14 Macht der Juwelen

Als Kitiara erwachte, hatte der Ettin sie wieder über sich geworfen, und sie starrte die nahezu senkrechte Felswand des Fieberbergs hinunter. Einige hundert Fuß tiefer breitete sich der Boden des Tals aus. Aus dieser Entfernung wirkte das Tal wie ein ganz gewöhnlicher Wald, gar nicht wie der entsetzliche Düsterwald. Kitiara schloß die Augen, um einen Schwindelanfall zu vertreiben.

Als sie sie wieder aufmachte, hatte sie ihre Sinne beisammen. Schreiend kämpfte sie gegen die Umklammerung des Ettins an. Sie war zwischen seinen beiden Stiernacken eingeklemmt. »Du Hornochse!« schimpfte die Kämpferin, während sie auf den Rücken des Ettins eintrommelte. »Laß mich los! Ich kriege keine Luft!«

Res-Lacua ließ sie auf einen engen Sims plumpsen. Einen Moment lang hing Kitiara an der Bergflanke, und die Welt unter ihr drehte sich. Dann konnte sie wieder klar sehen und erkannte das besorgte Gesicht der Zauberin hinter dem Ettin. Kitiara fluchte.

»Ganz schön laut«, stellte der Ettin fest. Kitiara klappte den Mund zu. Res-Lacua deutete auf den Gipfel des Berges, der nur noch wenige Schritte entfernt war. »Hoch.«

Auf der Spitze des Fieberbergs war es kalt und windig. Lidas Kapuze flatterte im Wind, und ihre Haare wurden fast gerade nach hinten gerissen. Haltsuchend klammerte sie sich an Kitiara. Der Ettin fummelte an der schmutzigen Haut herum, die seinen Körper bedeckte. Kitiara flüsterte ihrer Begleiterin zu: »Was macht er denn jetzt?« Lida schüttelte nur den Kopf.

Von der Rieseneule war keine Spur zu sehen. Wollte der Ettin sie töten? In diesem Fall würde ihm das kaum kampflos gelingen. Kitiara blickte sich nach einer Waffe um, doch alles, was sie sah, war Schiefer. Sie waren so hoch oben, daß hier nichts mehr wuchs.

Der Ettin hielt summend einen glatten, grauen Kieselstein vor sich hin. »Meister, Meister«, sagte er ehrfürchtig.

»Was ist das?« wollte Kitiara wissen.

»Magie«, flüsterte Lida.

Kitiara kniete sich unbemerkt hin, um zwei zackige Stücke Schiefer aufzuheben. Der Ettin war zu beschäftigt, um es zu bemerken. Eines der Stücke gab Kitiara der Zauberin. »Fertigmachen«, warnte die Kriegerin. Lida antwortete nicht.

Der Ettin griff wieder in seine Haut, aus der er ein zweites kleines Ding zog. Kitiara hielt den Atem an, als sie es erkannte. Der Purpurjuwel war unverwechselbar, denn er sah genauso aus wie die, die in ihrem Packsack versteckt waren – die, die sie Janusz gestohlen hatte. Lila Blitze zuckten aus dem Kristall, und ein lautes Summen übertönte das Brausen des Windes. Das violette Licht umgab den Ettin.

Dann nickte der Ettin, als ob er einer unhörbaren Anweisung folgte, und drehte sich dabei zu den Frauen um. Er hielt den grauen Kiesel in der einen Hand und den Eisjuwel hoch über seinem Kopf in der anderen. Als er auf Kitiara und Lida zukam, begann das Schimmern in der Luft rund um die drei sich auszubreiten.

Sie wurden von Luftteilchen umwirbelt. »Schnee?« flüsterte Kitiara. Lida, die von dem Schauspiel ganz gebannt war, sagte gar nichts.

Die Teilchen wirbelten weiter herum. Sie glitzerten scharlachrot, lila, tiefgrün, golden und weiß. Kitiara hörte die Zauberin etwas murmeln. Das Wirbeln steigerte sich zum Sturm, als der Ettin auf sie zukam.

