Es war die Kälte des Todes, da war sich Kitiara sicher. Gesicht, Brust und Hüften lagen im Schnee. Die Vorderseite ihres Hemds war durchnäßt, und ihr Rücken war so steif, als wäre er von Eis überzogen und gefroren. Ihre Füße waren schwer wie Baumstümpfe. Ihr dämmerte, daß ihre rechte Hand noch immer das Stück Schiefer vom Fieberberg umklammerte. Weit in der Ferne krachten Wellen. Etwas näher hustete jemand.
Wenn das der Abgrund war, glich er keinem Abgrund, vor dem man sie je gewarnt hatte. Sie mußte tot sein, doch Kitiara fühlte die Kälte, schmeckte den Schnee, verspürte Hunger. Sie hörte etwas, was wie der Ettin klang, der sich über etwas freute. Und darüber das ständige Heulen des Windes und das Donnern der See.
Kitiara hob den Kopf. Ihre Haare standen praktisch vor Eis. Sie legte die tauben Hände vors Gesicht. Ohne auf den Wind zu achten, der wie Nadelstiche auf ihre nackte Haut einpeitschte, pulte sie an dem Eis, das ihre eine Wange bedeckte. Die Augenlider waren ihr fast zugefroren. Schließlich gelang es ihr, die Augen einen Schlitz weit zu öffnen.
Sie starrte direkt in zwei fleischlose Kiefer, von denen Fangzähne wie Eisstalaktiten herunterhingen, während andere Zähne wie Stalagmiten aufragten. Kitiara fuhr mit einem Aufschrei zurück. Sie tastete nach Schwert und Dolch, bis ihr einfiel, daß sie beides verloren hatte. Das Untier, in dessen Rachen sie starrte, war schon seit Generationen tot. Was es ursprünglich gewesen war, konnte Kitiara nicht sagen, doch sie hätte bequem in den aufklaffenden Kiefer gepaßt. Es war der Schädel eines Tieres, das schon lange tot war. Vom Rest des Skeletts war nichts zu sehen.
Der Ettin lehnte sich an das kräftige Gelenk, das den Kiefer zusammenhielt. Sein rechter Kopf, dem ein gefrorener Speichelfaden am Kinn herunterlief, lehnte sich schlafend an den linken. Dieser grinste die Kämpferin an. Man konnte nicht entkommen, wenn der Ettin schlief, denn seine Köpfe schliefen abwechselnd.
»Wo sind wir?« übertönte sie das Brausen des Sturms. Durch die treibenden Schneewolken konnte sie den Ettin kaum erkennen.
Res-Lacuas Grinsen wurde breiter. »Daheim«, sagte er. »Daheim, daheim, daheim.«
»Im Eisreich?« wollte sie wissen. Ihre Stimme weckte den rechten Kopf, so daß sie nun beide Ettinköpfe angrinsten. Indem sie den Wind, den Schnee und besonders den Ettin verfluchte, gelang es der Kriegerin, sich auf die Füße zu stellen, doch ihre Muskeln waren so taub, daß sie nur langsam reagierten. Sie taumelte wie betrunken und mußte sich an einem langen Zahn des Monsters abstützen. Wie lange hatten sie und Lida unbedeckt im Schnee gelegen?
»Kitiara! Was… was ist das denn?« Es war Lida Tenaka, die das rief. Sie hatte die Robe fest um sich gezogen, starrte aber entsetzt auf die Kiefer des Skeletts. Ihre Lippen waren blau, doch ihre Hände regten sich eifrig. Als Kitiara mit den Achseln zuckte, erschauerte die Zauberin. Lida machte sich wieder an ihr Vorhaben. Nachdem sie magische Symbole in die Luft gezeichnet hatte, begann sie zu singen. Kitiara erwartete ein magisches Lagerfeuer, an dem sie sich wärmen konnten, zwei Tassen mit dampfendem Rum, die vor ihnen auftauchen würden, irgend etwas, was die bittere Kälte erträglicher machen würde, die sie einhüllte.
Aber es kam nichts – nur ein Zischen und eine winzige Flamme, die nicht einmal den trockensten Zunder angezündet hätte. Lidas Hände sanken bebend in ihren Schoß. Ihre Lippen schlossen sich, und ihre Augen spiegelten ihre Panik. »Es ist genau wie im Düsterwald«, sagte sie, doch ihre Worte waren im Geheul des Windes kaum zu verstehen. »Meine Magie funktioniert nicht richtig, Kitiara. Ich kann Xanthar nicht erreichen. Es ist, als wäre ich in Gegenwart…«
»… einer weitaus größeren Macht«, schloß Janusz, der hinter dem Schädel hervortrat. »Einer Macht, die dich mit Leichtigkeit blockieren kann, Lida. Schließlich war ich es, der dich und Dreena unterrichtet hat.« Trotz seiner dünnen Robe schien der äußerlich alte Zauberer sich in der Eiseskälte wohl zu fühlen. Kitiara bemerkte, daß die Luft um ihn herum flimmerte, wenn er sich bewegte.
»Du hast einen Zauber gesprochen, der dich vor den Elementen schützt«, murmelte Lida. Ihr Zittern war mittlerweile fast unkontrollierbar. Kitiara hatte kein Gefühl mehr in ihren Gliedern. Als sie versuchte, ein paar Schritte auf den Mann zuzugehen – mit welcher Absicht, wußte sie selbst nicht genau –, reagierten ihre Beine nicht.
