»Morgen. Schlafenszeit.«
»Nein. Soldatfrau kommt. Sagt Meister.«
»So schade. Res schläft Tage.«
»Nicht jetzt!«
»Hunger. Bald essen?«
»Vielleicht.«
»Soldaten kommen?«
»Ja, ja.«
»Gut«, beschloß Res. »Sie essen.«
»Nein!« Der linke Kopf des Ettins versuchte sich an das Wort zu erinnern, das der Meister benutzt hatte. Ein langes Wort und schon so lange her – fast eine Stunde. Der Meister hatte den linken Kopf gezwungen, das Wort – und die Warnung – viele Male zu wiederholen. »Entführen!« krähte Lacua endlich, als es ihm einfiel. »Nicht essen. Nicht, nicht, nicht.« Seine wäßrigen Schweinsäuglein blinzelten. Die linke Hand des Ettins schwang bei jedem »nicht« die Keule.
Der rechte Kopf spuckte aus. Dann hellte sich Res’ Miene auf. »Sind vier«, drängte er. »Einen entführen«, er zögerte, weil das Rechnen so schwer war, »Rest essen?«
»Entführen«, wiederholte Lacua. »Nicht essen. Nicht.«
»Einen? Nur?«
Diesen Vorschlag gab es zu bedenken. Der Meister, mit dem er kurz vor Sonnenaufgang durch den Redestein gesprochen hatte, hatte befohlen, die Soldatfrau zu einem bestimmten Berg im Düsterwald zu locken, sie zu fangen und zu warten. Aber zu ihren Begleitern hatte Janusz sich nicht geäußert. Die Frau sollte entführt werden, hatte der Zauberer gesagt. Das bedeutet… ja, was? Die anderen sollten nicht entführt werden? Oder doch? Lacua grübelte. Die vielen Möglichkeiten machten ihm Kopfschmerzen. Aber schließlich entschied er: »Frau fangen, ein Nichtfrau essen.« Die beiden Köpfe lächelten und zeigten dabei ihre verfaulten Zähne. Der Ettin, dessen vier Äuglein nach Niederwild Ausschau hielten, wanderte weiter nach Norden und achtete darauf, reichlich Fußspuren zu hinterlassen, wie es der Meister befohlen hatte.
Stunden später, als die Sonne gerade den Zenit überschritten hatte, standen Tanis und seine Gefährten an derselben Stelle und starrten auf die Fußspuren – fast drei Finger tief, der rechte Fuß größer als der linke – und dann in die Richtung, in die sie führten.
»Düsterwald«, flüsterte Caven. Tanis nickte, während seine Augen das Unterholz absuchten.
Es gab keinen langsamen Übergang von ihrem Wald zum nächsten. Vielmehr war es, als habe der eisige Finger eines wütenden Gottes zwischen den Bäumen eine Linie gezogen. Die auf der einen Seite behielten ihr normales Aussehen, während die anderen abstarben oder sich krümmten. Ein feuchter Wind drang aus dem Wald, bei dem es den beiden Männern kalt den Rücken hinunterlief. Obwohl ein leichter Wind die alten Blätter bewegte, nahmen ihre Ohren kein Geräusch wahr.
Wod fummelte in der Mähne seines Pferds herum. »Das ist die Stille des Abgrunds«, sagte er leise. Kitiara schlug ihm auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Halbelf«, sagte Mackid fast flüsternd. »Eins muß ich dir sagen: Ich ziehe schon lange auf Ansalon herum, aber so ein böses Land habe ich noch nie gesehen.« Tanis nickte wieder. Er war tief in Gedanken versunken.
Ohne weitere Worte stiegen die Gefährten ab und zogen ihre Schwerter. Selbst Wod hatte ein kleines Messer, das ihm offenbar einen gewissen Trost spendete. Plötzlich meldete sich der Junge wieder, diesmal mit zitternder Stimme. »Die Bäume bluten!« Bebend zeigte er auf eine Pinie.
Die anderen drei sahen zu der Stelle hin, auf die der Knappe wies. Über Cavens Gesicht legte sich ein seltsamer Ausdruck. »Bei den Göttern, Wod, das ist nicht die rechte Zeit für Scherze!« fuhr er auf. Mit geballten Fäusten wollte er auf den Jungen losgehen.