Kitiara konnte sich nicht rühren. Janusz’ Magie hatte sie bereits erfaßt, und schreckerfüllt sah sie zu, wie Res-Lacua und Lida – und sie selbst – sich in der wirbelnden Magie auflösten, die sich um sie herum immer mehr zusammenzog, immer schneller kreiste, bis es so aussah, als stünden die drei Gestalten im Zentrum einer großen Windhose. Das purpurne Licht und das magische Summen wurden stärker, bis Kitiaras Augen und Ohren nichts anderes mehr wahrnahmen.

Dann verschwanden sie in einem amethystfarbenen Blitz.


Als Xanthar und die anderen zu dem Tal kamen, bemerkte die Rieseneule die seltsame Szene auf der Spitze des Fieberbergs. Mit vergeblichem Geheul schlug Xanthar mit den Flügeln und versuchte, auf den höchsten Punkt zuzusteuern, denn nur er mit seinen scharfen Augen konnte sehen, was geschah. Aber er war zu schwer, um schnell zu sein; seinen großen Flügeln machte der Wind zu schaffen. Caven und Tanis sahen verwirrt zu, ohne sich zu rühren.

»Was hat denn der Vogel?« murmelte Caven. »Wir sind doch da, oder? In dem Tal? Also, wo ist Kitiara?«

»Merkst du denn nichts?« unterbrach ihn Tanis. »Wie die Luft aufgeladen ist?« Er legte eine Hand an den Kopf und fühlte, wie seine Haare an seiner Hand hängenblieben. Er kämpfte gegen sein Entsetzen an, obwohl er sich plötzlich völlig machtlos vorkam.

Caven hatte sich im Sattel umgedreht und starrte den Halbelfen verwirrt an. Dann blickte der Kerner zu der Eule hoch, die sich kreischend nach oben bewegte. »Was es auch ist, es läßt euch beide durchdrehen«, sagte der Söldner.

Aber Tanis hörte nicht zu. »Wir kommen zu spät!« schrie er und zeigte an Caven vorbei zum Gipfel des kahlen Berges im Norden. Ein glitzernder Wirbel drehte sich um die Bergspitze. Er schien seine Energie aus dem Boden selbst, ja, sogar aus ihren eigenen Körpern zu saugen. Jetzt wankte auch Caven im Sattel, und Tanis mußte ihn stützen. In diesem Augenblick schien die Bergspitze zu explodieren. Als die Explosion jedoch vorüber und das Glitzern erloschen war, sahen die Felsen aus wie zuvor.

»Das waren sie«, sagte Tanis gefühlvoll. »Sie sind fort!«

»Fort?« schimpfte Caven. »Halbelf, wir sind im Düsterwald! Dieser Blitz könnte alles mögliche bedeuten.«

»Nein«, beharrte Tanis störrisch.

Minuten später landete Xanthar auf einem kahlen Baum neben ihnen. Immer wieder drehte er sich, sah den Berg an, dann nach Süden, dann wieder zum Berg. Auf einmal riß der Vogel den Schnabel auf, so daß seine große, wurmartige Zunge zum Vorschein kam, die so lang war wie Tanis’ Hand. Und dann schrie Xanthar auf, ließ seine Wut, seine Verzweiflung und seine Verlassenheit durch das Tal hallen. Selbst Caven erschauerte.

Nach einer Weile beruhigte sich der Vogel. Xanthar fixierte den Halbelfen mit seinem Blick. Lida konnte einen genauso anschauen – ein Blick, der das Opfer festnagelte, es einsaugte, durchbohrte, praktisch seine Gedanken übernahm. Caven mußte wegsehen, doch Tanis hielt dem starren Blick der Rieseneule stand.