Janusz lachte rauh. Auf sein Gebot hin ließ der Sturm etwas nach. »Ja, ich wette, euch beiden ist inzwischen etwas kalt, im Gegensatz zu meinem zweiköpfigen Freund, der auch ohne magische Hilfe recht zufrieden wirkt.« Er wies auf Res-Lacua. Der Ettin tollte in Schnee und Eis herum wie ein Lamm auf der Wiese.
»Die Kiefer«, erklärte Janusz, »sind Überreste einer längst ausgestorbenen Rasse von Wesen, deren Größe und Stärke nicht ausreichte, sie vor der Umwälzung zu retten. Das Eisvolk raubt ihre Knochen, um daraus Zäune um seine armseligen Dörfer zu ziehen.«
Keine der Frauen sprach. Beiden war unerträglich kalt. Nachdem er sie mit kaum verhohlener Verachtung betrachtet hatte, bellte Janusz Res-Lacua einen Befehl zu. Der sprang hinter den Schädel und kam mit zwei dicken, weißen Pelzknäueln wieder. In Sekundenschnelle hatten sich die beiden Frauen in die Pelze gewickelt. »Das Eisvolk, dem diese Sachen früher gehörte, braucht sie nicht mehr«, sagte Janusz mit dünnem Lächeln. Lida schauderte es bei seinen Worten, doch Kitiara blickte finster drein.
»Ich will wissen, wo wir sind«, schimpfte Kitiara.
Janusz schürzte die Lippen. »Wie fordernd für eine Gefangene. Aber ich zeige mich gern großzügig. Schließlich werde ich mein gestohlenes Eigentum zurückerhalten.« Höhnisch sah er Kitiara an, die die Augen zusammenkniff, aber nichts sagte.
»Du hast recht, Hauptmann«, meinte Janusz schließlich. »Ihr seid im Eisreich – und zwar am Nordrand des Gletschers, genau südlich der Eisbergbucht. Das hilft nicht viel? Macht nichts. Keine von euch geht irgendwo hin – außer natürlich, wenn ihr euch auf unsere Seite schlagt.«
»Wie sind wir hierhergekommen?« fragte Lida leise. Ihr Atem gefror in der Luft.
»Ich habe euch hierher teleportiert und dann mich selbst herteleportiert, um hier mit euch zu reden. Ich dachte, die menschenfeindliche Umgebung könnte euch vielleicht jeden Gedanken an Flucht austreiben.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte die Zauberin. »So funktioniert Teleportieren doch gar nicht. Ich dachte, man brauchte einen Gegenstand.«
»Der Ettin hatte einen.«
»Aber – «
»Ich habe nicht vor, mehr preiszugeben.«
»Aber – «
»Genug!« donnerte Janusz. Eingeschüchtert umklammerte Lida die Vorderseite ihres Pelzmantels. »Frag Kitiara nach den Eisjuwelen, die sie mir gestohlen hat. Sie kann erklären, warum ihr hier seid.«
Lida drehte sich zu Kitiara um. »Du bist dafür verantwortlich? Weißt du, was er und der Valdan machen, welches Unheil sie anrichten? Die Toten, das Leid des Eisvolks?«
Kitiara schnaubte. »Was kümmert das mich?« gab sie zurück. »Soll das Eisvolk sich doch um sich selber kümmern.«
In diesem Augenblick hörte Kitiara es von Süden her heulen. »Wölfe«, sagte die Kriegerin. »Aber solche Wölfe habe ich noch nie gehört.«
»Schreckenswölfe.«
Diese Mitteilung bot keinen Trost. Gleich darauf wirbelte ein Dutzend riesiger Wölfe den Schnee auf. Sie zogen einen leeren Schlitten an geflochtenen Lederriemen hinter sich her.
Kitiara hatte natürlich schon Wölfe gesehen, aber die hier waren schreckliche, zähnefletschende Ungeheuer, ein Meer aus grauem, weißem und schwarzem Pelz an knochigen Körpern. Ein graues Tier, das größte des Rudels, stand regungslos ganz vorn und beäugte Kitiara aus blutunterlaufenen Augen. Atemwolken stiegen aus seinem Maul auf und bildeten Eistropfen auf seiner Schnauze.
Sie schienen nicht angreifen zu wollen. Kitiara warf Janusz einen fragenden Blick zu.
»Sie fressen nur Fleisch, ob tot oder lebendig. Hier unten gibt es natürlich auch nicht viel anderes zu fressen. Sie sind dumm wie Eisschollen und immer hungrig, also nimm dich in acht, Hauptmann Uth Matar.«
Kitiara zog die Augenbrauen hoch. Auf ein Zeichen von Janusz schwang Res-Lacua eine Peitsche und trieb die Frauen auf den Holzschlitten. Der Ettin knallte mit der Peitsche, um die Wölfe erst nach links, dann nach rechts zu scheuchen, damit die Kufen vom Eis losbrachen. Der Ruck ließ die Kriegerin rücklings gegen die Zauberin fallen. Die beiden Frauen knieten auf dem Schlitten, der in voller Fahrt davonschoß, und hielten sich mit den Händen fest. Der Ettin rannte hinterher.
Kitiara sah sich nach Janusz um. Dieser schwebte dicht über dem Boden rechts neben ihnen her. Seine Robe flatterte im Wind, während er ebenso schnell wie sie durch das Eisreich sauste und über den Schnee hinweg aufs Landesinnere zuhielt.
Urplötzlich hielten sie an. Der Ettin ging mißtrauisch nach vorn, wobei er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Janusz sah zu, sagte aber nichts.