Mit einer Hand zog der Halbelf Caven zurück. »Du siehst Blut, Wod?« fragte er ruhig.
Die Stimme des Jungen klang schrill. Mit bebenden Händen und zitterndem Messer stieg er auf, wobei er fast die Zügel durchgeschnitten hätte. »Seid ihr alle blind? Seht ihr es denn nicht?« schrie Wod. »Blut, halbverkrustet, es rinnt in dicken Tropfen die Rinde herab.« Er riß an den Zügeln, doch inzwischen stand Kitiara neben dem Pferd, nahm dem Jungen das Messer ab und hielt seine Stute fest.
Tanis sah sich noch einmal den Baum an, konnte jedoch nichts Unauffälliges entdecken. Er sah nur einen Streifen von etwas, das wie Harz aussah – leicht rosa, richtig, aber eindeutig Harz, kein Blut. Er redete auf Wod ein, wie er auf ein scheuendes Pferd eingeredet hätte. »Nur an diesem Baum, Wod? Oder auch an anderen?«
Caven schwollen die Halsadern an. »Du glaubst diesem feigen –?«
»Er sieht etwas«, unterbrach ihn Tanis. »Vielleicht können wir unseren Sinnen nicht trauen. Der Düsterwald kann verschiedenen Augen unterschiedlich erscheinen.«
»Der Düsterwald«, wiederholte Caven. Sein Zorn war ebenso schnell verraucht, wie er aufgeflammt war. Er nagte an seiner Unterlippe. »Vielleicht sollten wir erst morgen früh hineinreiten«, schlug er vor. »In ein paar Stunden wird es schon dunkel. Und wenn sie hinten in Haven zehnmal fünfzehn Stahlmünzen für den Ettin bieten, das ist es nicht wert, dafür nachts durch den Düsterwald zu schleichen. Wir sollten vernünftig sein und bis morgen warten.«
Tanis sagte nichts. Er hatte eine ähnliche Taktik vorschlagen wollen. Doch Kitiara schnaubte nur. Sie war von einem Fuß auf den anderen getreten, während die beiden Männer die Fußspuren untersucht und festgestellt hatten, daß der Ettin im Wald verschwunden war. »Ihr drei könnt euch ja draußen verstecken, aber ich für mein Teil habe keine Angst vor dem Unbekannten!« rief sie. »Außerdem ist die Spur frisch. Der Ettin kann nicht weit sein. Wir können ihn fangen und bis zum Abend schon wieder auf dem Weg nach Haven sein.«
Sie sprang auf Obsidian und lenkte die Stute in den Wald, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand folgte. Wod begann sein Pferd rückwärts vom Wald fortzulenken.
Die anderen beiden blieben, wo sie waren. »Wir können sie doch nicht allein da reinlassen, Halbelf«, sagte Caven fast flehentlich.
»Hatte ich auch nie vor«, sagte Tanis kurz angebunden und ging auf seinen Wallach zu. »Du kannst natürlich umkehren.«
Caven wurde rot. Dann forderte er Wod auf, sich in Gang zu setzen – vorwärts –, bestieg Malefiz und drängte den Hengst an Paladin vorbei. Ängstlich bemüht, an einem so bedrohlichen Ort nicht allein zurückzubleiben, folgte ihnen Wod in den Düsterwald.
Die Verfolgung war einfach – fast lächerlich einfach, wie der Halbelf fand. Entweder war das Wesen ausgesprochen dumm, daß es so offensichtliche Spuren hinterließ, oder es hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, jeden Verfolger abzuwehren. Tanis mußte nicht einmal absteigen, um die Spur mit den fünf Zehen zu sehen. Jeder Fußabdruck war so lang wie seine Hand und sein Unterarm.