Auf dem Boden war der Halbelf gegen das Tier ein Zwerg. Selbst jetzt, wo die Männer auf dem Hengst aus Mithas saßen und der Vogel oben auf dem Ausguck hockte, überragte er sie bei weitem. Er strahlte Wut aus. Dann zwinkerte die Rieseneule und wurde wieder zu dem sardonischen Xanthar.

Wir haben uns geirrt.

Tanis nickte. Caven tat dasselbe, und der Halbelf wußte, daß auch der Söldner die Gedanken der Eule gehört hatte.

Sie sind jetzt im Eisreich.

»Wieso im Eisreich?« fauchte Caven. »Weil so ein blöder Traum das behauptet? Der Valdan hat den Krieg in Kern verloren. Warum soll er fast tausend Meilen nach Süden in eine Gegend wie das Eisreich ziehen, wenn er die Welt erobern will? Falls ihr zwei überhaupt richtig erraten habt, was er will. Wieso ins Eisreich, Eule?«

Vielleicht gibt es dort etwas, was ihm viel wert ist… etwas, was er sucht.

»Nämlich? Schnee?«

Das Omen erwähnt Juwelen.

Caven hielt überhaupt nichts davon. »Juwelen im Eisreich? Das ist lachhaft.«

Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen, Mensch.

Aber der Kerner kochte schon. »Ich will zurück nach Haven.«

Mach, was du willst, Mensch. Es dürfte dir schwerfallen, ohne Führer aus dem Düsterwald herauszufinden.

Caven sah ihn wütend an. »Du würdest uns im Stich lassen?«

Ihr bedeutet mir nichts. Ich will ins Eisreich.

Schließlich sagte Tanis: »Lida hat gesagt, du könntest den Düsterwald nicht verlassen.«

Pause. Sie irrt sich.

Tanis überlegte einen Augenblick. Dann rutschte er von Malefiz. Er begann, seinen und Kitiaras Packsack aus den Gepäckstücken hinter dem Sattel zu ziehen.

»Halbelf!« rief Caven. »Was machst du da?«

»Ich gehe mit Xanthar.«

Caven hüstelte. »Ihr Qualinesti habt mehr Talente, als ich gedacht habe. Du kannst also auch fliegen, Halbelf?«

»Nein, aber er.«

Caven wurde blaß. Er griff nach seinem Sattelknauf und beugte sich zu dem Halbelfen herunter. »Du willst eine Rieseneule reiten?«

»Wenn Xanthar mich läßt.« Tanis warf einen Blick auf den Vogel, der den Kopf senkte, was Tanis für ein Einverständnis hielt.

Cavens zischende Stimme machte den Halbelfen wieder auf den Mann aufmerksam. »Aber weshalb? Kitiara ist das Risiko nicht wert. Es gibt noch Millionen Frauen auf der Welt, Halbelf. Außerdem, wer garantiert uns, daß sie da ist?«

Tanis schnaubte. Er durchwühlte seinen Sack, um die Last so weit wie möglich zu senken. Tanis wog mehr als Lida. Er wählte das bißchen Proviant aus, das er noch hatte, dazu Bogen, Köcher und Schwert. Dann nahm er nachdenklich Kitiaras Sack in die Hand.

Cavens Stimme unterbrach ihn. »Warum nicht einfach aufgeben? Zusammen finden wir schon hier raus. Zum Abgrund mit der irren Eule und der Zauberin. Und mit Kitiara genauso.«

Tanis schüttelte den Kopf. Er schob die Kleider in Kitiaras Packsack beiseite, denn er suchte nach Dingen, die ihm auf seiner Reise hilfreich sein konnten. »Ich bin kein Söldner wie du, Mackid. Das ist die einzige Erklärung, die ich dir geben kann. Ich erledige meine Angelegenheiten nicht für Geld, sondern aus eigenem Antrieb.«

Caven gestikulierte wild mit den Armen. »Wie wollt ihr sie finden? Das Eisreich ist praktisch einen Kontinent entfernt.«

Die Eule mischte sich ein. Ich werde versuchen, Lida gedanklich zu erreichen. Es wird klappen. Sie wird mich hinführen.