»Was ist da?« flüsterte Lida Kitiara zu. »Ich spüre keine Magie – nichts Neues jedenfalls.«
Die Kriegerin zuckte mit den Achseln. »Für mich sieht’s genauso aus wie überall im Eisreich. Windgepeitscht, alles voller Eisbrocken. Ein paar richtig mächtige Blöcke, aber ansonsten Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Da vorne vielleicht eine kleine Senke, aber…«
In diesem Augenblick brach der Ettin im Schnee ein und verschwand mit einem Schrei in einem klaffenden Loch. Nachdem Janusz einen Spruch angestimmt und Zeichen in die Luft gemalt hatte, schwebte Res-Lacua durch das Loch nach oben. Er lachte, als er wieder auf festem Eis landete. Kitiara schlüpfte aus dem Schlitten, rannte vor und beugte sich über den Rand des Lochs.
Es war eine hundert Fuß tiefe Gletscherspalte. Kitiara wich eilig vom Rand zurück. »Da ist ein Riß im Eis«, erklärte sie Lida. »Und er ist praktisch unsichtbar, bis man hineinfällt.«
»Ein schönes Hindernis für angreifende Armeen«, ergänzte Janusz.
Sie zogen weiter, indem sie westlich an der Eisspalte entlang fuhren und schließlich wieder eine südliche Richtung einschlugen. Bald hielten sie jedoch erneut an. »Was ist denn jetzt?« murrte Kitiara. Lida zeigte auf einen dunklen Fleck im Schnee. »Ein See?« fragte Kitiara. »In diesem Klima?«
Der Ettin ging nicht auf Kundschaft. Er knallte nur mit der Peitsche, um die Schreckenswölfe um den dunklen Fleck herumzulenken. Sonne glitzerte auf der Oberfläche und enthüllte das Eis, das eine dünne Haut über dem Wasser bildete. »Ein Eissee«, erklärte Janusz. »Voller Fische. Alle Bewohner des Eisreichs leben von diesen Eisseen – außer uns natürlich. Ich biete weit bessere Kost im Eisbau. Außer natürlich«, fügte er hinzu, »wenn ihr rohen Fisch mögt. Das Eisvolk liebt ihn, aber es ist auch nicht zivilisiert. Roher Fisch, unbearbeitete Häute, rauchende Torffeuer und der abscheuliche Gestank von Walroßfett. Sie verwenden alles vom Fisch, sie kochen damit und fetten die Kufen ihrer Schneeboote damit ein.«
Nach kurzer Zeit rief Res-Lacua den Schreckenswölfen etwas zu. Etwas langsamer bogen sie um eine Reihe gewaltiger Eisblöcke. Die Gefangenen hatten einzelne Auswüchse der natürlichen Gebilde gesehen, doch diese Blöcke sahen so aus, als ob sie absichtlich und mit Bedacht hierhin gestellt worden waren.
Wortlos zeigte Lida auf den Umriß einer Gestalt oben auf einem Block, doch Kitiara hatte die bullige Figur mit den kurzen Hörnern, die sich zur Stirn hinbogen, bereits entdeckt. »Minotaurus«, sagte die Kriegerin.
Der Schlitten glitt um das Ende der Reihe, und plötzlich waren sie inmitten von rufenden, gestikulierenden Minotauren und Ettins. Res-Lacua stürmte mit einem Freudenschrei in die Menge, um zahlreiche Ettins herzlich zu begrüßen. Die Ettins, die fast doppelt so groß waren wie die Minotauren, schlugen ihre Dornenkeulen aneinander, klopften einander auf die Schultern und brüllten sich auf orkisch Worte zu. Die Minotauren überblickten das Spektakel, fanden es aber anscheinend unter ihrer Würde, während eine dritte Gruppe Wesen, die halb Mensch, halb Walroß waren, mit dümmlicher Miene zusah. »Thanoi«, sagte Kitiara. »Walroßmenschen.«
Einer der Thanoi, ein breiter Kerl, dem zu beiden Seiten aus dem Mund lange Stoßzähne herauswuchsen, schien besonders reizbar. Er war unbekleidet, hatte menschliche Arme und Beine, jedoch das Gesicht, den Körper und die dunkelgraue Haut eines Walrosses. Dicke Schwimmhäute verbanden seine Finger und Zehen. Grobe Borsten hingen von seiner Oberlippe herunter; sie verdeckten den breiten Mund des Thanoi. In einer Hand hielt er eine Harpune, mit der anderen griff er nach den Frauen. Er stank nach totem Fisch. Lida schrak zurück bis in Kitiaras Arme, doch die Kriegerin warf die Zauberin auf den Schlittenboden, sprang auf den festgetretenen Schnee und nahm Kampfhaltung ein, obwohl sie nicht einmal eine Waffe hatte. Sie wollte dem Thanoi gerade die Harpune entreißen, als ein Schrei die Luft zerriß.
»Despack!«
Die Ettins und die Thanoi zogen sich zurück. Die Minotauren blieben, wo sie waren, kamen jedoch nicht auf Kitiara oder Lida zu.
