Tanis über den vorderen Rand des Flügels und rief seine Frage noch einmal.

Die Eule drehte sich erschrocken um. Die Federn um Xanthars Augen waren völlig verklebt. Seine Nachtaugen hatten die ganze Woche, die sie jetzt schon gen Süden flogen, getränt.

Die beiden hatten das Kharolisgebirge längst hinter sich gelassen. Am Vortag hatten sie eine endlose Einöde erreicht, wo es über weite Strecken nichts als nackte Steine gab. Aber jetzt glitzerte tief unter der Eule und dem Halbelfen weizenheller Sand, der vor Hitze in der prallen Sonne zu verschwimmen schien. Der Wind ließ offenbar niemals nach. Gelegentlich erhoben sich tanzende Staubsäulen, die dann unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrachen.

Wir sind…

Tanis wartete, aber der Vogel redete nicht weiter. »Wo sind wir?« schrie er schließlich noch einmal.

Im Süden. Weit im Süden. Über den Staubebenen, westlich von Tarsis oder vielleicht südwestlich von Tarsis. Ich weiß es nicht genau, Kai-lid.

»Ich bin Tanis.«

Ah. Natürlich. Tanthalas. Der Halbelf.

Tanis ließ seinen Blick über das Gelände wandern. Sand und Staub erstreckten sich bis zum Horizont.

»Was war diese Wüste früher mal?« wollte Tanis wissen.

Ein Ozean, glaube ich – bis die Umwälzung das Antlitz der Welt verändert hat. Als die Götter Krynn bestraften, wurden einige Teile von Ansalon überflutet. Hier ist die See trockengefallen und hat nur Sand zurückgelassen. Sagte jedenfalls mein Großvater.

Und wo war Caven? Anfangs hatte der Halbelf den Reiter gelegentlich ausmachen können, der Malefiz genauso unbarmherzig anzutreiben schien, wie Xanthar sich selbst forderte. Aber seit zwei Tagen hatte Tanis nichts mehr von Caven Mackid gesehen.

Nach all den Meilen hoch über der Erde, in denen er nur mit dem notdürftigen Lederharnisch an der Eule festhing, hatte Tanis seine Flugangst überwunden. Xanthar war ein ausdauernder Flieger. Seitdem sie den Düsterwald verlassen hatten, hatte die Eule nur kurze Pausen eingelegt, in denen der Halbelf Hasen oder Rebhühner gebraten, seinen Wasservorrat aufgefüllt und seine Notdurft verrichtet hatte. Tanis konnte beim Fliegen auf Xanthars Rücken schlafen, aber so weit der Halbelf das beurteilen konnte, schlief die Rieseneule nur während der kurzen Rastpausen am Boden.

Kai-lid.

»Ich bin Tanis«, wiederholte der Halbelf.

Benommen schüttelte die Eule den Kopf. Sie machte die Augen so weit wie möglich auf, und als sie den Kopf drehte, konnte Tanis sehen, daß die Iris ihrer Augen eine matte, dumpfbraune Farbe angenommen hatte. Die Pupillen reagierten nicht mehr auf den Wechsel von Licht und Schatten.

»Xanthar, wie geht es deinen Augen?«

Manchmal wird das Licht trüb. Das geht aber vorbei. Ich bin so helles Tageslicht nicht gewöhnt. Wieder quoll ein dicker, gelber Tropfen aus dem Auge des Vogels.

»Wir sollten anhalten, damit du dich ausruhen kannst.«

Nein.

»Wir sollten auf Caven warten.«

Caven wird den Weg finden. Meine Verwandten haben ihn bis ans südlichste Ende des Düsterwalds begleitet. Danach konnte er sich nach der Sonne und den Sternen richten. Er weiß, daß er genau nach Süden muß, soweit diese Wanderdünen das zulassen.