Gebrochene Äste und von schweren Füßen zertretene Piniennadeln wiesen ihnen den Weg. Ihr Pfad schlängelte sich zwischen verkrüppelten Pinien hindurch und erwies sich stellenweise als kaum passierbar. Die Pinien drängten sich um sie zusammen; manchmal standen die Stämme gerade eben weit genug auseinander, um ein Pferd durchzulassen. Es war beinahe so, als ob die Bäume nach allem langten, was sie streifte, überlegte Tanis. Mit einem Fluch vertrieb er diesen Gedanken und sah sich mißtrauisch um. Hoch über ihren Köpfen breiteten die Nadelbäume ein dichtes Dach über ihnen aus. Dunst schien über dem Wald zu liegen – zumindest kam es dem Halbelfen so vor. Die Luft des Spätnachmittags war gelblich grau und drückend feucht, und Tanis stellte fest, daß er nur wenige Schritte weit sehen konnte.
Eine Zeitlang ritten sie schweigend dahin. Tanis führte die Gruppe, gefolgt von einem nachdenklichen Caven, einer betont unbeschwerten Kitiara und direkt hinter Obsidians Hufen dem widerwilligen Wod. Immer wieder warf der Knappe angeekelte Blicke auf den einen oder anderen Baumstamm und lenkte sein Pferd in weitem Bogen drumherum. Caven wurde immer schreckhafter. Bisher hatte der Halbelf nichts Seltsameres als den lastenden Dunst entdeckt. Dennoch kam es ihm so vor, als ob jedes Lebewesen um ihn herum – und an die Geschichte über Tote wollte er gar nicht erst denken – auf den Punkt starrte, wo sein Puls an der Kehle klopfte. Vergeblich versuchte er, den Dunst mit seiner Nachtsicht zu durchdringen. »Wird es im Düsterwald früher dunkel?« murmelte er in sich hinein.
Tanis hörte einen Aufschrei, als Caven Malefiz etwas langsamer gehen ließ und Obsidian praktisch in den schweren Hengst hineinrannte. Malefiz trat nach Kitiara und ihrem Pferd. Kitiara blieb zwar fest im Sattel, als Obsidian beiseite sprang, griff jedoch zu ihrer Peitsche und zog Cavens Hengst damit eins über. Schnaubend tänzelte Malefiz zur Seite, blieb aber stehen, da Caven an den Zügeln riß. Wod, den der Hengst aus Mithas schon oft gequält hatte, kicherte nervös. Die glänzende Haut des Hengstes war häßlich aufgeplatzt, und Blut quoll hervor. Caven wollte Kitiara Vorwürfe machen.
Die Kriegerin fauchte ihn an und schnitt ihm gleich das Wort ab. »Wenn du mit mir unterwegs bist, Mackid, hältst du dein Pferd im Zaum, oder ich bringe es um – mit bloßen Händen, wenn nötig. Verstanden, Soldat?«
Mackid nickte mit offenstehendem Mund. Kitiara holte tief Luft. Zweifellos wollte sie dem Mann weiter den Kopf waschen, doch der Halbelf unterbrach sie.
»Bis jetzt dachte ich, du habest vor gar nichts Angst, Kit«, sagte Tanis. »Aber jetzt sehe ich, daß du es nur besser verbergen kannst als wir anderen.«
»Ich – «, setzte sie mit wütenden Blicken an. »Was für ein Temperament«, murmelte der Halbelf. Kitiara war sprachlos. Tanis fragte den Jungen: »Bluten die Bäume immer noch, Wod?« Der Knappe biß sich auf die Lippe, warf einen Blick auf einen Ahornschößling neben sich und nickte. Der Halbelf nahm das zur Kenntnis und fragte dann Caven: »Und was siehst du, Mackid?« Als der Söldner aus Kern nur den Kopf schüttelte, sagte Tanis: »Ich sage euch, was ich sehe. Ich sehe Dunst, wie tropischen Nebel, der sich um uns schließt.«
»Wie ein Leichentuch«, fügte Wod hinzu, dem die Worte einfach so zu entschlüpfen schienen.
»So sieht es Wod. Was ist mit euch?«
Kitiara stieß etwas aus wie »dieser Haufen abergläubischer Schwächlinge.« Caven sah sie an, zog eine Augenbraue hoch und sagte dann gedämpft zu Tanis: »Ich sehe Männer, die sich am äußersten Rand meines Sichtfelds in diesem verdammten Wald aufstellen.«
»Männer?« Tanis sah dorthin, wo Caven es zeigte, doch der Halbelf sah nichts als Dunst.