Janusz redete wieder in einer Sprache, die Kitiara nicht kannte. Die Minotauren hingegen hörten zu, und als die Ansprache des Magiers vorbei war, trat einer der Stiermenschen vor, blickte auf die Kriegerin herab, als wäre sie nichts Lästigeres als ein Floh, und stieß Kitiara mit dem Stiel seiner Doppelaxt auf die Walroßmenschen und die zweiköpfigen Trolle zu. Kitiara schrie zu Janusz zurück: »Denk dran, Zauberer, wenn sie mich umbringen, wirst du nie erfahren, was du wissen willst.«
Der Zauberer lächelte nur. Sein Selbstbewußtsein schien grenzenlos zu sein, und als Kitiara sich von den Waffen von Hunderten böser Wesen umgeben sah, die ihm und dem Valdan dienten, dachte sie zum ersten Mal, daß sie nun wohl doch einen Gegner gefunden hatte, mit dem sie nicht fertig werden würde. Sie lief in die Richtung, in die der Minotaurus gezeigt hatte. Die Menge wich vor ihr und dem Minotaurus auseinander. Janusz rief ihnen nach: »Toj soll dich beschützen, Hauptmann – außer natürlich, wenn er glaubt, du wolltest meine Gastfreundschaft verschmähen. Also nimm dich in acht, Hauptmann.«
Kitiara antwortete nicht. Der Gegner war eindeutig in der Überzahl, und Lida Tenaka mit ihrer geschwächten Zauberkraft behinderte sie nur. Toj schloß mit Kitiara auf. »Du warst Söldnerin?« meinte der Minotaurus.
»Nicht war«, stellte Kitiara richtig. »Ich bin es.«
Toj lachte. »Der Zauberer hat gesagt, du wärst dickköpfig. Wie ich sehe, hatte er recht.«
Der Minotaurus redete eigentümlich förmlich. Kitiara reichte ihm nicht einmal bis an die Schultern, und sie war unbewaffnet, aber furchtlos. Vorerst zumindest würde der Minotaurus ihr nichts tun, und falls er sich als gesprächig erwies, konnte sie vielleicht etwas erfahren. »Du bist ein bezahlter Soldat?« fragte sie. »Wie die Ettins und die Thanoi?«
Der Minotaurus wandte ihr das Gesicht zu. Seine Augen blitzten, und seine großen Nüstern blähten sich auf. Toj trug einen Stahlring durch die Nase und einen weiteren durch das rechte Ohr – Rangzeichen bei manchen Minotauren, wie Kitiara wußte. Sie sah breite Zähne blitzen. Seine Doppelaxt schwang gefährlich hin und her; die Muskeln seines Oberarms zuckten, während er die schwere Waffe bewegte. Als der Minotaurus schließlich sprach, bebte seine Stimme vor Zorn.
»Ich bin Söldner«, sagte er. »Ich kämpfe für Lohn. Es gibt keine besseren Kämpfer als die Minotauren. Diese Fischmänner«, er wies verächtlich auf einen stoßzahnbewehrten Thanoi, »haben das Hirn einer Schneeflocke. Sie glauben, der Valdan würde ihnen das Eisreich überlassen, wenn der Krieg gewonnen und das Eisvolk fort ist. Fischäugige Idioten! Die Ettins sind Sklaven. Sklaven. Und auch sie sind dumm, so dumm, daß sie noch nicht einmal kapieren, daß sie Sklaven sind. Vergleiche einen Minotaurus nicht mit einem Thanoi oder Ettin. Uns nennt man nicht im gleichen Atemzug mit solchem Gewürm. Wir sind die Krieger. Unsere Aufgabe ist es, die Welt zu erobern. Bei Sargas, wir sind die Erwählten!«
Toj stieß Kitiara mit der Axt an. »Weiter«, befahl er, und sie stapfte wieder los.
Hier war es wie in jedem Heerlager: laut, dreckig, stinkend. Aber nach dieser Rede schien der Minotaurus nichts weiter sagen zu wollen. Kitiara warf ihm verstohlene Blicke zu, während sie weiterging.
Minotauren bewohnten im allgemeinen Küstenstreifen. In ganz Ansalon waren sie als gewiefte Schiffsbauer und Seeleute, aber auch als tollkühne Krieger bekannt. Kitiara fiel die Warnung ein, die ein Söldner ihr vor Jahren gegeben hatte: Ergib dich nie einem Minotaurus, denn das wird als Zeichen der Schwäche angesehen und durch Hinrichtung bestraft. Männer wie Frauen wurden für die Schlacht ausgebildet, und beide zogen gleichermaßen in den Krieg. Toj mit seinen fast zwei Fuß langen, geschwungenen Hörnern war ein beeindruckendes Exemplar seiner Rasse. Sein Stiergesicht war von rotbraunem Flaum bedeckt, der am Rest seines massiven Körpers zu kurzem Pelz wuchs. Trotz der Kälte trug er nur Lederharnisch und Kilt. Mehrere Schlingen am Harnisch hielten eine Peitsche, einen Morgenstern und einige Dolche.
Schließlich hielten sie auf einem Grat über einem flachen Tal. Toj und Kitiara waren am Ende der Eisblockreihe angelangt. Nicht weit vor ihnen zogen Dutzende von Männern, Frauen und Kindern in Lumpen und schmutzigen Jacken stöhnend an einem dreifach mannshohen Eisblock. Stricke, die wahrscheinlich aus Robbenhaut bestanden, fesselten sie an den Block, der sich bei jedem Ruck nur einen knappen Fingerbreit bewegte.
»Eisvolk?« fragte Kitiara.
Der Minotaurus nickte. »Wir haben zahlreiche Dörfer erobert«, bemerkte er.
Die Gefangenen sahen so aus, wie es bei Menschen in so rauhem Klima zu erwarten war. Ihre Haut war ledern, die Haare lang. Kitiara hatte von diesem Nomadenvolk aus den Schneegebieten gehört, von den besonderen Waffen aus verdichtetem Eis, dem außergewöhnlichen Stolz und den Eisbooten. Die Gefangenen wirkten, als hätten sie tagelang nichts zu essen bekommen.