»Kannst du ihn mit deinen Gedanken erreichen?«

Er ist zu weit weg und beherrscht die Telepathie nicht. Ich kann nicht einmal Kai-lid erreichen, obwohl sie gut ausgebildet ist – von einem Meister.

»Glaubst du, ihr und Kitiara geht es gut?« Die Eule antwortete nicht, doch ihre Muskeln spannten sich an. »Xanthar?«

Da links. Siehst du etwas? Ich spüre eine Veränderung, aber ich kann nicht so weit sehen.

Tanis blickte in die angegebene Richtung. »Das ist nur eine kleine Wolke, Xanthar.«

Nein. Mehr als das.

»Was denn? Magie?«

Keine Magie. Ein Sturm. Wir müssen Schutz suchen.

»Aber…« Dem Halbelf verschlug es die Sprache, als Xanthar ohne Vorwarnung die Flügel anlegte und auf die Erde zuschoß.

Jetzt mußt du meine Augen ersetzen, Halbelf. Tanis merkte, wie er auf der nach unten rasenden Eule zurückrutschte. Als er das Ende des Harnischs erreicht hatte, flog sein Kopf von der Wucht des Sturzflugs nach hinten. »Xanthar! Wieder hoch!« Augenblicklich ging die Eule in Gleitflug – nur wenige Fuß über dem Boden – und flog im Zickzack über das Gelände.

Such Schutz für uns.

Hier unten konnte man mehr erkennen. Dieser Teil der Ebene bestand, aus der Nähe betrachtet, aus Sand und bizarren, feuerfarbenen Sandsteinformationen, in die Tiere ihre Höhlen gegraben hatten. Die Höhlen waren jedoch zu schmal, um einen Halbelfen und eine fast doppelt so große Eule aufzunehmen.

Such weiter.

Tanis hinterfragte die Weisheit des Vogels nicht mehr, denn die kleine Wolke blähte sich zu einer dunkelblauen bis erbsengrünen Decke aus. Darin zuckten Blitze, während die Wolke auf sie zuraste. Unter der Wolkenbank hing ein Vorhang aus peitschendem, vanillefarbenem Sand. Tanis zog ein Tuch aus dem Gepäck auf dem Rücken des Vogels und band es sich vor Mund und Nase. Der erste Windstoß voll Staub traf sie von der Seite. Die Körner stachen wie Nadeln. Xanthar konnte sich nur mühsam in der Luft halten. Mehr als einmal streiften seine Flügelspitzen den Boden, worauf der Halbelf erst nach einer Seite, dann nach der anderen kippte. Tanis blinzelte in die Staubwolke. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Xanthar hatte seine Augen fest geschlossen, doch er flog tapfer weiter.

»Da!« Der Halbelf warf sich mit beiden Händen nach vorn, umfaßte die Seiten von Xanthars Kopf und wies ihm den Weg zu einer Höhle, die jetzt nicht mehr zu sehen war, dann aber wie ein Schatten durch den tobenden Sandsturm wieder auftauchte und abermals verschwand. »Schau!«

Wo? Ich sehe nichts…

Genau vor ihnen öffnete sich die Höhle. Tanis warf sich auf die Federn des Vogels und machte die Augen zu. Er fühlte, wie der Vogel aus dem blendenden Sandsturm in kühle, stille Dunkelheit kam. Nach einigem Schlittern prallte der Vogel gegen eine Wand. Tanis machte den Harnisch los und rutschte von Xanthars Rücken. Er sah sich um, um mit seinen Elfenaugen in der Dunkelheit nach Wärme zu suchen. Die Höhle schien nichts Lebendiges außer dem Halbelfen und der Eule zu beherbergen.

Draußen tobte der Sturm, und das stundenlang. Xanthar lief rastlos auf und ab. Als die Stimme der Eule schließlich in die Gedanken des Halbelfen eindrang, wurde der Grund für ihre Nervosität klar.