»Im Düsterwald hast du fast augenblicklich den Kontakt verloren«, erwiderte Caven verärgert. »Was wollt ihr machen, das ganze Eisreich absuchen? Was glaubt ihr denn, wieviel Zeit ihr habt?«

Verwandte von mir sind dort gewesen. Sie haben mir die Gegend beschrieben. Ich erinnere mich an die Geschichten, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich noch ein Küken war. Es gibt einen geeigneten Ort – angeblich sollen dort riesige Höhlen unter dem Eis liegen. So ein Ort würde einen Zauberer bestimmt anziehen. Dort fange ich an zu suchen. Ich werde sie finden, Mensch.

In diesem Augenblick stießen Tanis’ Finger auf dem Boden des Packsacks gegen etwas. Verwirrt kniete sich der Halbelf hin, kippte den gesamten Inhalt auf die Erde und untersuchte die Unterseite. Im hellen Tageslicht schien der Packsack von außen tiefer zu sein als von innen. »Ein doppelter Boden«, murmelte er.

Caven sprang ab und hockte sich neben den Halbelfen. Selbst Xanthar hüpfte auf einen nahen Baumstumpf. Tanis tastete den Boden ab, denn er suchte einen Verschluß. Dann zog er mit einem Ausruf das steife Segeltuch hoch, das das Versteck bedeckte. Die drei schnappten nach Luft, als purpurfarbenes Licht aus dem abgenutzten Reisesack strahlte. Caven trat argwöhnisch einen Schritt zurück, doch Tanis steckte die Hand in den falschen Boden. Als er sie zurückzog, hatte er drei purpurfarbene Juwelen in der Hand.

»Bei den Göttern! Was ist das?« fragte Caven.

Tanis schüttelte den Kopf, doch Xanthar murmelte etwas, das der Halbelf nicht verstehen konnte. »Was ist es?« fragte Tanis.

Eisjuwelen. Mein Großvater hat sie vor langer Zeit einmal erwähnt, aber er hielt sie bloß für eine Legende. Angeblich bestehen sie aus Eis, das unter großem Gewicht zusammengepreßt wurde, bis es sich in kostbare Edelsteine verwandelt hat.

»Sind sie magisch?« fragte Tanis die Rieseneule. »Da sind noch mehr drin.«

In den richtigen Händen, ja, da sind sie sicher magisch. Aber sie machen mir angst. Tanis und Caven blickten wieder überrascht auf. Gehe ich richtig in der Annahme, daß die Kriegerin nicht die rechtmäßige Eigentümerin dieser Juwelen war?

Caven erwiderte vorsichtig: »Nachdem wir Kern verlassen hatten, sagte Kitiara etwas, was mich stutzen ließ. Ich beklagte mich, daß der Valdan keinen seiner Söldner bezahlt hatte, und sie sagte: ›Bis auf einen.‹ Aber sie wollte sich nicht weiter dazu äußern. Später dachte ich, sie hätte damals schon geplant, mich zu bestehlen. Aber jetzt glaube ich…« Er wies vielsagend auf die glänzenden Eisjuwelen.

Tanis starrte noch immer die Eisjuwelen an, als Xanthars Stimme seine Gedanken durchdrang. Vielleicht können uns diese Steine von Nutzen sein.

Der Halbelf sah auf, denn er begriff augenblicklich, was die Eule meinte. »Lösegeld?« fragte er.

Der Vogel nickte. Oder Magie. Wenn wir ihr Geheimnis lüften können. Ich finde, wir nehmen sie mit.

Tanis warf die Juwelen wieder in den Packsack, legte den falschen Boden darüber und steckte sein eigenes Zeug in Kitiaras Sack. Dann stand er auf und sah die Eule an. »Ich bin soweit.«

Caven seufzte. Er stand ebenfalls auf. »Ich ebenfalls.«

Ich kann euch nicht beide tragen.