»Die Überlebenden geben gute Sklaven ab – solange sie durchhalten«, sagte Toj. »Aber sie sind rasch verbraucht.«
Noch während dieser Worte brach einer der Männer lautlos zusammen und wurde von einem triumphierenden Ettin weggetragen. Die übrigen zogen den Block mit einem letzten Kraftakt in die Reihe der anderen. Dann wurden sie von bewaffneten Ettins und Thanoi wieder in die Weiten des Eisreichs getrieben.
»Wozu diese Mauer aus Blöcken?« fragte Kitiara.
Der Minotaurus lachte. Das Geräusch klang eigentümlich muhend.
»Der Zauberer hat gesagt, du wärst nicht nur dickköpfig, sondern auch neugierig«, stellte Toj fest. »Es sieht aus wie eine Mauer, und mehr ist es auch nicht. Es gibt noch eine Mauer weit im Süden. Die ist ein natürliches Gebilde und viel größer als diese, aber für uns von keinem strategischen Nutzen. Der Valdan will, daß hier eine zweite gebaut wird, um den Feind aufzuhalten, falls er kommt.« Er zeigte darauf. Obwohl seine Beine in Stierhufen endeten, waren seine Hände wie die eines Menschen. »Die Mauer leitet den Feind zu einer Gletscherspalte. Die Öffnung ist nicht zu sehen. Der Zauberer hat einen Spruch darüber gelegt, und es heißt sogar, daß die Spalte sich bewegt, obwohl ich vermute, daß das nur Erfindung ist, um die Thanoi vom Umherstreunen abzuhalten. Der Feind wird die Gefahr jedenfalls nicht erkennen, bis alle seine Soldaten in den Tod stürzen!«
»Und wer ist der Feind?« fragte sie rasch. »Ganz Krynn«, erwiderte der Minotaurus ebenso schnell. »Jeder, der sich uns in den Weg stellt.« Er warf ihr einen verschlagenen Blick zu. »Du tätest gut daran, dich uns anzuschließen, Hauptmann Uth Matar. Wie ich höre, hast du eine ungewöhnliche militärische Begabung. Der Valdan könnte dich gebrauchen. Ich hätte nichts gegen eine solche Hilfe.«
Kitiara schnaubte. »Irgendwie bezweifle ich, daß ich dazu Gelegenheit bekomme. Der Zauberer scheint mich nicht zu mögen.«
»Oh, aber Zauberer Janusz ist nicht der Feldherr. Es ist der Valdan, den du beeindrucken mußt. Vielleicht erweist er sich gnädig.«
Kitiara war wirklich versucht. Der Valdan hatte die Macht. Aber der Zauberer würde nie zulassen, daß sie einen eigenen Handel mit dem Valdan abschloß. Sie zuckte mit den Schultern, und Toj ließ das Thema fallen.
Sie schlossen ihren Rundgang durch das Lager ab. Lida und Janusz warteten schweigend, als Toj sie zum Schlitten führte. Die Feindseligkeit zwischen den Zauberkundigen war offensichtlich. Sie vermieden es sogar, einander anzusehen. Res-Lacua stürmte heran. Er rülpste und stank nach Fisch. Wortlos bestiegen Kitiara und Lida den Schlitten, doch diesmal gesellte sich Janusz zu ihnen. Die Schreckenswölfe warfen sich ins Geschirr, und sie ließen das Lager hinter sich.
»Eindrucksvoller Vorposten, was, Hauptmann?« sagte Janusz schließlich.
»Ausreichend«, sagte Kitiara. »Es fehlt noch ein fähiger Befehlshaber, der die Truppen in Form bringt, aber die Möglichkeiten sind da – bei richtiger Führung.« Lida warf ihr einen erstaunten Blick zu.
Der Magier warf den Kopf zurück und lachte. »Ach, Kitiara, du hast Nerven! Das muß ich dir lassen.«
Der Ettin rannte hinter dem Wolfsschlitten her. Auf dem Boden des Schlittens sah Kitiara im Schatten das Stück Schiefer, das mit ihr vom Düsterwald herteleportiert worden war. Sie hatte es vorhin fallen lassen. Jetzt rutschte sie darauf zu, um es mit dem Stiefel zu verdecken.
Es begann zu schneien, und bald waren sie von gefrorenem Schnee bedeckt.
Der Ettin strahlte angesichts der Eisschicht auf seinem fast nackten Körper. Lida und Kitiara zogen gegen den gnadenlosen Wind ihre Mäntel enger um sich.
»Wenigstens stinkt er in dieser Kälte nicht so«, murmelte Kitiara. Lida lächelte nur andeutungsweise.
Sie fuhren bergauf. Bald wurde Kitiara klar, daß sie eine weitere Stufe des Gletschers erklommen.
Die Wölfe flogen über den tiefer werdenden Schnee. Lida schien in Träume zu versinken. Sie döste ein, erwachte jedoch mit einem Aufschrei, als sie rückwärts vom Schlitten kippte. Kitiara sprang hinter ihr her und riß die Zauberin hoch, während sie mit ihren Flüchen die Wölfe von ihr fernhielt. Der Zwischenfall amüsierte Janusz und den Ettin, doch was wichtiger war – das Durcheinander lenkte sie ab. Nachdem Lida gerettet war, steckte das scharfe Stück Schiefer sicher in Kitiaras Tasche, und die Kriegerin war überzeugt, daß keiner ihrer Feinde davon wußte. Es war nicht viel, aber es mochte sich als hilfreich erweisen.
Die Reise ging weiter. Alle versanken in Schweigen, das von nichts als dem Hecheln der Wölfe und dem Knirschen des Schnees durchbrochen wurde. Der Ettin hatte aufgehört zu summen.