Ich muß Hilfe holen, Kai-lid. Tanis widersprach der Eule nicht. Ich dachte, meine Kraft würde ausreichen, aber du hattest recht, Kai-lid. Ich hätte nicht so weit fortgehen dürfen.

»Ausreichen?«

Die Stimme des Halbelfen schien die Eule in die Wirklichkeit zurückzureißen. Gegen Kai-lids Feinde, Tanis. Aber meine Kräfte nehmen rapide ab. Du wirst Hilfe brauchen, und der Kerner wird nicht reichen. Vielleicht ist er sogar schon verloren.

»Kitiara wird helfen. Und Lida – Kai-lid.«

Und wenn sie tot sind?

Tanis lehnte sich zu der Eule hinüber. Sanft legte er dem Vogel die Hand auf den Flügel. »Du hast gesagt, du würdest es wissen, wenn die Zauberin tot ist.«

Ich bin mir in nichts mehr sicher. Vielleicht habe ich meine Fähigkeiten überschätzt. Demut war noch nie meine Stärke. Ich fürchte…

»Was?«

Nichts. Alles. Ich muß Hilfe holen.

»Wen?«

Der Riesenvogel antwortete nicht. Xanthars Füße kratzten über den Sandstein, als er von dem Halbelfen fortwatschelte. Der Vogel atmete rasselnd. Tanis spürte das Kitzeln in seinem Kopf, das er auch schon bemerkt hatte, wenn der Vogel telepathisch nur mit Lida sprach. Irgendwann wurde die Eule still, und Tanis stellte fest, daß Xanthar eingeschlafen war. Der Halbelf zog sein Schwert aus dem Gepäck und hielt Wache. Die Höhle war zwar unbewohnt, aber es konnte sein, daß ein früherer Bewohner zurückkehrte. Tanis öffnete Kitiaras Sack und schlug den falschen Boden auf. Die Eisjuwelen strahlten in einem kalten, violetten Licht, das einen gewissen Trost spendete. Schließlich ließ der Sturm nach. Es war die Stille, nicht Tanis, welche die Rieseneule weckte. Es ist vorbei. »Ja.«

Die Eule schlurfte auf den Eingang der Höhle zu. Jetzt rutschten Sand und Staub über den Hang in ihr Versteck hinein.

Wir müssen jetzt aufbrechen. »Was ist mit Caven?«

Er hat gewußt, daß es eine gefährliche Reise wird. Er hätte eins meiner Kinder reiten können, aber er wollte ja bei seinem Pferd bleiben. Wir müssen weiter. Wir haben Zeit verloren.

»Vielleicht hat sich Caven auf der Ebene verirrt. Ich finde, wir sollten nicht ohne ihn weiterziehen.«

Xanthar seufzte. Du hast eine merkwürdig großzügige Einstellung gegenüber deinem Rivalen um Kitiaras Gefühle. Ich vermute, das macht deine elfische Erziehung; jedenfalls stammt solche Nächstenliebe nicht von deiner menschlichen Seite.

Die beiden brauchten eine halbe Stunde, bis sie sich aus der Höhle ausgegraben hatten. Sobald sie etwas Sand fortgeschoben hatten, rutschte neuer nach. Der Sand hatte eine Vielzahl von Farben: Braun natürlich, aber auch Grün und Rosa und Grau. Unter anderen Umständen wäre er schön gewesen. Aber jetzt drang der Staub und Schmutz Tanis in Mund und Nase und nahm ihm die Sicht. Der Halbelf und die Rieseneule husteten und niesten, als sie schließlich ans Tageslicht krochen.

Caven und sein Pferdchen liegen vielleicht tot und begraben unter Tonnen von diesem Zeug. Mehr wissen wir nicht. Wir sollten weiterziehen. Um Kai-lids willen. Und für Kitiara.