»Ich reite Malefiz.«

Dann sind wir dir schnell weit voraus.

»Legt mir eine Spur, der ich folgen kann.«

Ich habe viele Verwandte. Ich könnte sie herbeirufen. Vielleicht kannst du einen von ihnen…

»Nein!« sagte Caven und fügte hastig hinzu. »Ich werde mein Pferd nicht zurücklassen. Malefiz und ich reiten Tag und Nacht, wenn es sein muß. Er ist aus Mithas, er kann die Anstrengung verkraften. So wie ich.«

Du hast also Höhenangst, Mensch?

»Nein!« wiederholte Caven halsstarrig. Er bestieg Malefiz. »Ich habe vor nichts Angst.«

Xanthar sprang auf den Boden, wo er sich möglichst tief hinkauerte. Der Halbelf kletterte auf seinen Rücken, zog Kitiaras Packsack und seine Waffen hinter sich und machte sie mit einem Lederriemen, den Caven ihm von Malefiz aus zureichte, auf dem Vogel fest. Tanis schlang seine Beine um Xanthars Körper und hielt sich gut an Harnisch und Griff der Vogelschwingen fest. Er legte den Kopf hinter den von Xanthar. Ohne weitere Umschweife stieg die Rieseneule in den Himmel auf.

»Wartet!« rief Caven ihnen nach. »Wie wollt ihr den Weg markieren?«

Du wirst es wissen. Vielleicht werfen wir dir ein paar von diesen strahlenden Juwelen hin, denen du folgen kannst.

»Wartet!« brüllte Caven, dessen Stimme durch einen Anflug von Verzweiflung dünn klang. »Die sind zu wert…« Dann war er nicht mehr zu hören.

Der Vogel schraubte sich höher, bis er hoch über den Bergspitzen dahinsauste. Tanis biß sich auf die Lippen, um sich von dem Erdboden abzulenken, der langsam unter ihm verschwamm. Caven und Malefiz verblichen allmählich zu kaum wahrnehmbaren Pünktchen. Da er sich vorgenommen hatte, nicht nach unten zu sehen, blickte Tanis vorsichtig zur Seite. Am Sonnenstand konnte er die Richtung ablesen.

»Du willst doch nicht wirklich die Juwelen verwenden, um Caven den Weg zu zeigen, oder?« schrie Tanis Xanthar zu. Der Vogel antwortete nicht, doch der Halbelf spürte, wie das Tier zuckte. Das konnte ein Lachen gewesen sein.

Weit im Westen sah Tanis vier kleine, dunkle Formen zum Himmel aufsteigen. Er machte Xanthar auf sie aufmerksam. Das sind meine Söhne und Töchter. Sie werden Caven führen und ihn vor den weniger ehrenhaften Bewohnern des Düsterwalds schützen. Trotz seiner dusseligen Tollkühnheit hat der Krieger Hilfe verdient.

Im Nordosten konnte sich Tanis gerade so eben vorstellen, wie die Spitzen der turmhohen Vallenholzbäume von Solace aussehen mußten. Es gab keine höheren Bäume als diese, die so hoch und stark waren, daß die Bewohner der Stadt Häuser in ihren Zweigen gebaut und dazwischen Hängebrücken und Fußwege errichtet hatten. Man konnte von einem Ende von Solace ans andere laufen, ohne jemals den Boden zu berühren.

Irgendwo in Solace, dachte Tanis plötzlich sehnsüchtig, saß jetzt Flint Feuerschmied zu Hause und kochte wahrscheinlich einen Topf Suppe – Flint war kein Freund der feinen Küche – und freute sich auf einen unterhaltsamen Abend im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe«. Tanis freute sich darauf, den Zwerg wiederzusehen, doch bis dahin würde sicher einige Zeit vergehen.

Xanthar schlug den Weg ins Eisreich ein.