Irgendwann ließen Schnee- und Eisregen nach, und die grauen Wolken wichen dem wohl hellsten Sonnenschein, den Kitiara je gesehen hatte. Die Sonne wurde von der weißen Umgebung zurückgeworfen, bis Kitiara vor Schmerz die Augen tränten. Den Ettin schien das gleißende Licht nicht zu stören. Kitiara und Lida zogen die Kapuzen ihrer Pelzmäntel über, kniffen die Augen zusammen und senkten den Blick. Erst da merkte Kitiara, daß die Fahrt zu Ende war. »Aussteigen«, befahl Janusz.
»Hier?« Kitiara hob den Kopf. Einen Augenblick lang sah sie nichts als Schnee. Dann paßten sich ihre tränenden Augen an, und sie sah einen graublauen Spalt vor sich. Sie und Lida kletterten aus dem Schlitten und streckten sich, um ihre steifen Muskeln zu lockern.
Hinter dem Schatten stieg der Gletscher steiler an als alles, was sie bisher gesehen hatten. »Schloß«, sagte der Ettin.
Kitiara und Lida sahen sich um und blickten einander dann verwundert an. Es war keine Behausung in Sicht und schon gar kein Schloß.
»Magie?« flüsterte Kitiara. »Ist es unsichtbar?« Lida schaute sich um. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich sehe kein Anzeichen von Magie.« Der Ettin zeigte auf das Eisgebirge vor ihnen. »Vielleicht werden wir wieder teleportiert«, überlegte Kitiara. Ihre Gedanken waren nicht bei der Sache, als sie vorwärts ging. Plötzlich stießen ihr starke Hände ins Kreuz. Sie fiel in das Blaugrau. In den Schneeschatten. Ins… Nichts.
Kitiara hörte Lida schreien und sah die Zauberin mit ihr in die Leere stürzen. Während Kitiara mit den Armen rudernd und sich drehend fiel, erkannte sie ihren Fehler. Sie war in eine schneebedeckte Gletscherspalte gestoßen worden, die im gleißenden Licht der untergehenden Sonne nicht zu sehen war. Sie sah Bruchstücke vom Himmel, eine glatte Wand, ein fernes V auf dem Grund, das mit erschreckender Geschwindigkeit auf sie zuraste. Als sie sich herumwarf, sah sie den Zauberer des Valdans wie eine Feder oben schweben. Warum sollte er sie umbringen, ehe er wußte, wo die Eisjuwelen waren? Das war völlig unlogisch.
Die Kriegerin sah Eiszacken auf dem Grund der Spalte. Es gab nichts, was sie tun konnte. Weit oben sah man nur noch einen Lichtpunkt. Wieder hörte sie Lidas Kreischen. Kitiara gab einen Strom von Unflätigkeiten von sich. Wenigstens würde sie den Göttern zeigen, daß Kitiara Uth Matar das Leben nicht maunzend wie ein Kätzchen verließ wie diese Zauberin.
Beim Fluchen fiel ihr das ungeborene Kind ein. Kitiara würde sterben, ohne dieses Baby zu bekommen. Nein, versicherte sie sich, sie hätte es sowieso nicht bekommen. Es gab schließlich Zauberer, die sich gegen Bezahlung um solche Unannehmlichkeiten kümmerten.
Aber…
Sie verdrängte den Gedanken.
Hätte ihr Baby ihre schwarzen Locken gehabt? Cavens schwarze Augen? Oder Tanis’ spitze Ohren und seine schrägen, haselbraunen Augen? Hätte es wohl die irritierende, urteilende Mentalität des Halbelfen geerbt, immer das Rechte tun zu wollen?
Tat sich da unten in der Gletscherspalte, durch die sie stürzte, nicht eine weitere Spalte auf?
Kitiara wäre bei den Geburtswehen tapferer gewesen als ihre Mutter, das wußte sie.
Obwohl sie glaubte, daß sie gleich sterben würde, tröstete sich Kitiara mit dem Gedanken, daß sie bei den Geburtsschmerzen nicht gewimmert hätte. Sie hätte die Hebamme mit ihrer Tapferkeit in Erstaunen versetzt. Nein, erinnerte sich Kit wieder, sie hätte das Baby doch gar nicht bekommen. Oder, fügte sie hinzu, wenn sie es geboren hätte, hätte sie es jedenfalls sicher nicht behalten.
Sie hatte sich nie vor einer Schwangerschaft geschützt. Ihr war nie der Gedanke gekommen. Wie konnte ihr Frauenkörper sie derart verraten haben?
Dann verschwand Lida – in einem Seitenkanal.
Kitiara raste ihr hinterher. Ganz plötzlich verlangsamte sich ihr Fall, als wäre sie aus der Luft in ein dichteres Element gelangt. Unter ihr schwebte Lida jetzt mit den Füßen nach unten zum Boden eines Schachtes. Kitiara landete neben ihr. Sie hörte Janusz husten. Als sie herumfuhr, sah sie den Zauberer dreißig Fuß höher in einer Wandöffnung stehen. Er hob die Hand zum spöttischen Willkommensgruß. Kitiara sah weg.
Sie waren in einem Verlies, doch es war ein Verlies, wie Kitiara es noch nie gesehen hatte. Dieses Gefängnis war nur aus Eis errichtet, aus riesigen Schollen. Die Wände erstreckten sich ohne Risse über Hunderte von Fuß nach oben.
An den Rändern des Verlieses baumelten ohne sichtbare Aufhänger ein Dutzend Leichen in unterschiedlichen Zerfallsstadien. Kitiara hörte Lida würgen. Die Kriegerin erkannte die Kleidung der Leichen – die weißen Mäntel des Eisvolks. Sie blickte wieder zu Janusz.