Wieder schüttelte Tanis den Kopf. Der Vogel blinzelte ihn an. Als er sprach, klang er mehr wie der alte Xanthar. Interessante Situation. Ohne dich bin ich im Eisreich für Kai-lid praktisch nutzlos, und du kommst ohne mich in diesem Ozean aus Staub nicht vorwärts. Wir könnten die Sache noch stundenlang diskutieren und viel Zeit verschwenden. Tanis senkte den Blick nicht. Na schön, wir suchen den Esel.

Der Himmel war genauso blau und wolkenlos wie bei ihrer Ankunft über den Staubebenen. Tanis kletterte auf Xanthars Rücken, und sie brachen auf, um nach Norden zurückzufliegen. Schon nach einer Stunde zeigte Tanis mit einem Ausruf nach vorn. Am Horizont krabbelte inmitten des Sandmeers etwas Schwarzes, das aus ihrer Höhe wie ein Käfer aussah. In wenigen Augenblicken waren sie neben der kämpfenden Gestalt gelandet.

Es war Malefiz, den sie entdeckt hatten. Caven klammerte sich auf dem Rücken des Pferdes fest. Das Tier, dessen Fell von Schweiß- und Schaumstreifen durchzogen war, bockte wild, weil es durch den fließenden Sand unter seinen Hufen in Panik geriet. Caven war heiser vom Schreien. Seine Hände waren von den Zügeln blutig gerissen, sein Gesicht von Erschöpfung gezeichnet. Mann und Pferd waren gleichermaßen schmutzverkrustet.

Tanis langte nach Malefiz’ Zaumzeug, kämpfte einen Moment mit dem Tier, konnte es dann aber beruhigen. Kurz darauf streichelte er dem Hengst schon die Nüstern. Das Pferd atmete immer noch stoßweise, hielt jedoch still. Caven rutschte von seinem Tier in den Sand. Seine Beine wollten versagen, doch Tanis’ Hand wehrte er verärgert ab. »Mir geht’s gut, verdammt.«

Xanthar kicherte spöttisch. Ja, natürlich. Menschen!

Caven funkelte den Vogel an. »Ich sehe, dein Freund, der Piepmatz, redet immer noch, Halbelf.« Mensch und Vogel wechselten böse Blicke.

»Wo hast du den Sturm abgewartet?« fragte Tanis.

Caven kam auf die Beine, klopfte sich die Kleider ab und strich mit der Hand durch seinen Bart. Sand rieselte wie Schnee an ihm herunter. »Wir haben da hinten eine Felsnase gefunden.« Er zeigte nach Norden. »Ich dachte, auf der windabgewandten Seite wären wir geschützt.«

Xanthar schnaubte, was aus seinem Schnabel komisch klang. Caven fauchte die Eule an: »Na schön, du überdimensionaler Wellensittich, ich war naiv. Ich habe nicht gewußt, daß es in einem solchen Wirbelsturm keine windabgewandte Seite gibt.« Caven kniff die Augen zusammen. Dann drehte er sich wieder zu Tanis um. »Ich habe unsere Köpfe verhüllt, damit wir atmen konnten. Aber was für eine Wucht dieser Sandsturm hatte! Bei den Göttern! Ich begreife, warum in dieser verfluchten Gegend alles zu nichts zermahlen ist. So wäre es uns auch ergangen, wenn der Sturm noch etwas länger gedauert hätte.«

Tanis sah, daß Cavens Handrücken genauso aufgerissen waren wie seine Handflächen. Aus den Wunden sickerte Blut. Cavens Blick folgte dem von Tanis. »Ich mußte Malefiz festhalten. Meine Hände waren dem Sturm ausgesetzt.« Der Blick des Halbelfen ging zu dem Pferd zurück, dem der prasselnde Sand an einigen Stellen die Haare von der Haut gerieben hatte. »Die Frage ist«, stellte Caven fest, »was machen wir jetzt?«

Laß das Pony zurück. Ich trage euch beide.