»Ich kenne diese Männer.« Tanis wartete geduldig, bis Caven tief Luft geholt hatte. »Es sind Männer, die ich auf dem Schlachtfeld getötet habe. Sie sind alle da, jeder einzelne. Ihre Wunden bluten noch. Sie haben verstümmelte Glieder, halten ihre Eingeweide fest, damit sie nicht herausquellen. Ihre Augen«, er rang um Worte, »ihre Augen sind scharlachrot, und sie warten hier auf mich, seit wir uns in diesen verfluchten Wald gewagt haben.«
Ein Stöhnen und Krachen ließ sie alle zusammenzucken. Es war Wod, der ohnmächtig neben seinem verängstigten Pferd lag.
Kitiara hänselte Wod pausenlos, nachdem er wieder zu sich gekommen war. Selbst Tanis begann sich über die Kriegerin zu ärgern, und schließlich meinte Caven, Kitiara solle die Nachhut übernehmen. »Dann brauchen wir dein Genörgel nicht mehr zu hören«, erklärte er, als sie Einwände erhob. Kitiara hätte sich gewehrt, doch genau in diesem Augenblick überfiel sie wieder eine Welle von Schwindel und Übelkeit, die sie ebensosehr ärgerte, wie sie ihr zusetzte. Sie ließ die anderen ohne ein weiteres Wort vorausziehen.
Jedenfalls war das nicht mehr der Kater von dem Besäufnis der letzten Nacht, dachte sie, als die anderen drei vor ihr ritten. Sie hatte den ganzen Tag gegen ihre Erschöpfung angekämpft, und einmal hatte sie sich tatsächlich dabei ertappt, wie sie halb vom Pferd rutschte, weil sie im Sattel eingenickt war. Sie hatte sich ruckartig aufgesetzt und ihre Locken zurückgeschüttelt, um den Beinahesturz zu überspielen. Doch diese erneute Welle von Übelkeit und plötzlichem Schwindel war schwerer zu verbergen. Das fehlte gerade noch, erst verhöhnte sie Wod, und dann brach sie selbst zusammen.
Sie hielt ihr Pferd zurück und ließ die anderen drei ein Stück vorausreiten. Alle waren überaus schweigsam; niemand witzelte, wie Kitiara es von anderen Raubzügen gewohnt war. Man hörte nur den Hufschlag der Pferde, das Knarren von Tanis’ Sattel, wenn dieser sich vorbeugte, um die Fußspuren des Ettins zu suchen, und ihre eigenen, angestrengten Atemzüge. Als sie weit genug entfernt waren, lehnte sich Kitiara vorsichtig aus dem Sattel und übergab sich in einen Busch am Weg. Dann zwinkerte sie ein paarmal, um wieder richtig sehen zu können, und spornte Obsidian zum Trab an.
Die Dämmerung brach an. Es war, als ob etwas, das sie beobachtete, beschlossen hatte, daß es an der Zeit sei, die Schlinge zuzuziehen. Sie hatten ihre Schwerter wieder eingesteckt, doch die Hände blieben immer nahe am Gürtel.
»Halbelf«, rief Kitiara. »Kannst du jetzt etwas mit deiner Nachtsicht anfangen?«
»Hab’ ich versucht«, gab Tanis zurück. »Ich sehe nichts als Bäume. Einfach gar nichts – keine kleinen Tiere, keine Vögel. Nichts als den Dunst.«
Kitiara knurrte. Bei einem plötzlichen Geräusch hinter ihr zog sie mit dem Reiben von Metall an gegerbtem Leder ihr Schwert. »Halbelf«, rief sie wieder. »Schau mal nach hinten.«
Tanis und Caven gehorchten. Caven fluchte. »Der Pfad«, murmelte Tanis.
»Weg!« fügte Caven überflüssigerweise hinzu.
Wod stöhnte. Es stimmte. Wie eine Phalanx Soldaten hatten sich die Bäume hinter ihnen geschlossen. Beide Männer zogen ihr Schwert. Wod umklammerte zitternd sein Messer.
In diesem Moment verwandelte sich der Nachmittag urplötzlich in Nacht. In dem einen Augenblick konnten sie einander und die gemarterten Bäume noch sehen, im nächsten sahen sie nur noch undurchdringliche Finsternis.