»Die Eisjuwelen stammen aus dem Eisreich«, sagte der alte Magier gelassen. »Da bin ich sicher. So sicher wie darin, daß das Eisvolk weiß, wo man nach diesen Steinen schürfen kann.« Er wies auf die vertrockneten Krieger. »So enden alle, die mir das Wissen verweigern, das ich zu bekommen wünsche. Solltest du dir merken, Hauptmann.«
Die Wände des Kerkers waren glatt, als wären sie geschmolzen und wieder gefroren, fand Kitiara. Der Boden hingegen war mit etwas bedeckt, das wie dickes Segeltuch aussah. Sonst gab es keine Polsterung, doch sie und Lida waren unverletzt gelandet. Lida schien vom Anblick der Leichen wie hypnotisiert. Ihr Gesicht wirkte in dem kalten Licht, das von den Wänden ausging, aschblau.
Nun bückte sich die Kriegerin und klopfte sich den Schnee von Hosen und Mantel. Endlich war ihr mal warm genug, obwohl sich die Eiswände nach oben erstreckten, so weit sie sehen konnte. Kitiara ging auf die nächste Leiche zu und streckte die Hand nach dem Toten aus.
»Woran sind sie wohl aufgehängt, was meinst du?« flüsterte sie Lida zu. »Was – «
»Nicht anfassen!« rief Lida aus. Zu spät und zu weit weg streckte sie die Hand aus, um die Bewegung der Kriegerin aufzuhalten.
Kitiara hatte die Fingerspitzen an die Eiswand gelegt. Sie war kalt, aber nicht allzu…
Dann runzelte sie die Stirn und zog.
Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand waren an der Wand festgefroren. Hinter und über sich hörte sie, wie Janusz lachte.
Im Nu war Lida bei ihr. »Faß die Wand nicht noch mit der anderen Hand an«, warnte sie, während sie Kitiaras Finger untersuchte. »Tut es weh?«
Kitiara schüttelte den Kopf. »Was ist das für ein Zeug?«
»Eis«, erwiderte Lida gereizt. »Hast du noch nie im Winter mit der Zunge eiskaltes Metall berührt? Das hier funktioniert genauso. Aber ich habe dich gewarnt. Hörst du denn nie auf irgend jemanden außer Kitiara Uth Matar?«
Was für eine Frechheit! »Ich steh’ doch nicht hier rum und lass’ mich von einer wie dir beleidigen«, fauchte Kitiara.
»Nein?« fragte Lida. »Und wo willst du hin, Hauptmann Uth Matar?« Von der gefrorenen Wand ringelte sich dünner Dampf hoch.
Kitiara starrte Lida an. Dann drehte sich die Kriegerin wieder zur Wand um, umklammerte mit der linken Hand ihr rechtes Handgelenk und zog. »Ich brauche einen Dolch oder so etwas. Dann schneide ich mich los.«
In der Tasche tastete sie nach dem scharfen Stein, den sie im Wolfsschlitten heimlich aufgehoben hatte. Obwohl sie in einem schwierigen Winkel stehen mußte, begann Kitiara, mit der linken Hand ungeschickt das Eis um ihre gefangenen Finger abzuschlagen. Das Zeug schien hart wie Eisen zu sein. Janusz lachte wieder. Dann hörte der alte Magier auf und bellte Lida ein paar Worte in einer anderen Sprache zu. Es klang wie Altkernisch. Kitiara hatte die Diener des Valdans einige Male in dieser Sprache reden hören, wenn sie nicht wollten, daß die fremden Söldner sie verstanden.
Wortlos sah Lida ihren einstigen Lehrer an, der ihre wahre Identität noch nicht erkannt hatte. Dann wandte sie sich Kitiara zu. »Laß mich mal.«
Zweifellos würde Lida mit zwei Händen mehr bewerkstelligen als Kitiara mit einer. Kitiara übergab ihr das Stück Schiefer.
»Mach die Augen zu«, sagte Lida. Obwohl Kit sich über ihre eigene plötzliche Fügsamkeit wunderte, befolgte sie die Anweisung der Zauberin.
Mit leisem Gemurmel näherte Lida sich Kitiara. Sie schien jemanden anzurufen – einen Gott. Kitiara hörte etwas rascheln und wußte, daß Lida in einer Tasche ihrer Robe kramte. Ein leichter Hauch warmer Luft streifte Kitiaras linke Wange. Er hob sich von der Kälte ab, die von der Wand ausging. Kitiara merkte ein kräftiges Tippen an jedem Finger, machte jedoch die Augen nicht auf.
Sie zog an ihrer Hand, und da bewegte sich das Eis unter ihren Fingern. Es war, als wäre das Eis einen Herzschlag lang getaut und wieder gefroren. Doch ihre Finger klebten immer noch an der Wand.
»Ich dachte, du könntest hier nicht zaubern?« flüsterte Kit.
»Janusz hat mich freigegeben«, entgegnete Lida mit normaler Lautstärke. »Er sagt, selbst im vollen Besitz meiner Kräfte wäre ich hier keine Gefahr.« Sie schluckte, holte tief Luft und fuhr fort. »Bleib ruhig. Wenn du merkst, daß das Eis zittert, ziehst du. Paß auf, daß du das Eis nicht mit der anderen Hand oder überhaupt mit bloßer Haut berührst. Ich glaube, so wird es gehen. Ich habe es noch nie probiert.«
Lida flüsterte weitere magische Worte.