Der Wind beutelte die zwei, derweil sie nach Süden flogen. Irgendwann konnte Tanis sich nicht mehr am Harnisch halten. Einen schwindelerregenden Moment lang verlor der Halbelf den Halt und sah sich schon abstürzen. Dann fanden seine Hände den Riemen wieder, und er konnte sich hochziehen. Der Vogel hielt in seinen steten Flügelschlägen nicht inne.

Erschöpfung und die beruhigende Wärme von Xanthar verschworen sich und lullten Tanis in Schlaf, doch seine Arme hatte er in dem selbstgemachten Harnisch verschlungen. Als er aufwachte, verrieten ihm das Stahlblau und Weiß des Himmels, daß es früher Nachmittag war. Er sah zu, wie der Himmel gegen Abend orangegelb wurde. Schließlich verfärbte sich der Horizont rosa, orange und rot, als nach Sonnenuntergang das Zwielicht aufzog. Die ganze Zeit flog Xanthar ununterbrochen weiter. Tanis blickte über die Schulter, doch von Caven Mackid war nichts zu sehen.

Gelegentlich ging die Eule in Gleitflug über, um Kräfte zu sparen. Wenn sie den Kopf drehte, konnte der Halbelf sehen, daß ihre Augen in dem braun-grau-gefiederten Gesicht wie orangefarbene Schlitze glühten. Eulen waren Nachtwesen, das wußte er; deshalb fragte er sich, wie es Xanthar im hellen Tageslicht ergangen war.

Lange Zeit flog die Rieseneule so hoch wie möglich, doch gegen Abend sank sie tiefer, so daß der vom Wind durchgerüttelte Halbelf auf ihrem Rücken Einzelheiten erkennen konnte. Sie überquerten gerade die Südgrenze von Qualinesti, schätzte der Halbelf, der über die Stärke und Schnelligkeit der Rieseneule staunte. Überall um sie herum ragten die zerklüfteten Gipfel des Kharolisgebirges auf, besonders steil im Südosten. Xanthar ging noch tiefer. Die höchsten Bergspitzen waren von Schnee bedeckt; kleinere Gipfel zeigten ihre bizarren, flechtenbewachsenen Felsen, die von keinem Busch oder Baum bestanden waren, bis mehrere hundert Fuß tiefer an der Baumgrenze plötzlich bodenbedeckendes Gesträuch und kleine Eiben auftauchten. Darunter begann fast so abrupt wie die Baumgrenze selbst die alpine Vegetation – Fichten, Föhren und Birken hoben sich kräftig blau, grün und weiß vom scheckigen Grau des Felsbodens ab.

Die Rieseneule glitt im Bogen auf einen Landeplatz oben auf einer Anhöhe. Sie neigte sich zur Seite, damit Tanis leichter absteigen konnte. Dann faltete sie die Flügel ein und auf, wobei sie sich benahm wie ein gefiederter Flint, der nach einem harten Einsatz am Amboß seine verspannten Schultern reckt. Auch Tanis streckte sich.

»Fühlt sich gut an, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben«, stellte der Halbelf fest.

Xanthar antwortete ausnahmsweise einmal laut, nicht in Gedankensprache. »Für einen Neuling reitest du gut, Halbelf. Ich muß mir jetzt ein Abendessen jagen. Dann ruhe ich mich aus. Auch wenn es bestimmt seltsam ist, mitten in der dunklen Nacht zu schlafen. Bei mir ist das normalerweise anders herum.«

»Glaubst du, es geht Kitiara und Lida gut?« fragte Tanis unvermittelt.

Die Eule überlegte, bevor sie zurückgab: »Ich glaube, sie leben. Ich denke, wenn Kai-lid tot wäre, würde ich es fühlen.«

»Du hast diesen Namen schon einmal erwähnt. Wer ist Kai-lid?«

Die Eule zögerte. »Kai-lid Entenaka. Es ist Lidas Düsterwaldname«, erklärte Xanthar schließlich. Tanis nickte, denn er war sich nicht schlüssig, ob er weiter bohren sollte.