Wods Stimme drang bebend aus der Dunkelheit. »Onkel Caven?«
»Genau hier.« Mackid hatte sich nicht gerührt, das war Kitiara klar.
»Wenigstens können wir uns hören.« Das war Tanis’ Stimme.
»Wir sind nicht allein«, sagte Kitiara plötzlich.
Die Luft begann zu glühen, und Kitiara sah im Widerschein des Lichts die Gesichter ihrer Begleiter. Das glühende Licht drang aus zwei Augäpfeln. Direkt unter den Augen zeigten sich zwei Skeletthände, die von grünem Feuer umrahmt waren. »Tanis«, wiederholte Kitiara. Ihr Mund war trocken.
»Ich seh’s, Kit.« Tanis stieg ab und kam langsam zu ihr.
»Was ist das?« fragte Caven.
Kitiara antwortete: »Ein Wichtlin.«
»Was ist das?«
Tanis sah Kitiara an. Sie hatte ihren Helm aufgesetzt. Obwohl Obsidian rastlos, fast außer sich vor Furcht herumtänzelte, saß Kitiara gerade aufgerichtet auf ihrer Stute. Mit einer Hand hielt sie die Zügel, mit der anderen das Schwert. Ihr Gesicht war blaß, aber direkt unter der Haut zeichneten sich knallrote Streifen auf ihren Wangenknochen ab. Kitiara war jetzt in ihrem Element, wie Tanis wußte.
Der feuerumsäumte Wichtlin kam nicht auf die Kriegerin zu, doch sein Blick wich nicht von ihr. Ihrer war ebenso fest.
»Wichtlins«, flüsterte Tanis Caven zu, »sind elfische Untote.«
»Bei den Göttern!« stieß Caven aus. »Und es sind nur Augen und Hände, sonst nichts? Wie bekämpft man so etwas?«
»Es ist noch mehr da – der Rest von dem zerfallenen Skelett«, sagte Tanis. »Sei dankbar, daß du es nicht sehen kannst.« Wods Zähne klapperten.
»Und das war mal ein Qualinesti?«
»Silvanesti«, stellte Tanis richtig. »Manche Silvanesti-Elfen, die zu Lebzeiten dem Weg des Bösen folgen, werden nach dem Tod vom Chemosh beansprucht.«
»Dem Herrn über die Untoten!«
»Und sie werden Wichtlins.«
Caven ließ sich einen Moment Zeit, um das zu verdauen. »Was machen diese Wichtlins?« fragte er schließlich.
Bei Cavens Worten setzte sich das Wesen in Bewegung. Es näherte sich Kitiara, die Obsidian ganz ruhig um dieselbe Entfernung zurückweichen ließ. Kitiara beantwortete Cavens Frage: »Ein Wichtlin wandert durch die Welt auf der Suche nach Seelen, die er für Chemosh beanspruchen kann. Seine Berührung ist tödlich.« Sie ließ Obsidian noch einen Schritt zurückweichen.
»Kann man ihn mit dem Schwert umbringen?«
»Das werden wir ja sehen«, antwortete sie leise. Noch während sie das sagte, schlug sie blitzartig zu. Ihre Klinge zuckte durch die Luft und fuhr dem Wesen zwischen Händen und Augen hindurch. Obsidian kam wiehernd vom Pfad ab. Der unverletzte Wichtlin ging auf Kitiara los, die weiter mit dem Schwert auf ihn einhackte. »Halbelf!« schrie sie. »Bei den Göttern, sag mir, wie ich das Ding töten kann.«
Tanis merkte, wie Entsetzen von ihm Besitz ergriff, als der Wichtlin wieder und wieder auf Kitiara Uth Matar eindrang und sie immer weiter vom Pfad und von ihren Gefährten forttrieb. »Magie, soweit ich weiß«, rief er. »Nur Magie.«
»Ich habe keine Magie, aber es muß schon stark sein, wenn es das aushält!« rief Caven aus. Er gab Malefiz die Sporen. Der gewaltige Hengst bäumte sich auf und preschte dann auf den Wichtlin zu, daß die Steine unter seinen riesigen Hufen stoben.