Kitiara riß die Augen auf. »Du glaubst…?«
»Zieh!«
Und Kitiara zog. Sie verspürte kurz einen heftigen Schmerz, dann war ihre Hand frei. Sie sah die Wand an. Fünf kleine Vertiefungen waren im Eis zu sehen. Noch während sie hinsah, wurde das Wasser wieder zu Eis. Als sie ihre Hand untersuchte, waren die Fingerspitzen blaßblau, aber heil. »Gute Arbeit«, knurrte Kitiara.
»Allerdings«, kommentierte Janusz von oben. »Ein kleiner Trick, der zu einer Karnevalsfeier paßt. Ich könnte dir soviel mehr beibringen, Lida.«
Kitiara fuhr zu Lida herum. »Das hat er dich drüben im Minotaurenlager gefragt, hm?« fragte Kitiara. »Als ich fort war. Er hat dich gebeten, dich ihnen anzuschließen. Und du hast abgelehnt, hm?«
»Ich bin keine Verräterin«, schimpfte Lida. »Ich mache keine gemeinsame Sache mit dem Feind.«
Plötzlich wurde Janusz zur Seite geschoben. Ein wutverzerrtes Gesicht trat in die Nische über ihnen.
»Kitiara Uth Matar!« donnerte der Valdan. Seine roten Haare standen wie eine Krone von seinem Kopf ab. Lidas Gesicht verzog sich. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
»Wovor hast du Angst, Zauberin?« fragte Kitiara Lida mit durchdringendem Flüstern. »Im schlimmsten Fall endest du als Verbündete eines mächtigen Zauberers. Du bist nicht ernstlich in Gefahr.« Ihre nächsten Worte richtete Kitiara an den Valdan. »Seid Ihr so schwach, daß Ihr Euch hinter den Röcken Eures Zauberers verstecken müßt, Valdan?«
Der Valdan schien aus ihrem Hohn Kraft zu schöpfen. »Du machst es einem so leicht, dich zu hassen, Hauptmann. Aber ich habe dich aus einem bestimmten Grund hierhergebracht.«
»Um die verlorenen Eisjuwelen wiederzubekommen«, fiel Kitiara wieder ein. »Ich habe sie nicht…«
»Töte sie«, warf der Valdan Janusz zu.
»… aber ich weiß, wo sie sind.«
Lächelnd hielt Kitiara dem Blick des Valdans stand. Langsam, fast gegen seinen Willen, brachte auch der Herrscher ein Lächeln zustande. In seinem Blick lauerte Grausamkeit, in ihrem Dickköpfigkeit. »Ich kenne dich gut genug, Kitiara Uth Matar, also weiß ich, daß nicht einmal unsere beste Folter dich zum Reden bringen wird. Deshalb bist du auch so eine herausragende Söldnerin.«
»Deren Fehler Dreenas Tod verschuldet hat«, warf der Zauberer des Valdans ein, doch der Herrscher hörte nicht auf ihn.
»Vielleicht können wir einen Kompromiß aushandeln, Hauptmann«, sagte der Heerführer. »Ich kann dir fast grenzenlose Macht anbieten.«
»Sobald ihr die Eisjuwelen habt, bringt ihr mich um«, sagte Kitiara.
»Wir könnten auch deine Freundin martern, die alte Dienerin meiner Tochter. Vielleicht stimmt dich das um.«
Kitiara warf der jungen Magierin einen kalten Blick zu. »Wir sind keine Freunde«, erwiderte Kitiara. »Macht mit ihr, was ihr wollt.«
Der Valdan lachte. »Wie wäre es dann mit einigen deiner Liebhaber? Mein Zauberer hat mir verraten, daß zwei von ihnen bereits nach Süden eilen – in Begleitung eines schwarzen Hengstes und einer Rieseneule. Ist nicht einer von ihnen der Vater deines Kindes? Das muß doch selbst dir etwas bedeuten.«
Lida sagte: »Ihr habt sie gefunden? Und die Rieseneule ist bei ihnen?« Sie war den Tränen nahe.
Janusz nickte. »Zu eurem Unglück haben Kitiara und Caven persönliche Dinge zurückgelassen, als sie aus dem Lager des Valdans geflohen sind. So hatte ich etwas aus ihrem Besitz, mit dessen Hilfe ich sie beobachten konnte. Ich weiß mehr über dein Leben in den letzten paar Monaten, als du vielleicht glaubst, Hauptmann.«
Kitiara überlegte rasch. Der Zauberer glaubte offensichtlich, daß sie die Eisjuwelen versteckt hatte. Das brachte ihr einen kleinen Vorteil – vorläufig. Sie brauchte Zeit, um einen Plan auszuhecken. Und sie brauchte Verstärkung. Wenn sie die Eisjuwelen doch bloß wirklich versteckt hätte. Zur Zeit lagen sie anscheinend entweder vergessen auf der Lichtung im Düsterwald, oder Tanis und Caven brachten sie unwissentlich zum Schlupfwinkel des Valdans.
»Meine Freunde und ich arbeiten zusammen. Sie wissen wichtige Dinge über die Eisjuwelen«, sagte sie leichthin. »Ihr müßt dafür sorgen, daß sie sicher hier ankommen, wenn wir ins Geschäft kommen wollen, Valdan.«
Der Valdan nagelte sie mit seinem stechenden Blick fest. »Vielleicht«, sagte er schließlich. »Denn wenn du lügst, kann ich sie später immer noch töten. Und dich auch. Zumindest könnten eine oder zwei Wochen in meinem Verlies deinen Ton ändern, Hauptmann.«
Damit war er verschwunden. Kitiara hörte, wie die Schritte der beiden im Gang oben verhallten.