Der Halbelf bot der Eule ein Stück Brot aus seinem Proviant an. Der Vogel beäugte das Angebot, wandte dann jedoch den Kopf ab. »Ich muß jagen«, sagte er nur, bevor er in das Tal unter ihnen abflog. Tanis lehnte sich an einen Felsen, kaute sein Brot und erfreute sich an den letzten Farben des Sonnenuntergangs, während er die kleiner werdende Gestalt von Xanthar im Auge behielt. Wenn er sich nicht solche Sorgen um Kitiara gemacht hätte, wäre es fast schön gewesen. Xanthar war ein kauziger Gefährte, kurz angebunden und leicht sarkastisch im Ton, aber das war Flint Feuerschmied schließlich auch. Als Tanis so am Felsen lehnte und träge die Bewegungen der Eule verfolgte, die über das Gelände strich, merkte er, wie seine Augenlider wieder schwer wurden.

Er schreckte aus dem Schlaf hoch, als etwas vor ihm auf den Boden fiel. Instinktiv sprang er auf. Das Schwert hatte er in der Hand, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, daß er es gezogen hatte. Doch kein Goblin oder Slig stand vor ihm. Eigentlich konnte Tanis in der Dämmerung überhaupt keine Bedrohung erkennen. Sein Blick fiel auf den Boden. Ein totes Kaninchen lag verrenkt auf den Felsen. Als er aufblickte, entdeckten seine nachtsehenden Augen weit oben Xanthar.

Mit Brot kommst du nicht weit, Halbelf.

Tanis winkte dankend hinauf. Dann sammelte er trockenes Gras und Zweige und fand unter einem toten Baum ein paar Äste. Er war auf einem der wenigen Gipfel mit Baumbestand, was Xanthar offenbar bedacht hatte, als er einen Landeplatz ausgesucht hatte. Tanis kratzte die innere Rinde der Äste ab und fügte den Bast seinem Zunderhaufen hinzu, den er auf die windabgewandte Seite eines Felsens trug. Dann schlug Tanis Flint auf Stahl. Immer wieder stoben die Funken, bis einer schließlich zündete. Vorsichtig fütterte der Halbelf den Funken mit trockenem Gras und Reisig, bis er zur Flamme wurde. Bald saß er vor einem anständigen Lagerfeuer, an dem er das Kaninchen häutete, ausnahm und in Scheiben auf einen langen, entrindeten Ast schob. Er steckte den Stab zwischen zwei Steine und sog den Duft ein, als das Kaninchenfett zischend ins Feuer tropfte.

Xanthar kehrte zurück, als Tanis gerade das gebratene Kaninchen vom Feuer nahm. Der Vogel landete auf dem Boden, hielt sich aber in sicherer Entfernung von den Flammen. Der Halbelf wollte ihm etwas abgeben, doch Xanthar schüttelte den Kopf.

»Gekochtes Fleisch ist nichts für meinen Gaumen«, sagte der Riesenvogel. »Meiner Ansicht nach zerstört Feuer den Geschmack.«

Während Tanis aß, ging – oder watschelte, wie der Halbelf für ihren Gang zutreffender fand – die Eule zu einer krummen Pinie, wo sie es sich auf einem Aststumpf gemütlich machte. Sie schloß die Augen und vergrub ihren goldenen Schnabel tief im blassen Flaum ihrer Kehle.

Tanis lehnte sich mit angenehm vollem Bauch an den warmen Felsen und starrte Xanthar an. Einmal öffnete die Rieseneule ein Auge, als ob sie das Starren des Halbelfen bemerkt hätte, dann drehte sie sich auf dem Ast um, so daß sie dem Halbelfen ihre dunkle Rückseite zuwandte. Tanis sah, wie die verhornten Krallen sich um den Ast schlossen. Dann schien der Vogel zusammenzusacken, und Tanis wußte, daß sein Gefährte eingeschlafen war.

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