Das bösartige Geschöpf verschwand genau einen Moment, bevor Pferd und Reiter es erreicht hatten.
Verwirrt brachte Caven den Hengst zum Stehen und drehte sich auf dem Pfad um sich selbst. »Wo –?«
»Caven! Hinter dir!« Das war Kitiara.
Caven drehte sich um und sah sich dem Wichtlin direkt gegenüber. Die linke Hand, an der aus jedem Fingergelenk grüne Flammen leuchteten, griff nach ihm. »Caven!« schrie Kitiara wieder. »Er darf dich nicht – «
Aber es war zu spät. Das Wesen berührte Cavens Arm, und der Soldat erstarrte. Auf seinem bärtigen Gesicht stand noch ein entsetzter, ahnungsvoller Ausdruck.
Sobald Caven gelähmt war, schien der Wichtlin das Interesse an seinem Opfer verloren zu haben. Er wandte sich Tanis zu, der sein Schwert bereit hielt, obwohl inzwischen klar war, daß die Waffe gegen dieses Monster nutzlos wie eine Feder war. Der Wichtlin fixierte den Halbelfen mit seinem starren Blick, kam näher und griff an. Kurz darauf stand auch Tanis erstarrt da. Wod wollte fliehen, doch das Wesen verschwand, um gleich darauf direkt vor dem Knappen aufzutauchen, der mit seiner Stute in den Wichtlin hineinrannte und auf der Stelle gefror.
Damit stand Kitiara dem Wichtlin allein gegenüber. Sie zog ihren Dolch und wollte von Obsidian abspringen, die jetzt bis an die Fesseln in einem Gewirr von Bodendeckern stand.
Dann wieherte das Pferd schrill, so daß Kitiara es sich noch einmal überlegte, herumfuhr und – noch einen Fuß im Steigbügel – nach unten sah.
Skeletthände reckten sich zu Dutzenden durch die Pflanzen aus dem Boden empor. Sie hielten die kämpfende Stute fest, die weiter schreckerfüllt wieherte, bis Kitiara glaubte, sie würde verrückt werden. Verzweifelt sah sie sich um. Der Wichtlin kam langsam näher. Die Skeletthände streckten sich aus, um sie zu packen, wenn sie vom Rücken der Stute fiel. Das Pferd erschauerte in Todesqualen, und Kitiara konnte nur sitzenbleiben, weil sie ihren Dolch fallen ließ und sich mit beiden Händen an der sterbenden Stute festhielt.
Dann durchschnitt eine Stimme die Nacht. »Idiandin melisi don! Idiandin melisi don! Verschwindet!«
Kitiara fiel in die wartenden Hände.
Doch die verschwanden, als ihr Körper neben dem Pferd auf der feuchten Erde landete. Einen Augenblick lag die Kriegerin reglos da, denn sie suchte den Wichtlin. Auch der war verschwunden. »Obsidian!« Langsam setzte sie sich auf, streckte eine Hand aus und streichelte dem Tier die leblose Schulter. Als sie ihre langjährige, treue Begleiterin liebkoste, zerfiel das Pferd unter ihren Fingern zu Staub. Einen Moment darauf hatte sich auch die letzte Spur von Obsidian in Luft aufgelöst. Kit stand auf. Sie holte ihren Dolch, den sie im Gestrüpp liegen sah. Langsam drehte sie sich um sich selbst, auf alles vorbereitet, was sie angreifen könnte. Wo war der, dem die Stimme gehörte? Die gerufenen Worte waren eindeutig magisch gewesen, aber war der, der sie gerufen hatte, ihr Retter oder ein neuer Angreifer?
Sie hörte nichts. Caven und Malefiz, die mitten in der Bewegung aufgehalten worden waren, standen wie eine Statue auf einem Dorfplatz da. Wod und seine Stute waren in einer armseligen Nachahmung von Cavens Pose gleichfalls erstarrt. Tanis, den es zu Fuß mitten im Angriff erwischt hatte, zeigte mit dem Schwert genau auf – nichts. Paladin wartete ungerührt hinter dem Halbelfen. Offensichtlich war das Pferd das einzige Lebewesen, das zu sehen war. Es gab keine Spur von dem, der diesen magischen Ruf in der Nacht ausgestoßen hatte.