»Das kannst du nicht«, sagte Tanis zu Xanthar. »Du wirst selbst mit nur einem Passagier immer schwächer, und du verlierst dein Augenlicht. Du hättest nicht einmal im Vollbesitz deiner Kräfte zwei Männer tragen können. Jetzt kannst du es ganz sicher nicht.«

Ich kann, wenn ich muß. Der Vogel richtete sich zu voller Größe auf, so daß er beide Männer überragte. Aufsteigen, alle beide.

Man konnte Xanthar absolut nicht davon abbringen. Sie hatten kaum eine andere Wahl. Tanis kletterte hinauf, doch Caven Mackid blieb störrisch neben ihnen stehen. Er hielt sein Pferd am Zügel. »Ich lasse Malefiz nicht zurück«, beharrte er.

»Der Hengst kann selbst aus der Ebene herausfinden«, sagte Tanis. »Wir haben genug Zeit verloren.« Als Caven unnachgiebig blieb, ergänzte Tanis: »Was ist dir wichtiger, Mackid, das Pferd oder Kitiara und die Zauberin?«

Ganz abgesehen von den Schrecken, die der Valdan über Ansalon entfesseln wird, wenn man ihn nicht aufhält.

Caven sah die beiden finster an. »Im Gegensatz zu Kitiara hat Malefiz mir nie meine Ersparnisse gestohlen, Halbelf. Und dieser Lida schulde ich schon gar nichts. Außerdem, Eule, wer sagt denn, daß wir den Zauberer und den Valdan wirklich aufhalten können, wenn es soweit ist?« Das Omen…

Caven schnaubte. »Ein verschleierter Traum. Der zudem noch im Düsterwald geträumt wurde. Und aus diesem armseligen Grund sollen wir unser Leben riskieren?«

»Wir ziehen weiter«, sagte Tanis müde. »Kommst du mit uns, oder willst du hierbleiben und mit deinem Pferd verrecken?«

Sie starrten einander an. Schließlich senkte der Kerner den Blick. »Ich reite nicht auf der Eule.«

»Dann bleib hier. Vielleicht trägt dich der Sand wie ein fliegender Teppich.«

Tanis nickte Xanthar zu. Die Rieseneule schwang sich wieder in die Lüfte. Als sie hoch über dem Kerner waren, sah der Halbelf schließlich wieder nach unten. Caven hatte den Hengst wieder bestiegen und trieb ihn durch den Sand. Malefiz kämpfte mit dem trügerischen Grund. »Hören die Wunder denn niemals auf?« murmelte Tanis der Rieseneule zu. »Caven reitet nach Süden. Will der Dummkopf immer noch ins Eisreich?«

Die Sonne schien warm auf seine rechte Wange. Weit vor ihnen konnte Tanis etwas sehen, das wie der Rand der Sandwüste aussah. Der Sand glitzerte.

Da plötzlich fiel Tanis ein Gnom aus Haven namens Schwätzer Sonnenrad ein, der einen strahlenden, purpurfarbenen Juwel benutzt hatte. Er schlug Xanthar mit der Hand auf die Schulter, was der müden Eule einen Protestlaut entlockte. Tanis entschuldigte sich, konnte aber die Aufregung in seiner Stimme nicht verhehlen.

Was ist denn?

Rasch beschrieb Tanis der Rieseneule seine Idee.

Dann müssen wir noch vor Sonnenuntergang handeln.

Xanthar drehte ab und flog mit kräftigem Flügelschlag nach Nordwesten. Er schien neue Kräfte gewonnen zu haben. Caven hielt Malefiz an, um das Paar zu beobachten, wozu er gegen die blendende Sonne seine Augen beschattete. Xanthar kreiste langsam westlich von Hengst und Reiter, während Tanis wieder Kitiaras Sack öffnete.

Beeil dich. Die Sonne geht bald unter.

»Ich dachte, es ist dir egal, ob Caven hier stirbt?«

Pause. Niemand verdient den Tod. Am wenigsten, wenn es um eine gute Sache geht.

»Xanthar«, sagte Tanis, »auf deine alten Tage wirst du noch ein sentimentaler, alter Vogel.«

Graue Federn sträubten sich an Xanthars Hinterkopf. Ich möchte doch betonen, daß du wenige Sommer vor deinem Hundertsten auch kein allzu junges Küken mehr bist, Halbelf.

Tanis lachte. Er nahm einen der Eisjuwelen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich bin soweit«, sagte er. Auf Tanis’ Zeichen hin flog Xanthar nach Süden. Der Halbelf hielt den Stein hoch über seinen Kopf und richtete ihn genau aus. »Der Stein wird warm«, schrie er.

Hast du nicht gesagt, dieser Sonnenradkerl hätte seinen Juwel zum Schluß in die Luft gejagt?

Der Stein in Tanis’ Hand war mittlerweile heiß, doch noch immer schoß kein Strahl aus dem Kristall. Selbst wenn der Stein so funktionierte wie der des Gnomen, wußte Tanis nicht, ob er imstande sein würde, den sengend heißen Stein weiter festzuhalten. Schließlich ließ er ihn fluchend los, und der Juwel trudelte glitzernd unten in den Sand, in dessen Wogen er verschwand.

Xanthar flog wieder nach Norden, während Tanis einen Pfeil aus dem Köcher zog. Mit dem Dolch spaltete er den Schaft längs bis kurz vor dem Ende auf und bekam so eine grobe Zange. Dann zog er einen weiteren Juwel aus dem Packsack.

Versuch, sie nicht alle zu verlieren. Ich dachte, du willst sie noch irgendwann als Lösegeld verwenden.

Tanis grummelte. Mühsam klemmte er den Juwel zwischen die Seiten seines neuen Werkzeugs. Dann hielt er die ganze Konstruktion über den Kopf, um einen anderen Ansatz zu finden.

Schnell. Die Sonne…

»Ich weiß.«

Wieder erhitzte sich der Juwel, doch mit Hilfe der selbstgebastelten Zange konnte Tanis ihn ohne Schwierigkeiten festhalten. Selbst jetzt schien der Stein sich nur bis zu einem bestimmten Punkt zu erhitzen, nicht weiter. »Es sind deine Flügel«, murrte Tanis.

Was?

»Deine Flügel. Die Sonne steht schon tief. Deine Flügel beschatten den Stein.«

Wäre es dir lieber, wenn ich sie nicht benutzen würde?

»Werd nicht sarkastisch.«

Xanthar zuckte mit den Achseln und flog wieder nach Norden. Caven war mittlerweile abgestiegen und versuchte, den Hengst zu führen. Das war auch nicht erfolgreicher, denn das Pferd schwamm im Sand.

»Ich habe noch eine Idee.« Ohne an das Risiko zu denken, löste Tanis den Harnisch, der ihn an der Eule festhielt. Vorsichtig kniete er sich auf den Rücken der Eule.

Was machst du da? Halbelf, du verlierst das Gleichgewicht – ich kann dich nicht auffangen, wenn du fällst!

Ohne auf den Vogel zu achten, stellte sich Tanis auf Xanthars Rücken. Die Federn der Eule erwiesen sich unter seinen Mokassins als glatt. Der Halbelf richtete sich ganz auf und streckte den linken Arm balancierend zur Seite. Dann hielt er mit dem rechten Arm die Zange mit dem Juwel hoch über seinen Kopf. Er versuchte, nicht an den Boden tief unter ihm zu denken. Plötzlich glitt Kitiaras Sack mit den restlichen sieben Juwelen vom Rücken des Vogels. Tanis wollte schnell zupacken, rutschte aber aus und landete mit einem Aufschrei auf Xanthars Rücken. Er lag quer über der Eule, so daß seine Beine an einer Seite herunterbaumelten und der Kopf über die andere Seite hinausragte. Dadurch hatte er einen guten Blick auf den Packsack, der kreiselnd hinuntersauste und auf der Ebene aufprallte. Über der Aufschlagstelle bildete sich eine Staubwolke. Tanis setzte sich mühsam wieder auf. Wenigstens hatte er die Zange nicht fallen lassen.

Wieder flog Xanthar nach Norden und kurz darauf erneut südwärts. Bald stand Tanis wieder in der richtigen Position mit einem Arm zur Seite ausgestreckt, den anderen mit dem Juwel hoch über seinen Kopf gereckt. Er wagte keinen Blick nach oben, um zu überprüfen, ob der Stein richtig ausgerichtet war.

Halbelf…

Die Gedanken des Vogels wurden unterbrochen. Oben begann es zu summen. Aus dem Augenwinkel sah Tanis einen amethystfarbenen Strahl auf den Sand zuschießen. »Funktioniert es?« rief er. »Schmilzt der Sand?«

Aus dem Winkel kann ich das nicht feststellen.

»Flieg weiter.«

Sie setzten ihren langsamen Flug nach Süden fort, wobei der Stein ununterbrochen brummte, bis fast eine Stunde verstrichen war und Tanis’ Muskeln vor Schmerz lahm wurden. Endlich erreichten sie den Rand der Sandwüste. Dankbar ging Tanis in die Knie und klammerte sich an der Eule fest, während diese zur Landung ansetzte. Gerade als die Sonne am Horizont versank, drehten sie sich dann um und sahen zurück.

Mitten durch die schier endlose Ebene zog sich ein leuchtender Weg aus geschmolzenem und gehärtetem Sand. Und in der Ferne nahten vorsichtig über diesen eigenartigen Weg Caven Mackid und der lahmende Malefiz. Caven schwenkte triumphierend Kitiaras abgestürzten Packsack über dem Kopf.


In dieser Nacht machten sie Pause. Xanthar schlief. Währenddessen kümmerte sich Caven um Malefiz, der sich bei seinem Kampf mit dem Sand eine Sehne angerissen hatte. Das gewaltige Pferd stand mit lahmem Bein da. Es schnaubte und lehnte jedes Futter ab.

»Du kannst ihn nur ruhen lassen«, sagte Tanis.

Am nächsten Morgen glühte Malefiz vor Fieber und war kaum noch bei Bewußtsein. Caven stand da und blickte wortlos auf sein Pferd herab. Seine Hand lag am Griff seines Dolches. Tanis ging ein Stück zur Seite, damit der Kerner den Hengst von seinen Qualen erlösen konnte.

»Was jetzt?« fragte Caven Tanis. »Es sind noch mindestens hundert Meilen bis zum Eisreich. Die Eule kann uns nicht beide tragen.«

Beide Männer blickten auf Xanthar, der immer noch auf einem Felsen über dem Lager schlief. Sein erschöpftes Schnarchen war noch hundert Fuß weiter zu hören. Als wenn der Blick der Männer sie aufgestört hätte, erwachte die Eule schnarrend und sah sich dämmrig um.

»Er kann nicht einmal mich noch sehr viel weiter schleppen«, flüsterte Tanis. »Er nennt mich schon dauernd Kai-lid.«

Caven zog die Brauen hoch, worauf Tanis erklärte: »Lidas Düsterwaldname, wie die Eule sagt.«

Der verwirrte Blick des Kerners wich einem erwartungsvollen Ausdruck. »Was machen wir also jetzt?«

Der Halbelf reagierte gereizt. »Wer hat mich denn zum Führer dieser Reise ernannt?« Caven wartete. »Machen?« wiederholte der Halbelf. »Ich finde, was Xanthar machen sollte, ist, in den Düsterwald zurückzukehren, denn von dort hat er offensichtlich Kraft und Macht bezogen. Beides verliert er unaufhörlich. Und was wir beide machen sollten, Caven Mackid, ist, ohne ihn weiterzuziehen.«

»Wie?« wollte Caven wissen.

»Wie schon? Wir laufen.«

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