Zweige und Dornen verfingen sich in Kitiaras weiter Bluse und zerkratzten das Leder ihrer Reithose. Flüche gellten durch die Luft. Ihr war sehr wohl bewußt, daß draußen in der Dunkelheit schattenlose Gestalten lauerten, doch bisher hatten sie nichts weiter getan, als jede ihrer Bewegungen zu verfolgen. Ihr Packsack, den sie sich auf den Rücken gehängt hatte, behinderte sie beim Laufen, doch sie hackte furchtlos mit Schwert und Dolch auf die klammernden Tentakel der Pflanzen ein.
Die Dunkelheit hatte sich etwas zurückgezogen, als wäre Solinari hinter den Wolken aufgegangen. Schwach wie er war, schenkte der Mond Kitiara wenigstens genug Licht, um in jede Richtung ein paar Fuß weit sehen zu können. Vor und hinter ihr verrenkten sich die Bäume hexenhaft. Seufzend wie der Wind hörte man fremde Atemzüge.
Caven Mackid hätte sie für verrückt erklärt, weil sie allein weiterzog. Tanis hätte ihr geraten, den Morgen abzuwarten. Wod hätte angesichts ihrer augenblicklichen, mißlichen Lage höhnisch gegrinst.
Aber sie waren alle tot. Und Kitiara zog bei Nacht durch den Düsterwald – auf der Suche nach einem Weg nach draußen.
Regungslos starrte sie den zerklüfteten Grat zur Linken an, dann nach rechts, wo sie ein Tal erahnte. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, doch sie drang weiter vor, folgte etwas, das wie ein Pfad aussah, auch wenn der Weg, der sie und die anderen drei in den Düsterwald geführt hatte, verschwunden war. Wieder war sie von Zweigen und Ranken umgeben. Reflexhaft strich sich Kitiara eine Ranke aus dem Gesicht.
Ein neuer, plötzlicher Schwindel verursachte einen Schweißausbruch. »Bei den Göttern«, murmelte sie. »Was habe ich mir bloß geholt? Oder bin ich etwa verhext?« Sie wartete kurz ab, bis die momentane Schwäche vorüber war. Kitiaras Haut war von Kratzern übersät; ihr Rücken juckte vor Schweiß und Dreck. Die Dornen hatten ausgefranste Löcher in ihre Bluse gerissen. Aus einem langen Kratzer auf der rechten Wange, der sich bis ans Auge zog, sickerte Blut.
Plötzlich stand etwas vor ihr auf dem Pfad. Sie stieß es mit dem Schwert an. Es wirkte wie ein gewaltiger Haufen Stolperkraut. Bestimmt würde er bei einem kräftigen Stoß in das Tal da unten kullern. Sie stieß mit einer Hand gegen den verschlungenen Ball, doch als dieser erstaunlich verwurzelt erschien, lehnte sie sich mit der Schulter dagegen und schob. Augenblicklich erkannte sie ihren Fehler. Hunderte von winzigen Häkchen schossen in das Vorderteil ihres Hemds. Fangarme peitschten um ihre Knöchel und Handgelenke. Ein zögernder, zitternder Arm kitzelte ihre Halsgrube. Sie versuchte, sich von den Dornen loszureißen. Der Arm an ihrem Hals fuhr trotzdem an ihrer Halsschlagader entlang.
Fluchend hackte Kitiara mit dem Schwert auf das Gestrüpp ein – war es dichter als zuvor? –, bis das Gewächs von ihr abließ. »Aha«, murmelte sie. »Also kann man auch dich bekämpfen.« Sie ging erneut auf die Dornenranken zu und lächelte, als sie sah, daß diese sich vor ihr zur Seite bogen.
Dann machte Kitiara noch einen Schritt, und der Dornbusch, der Pfad, der Grat und das Tal – alles war verschwunden. Zugleich wurde die Nacht wieder dunkler, als wäre Solinari eine Kerze gewesen, die man plötzlich ausgeblasen hatte. Kitiara griff mit links nach vorn und zog vorsichtig den Dolch vor und zurück. Die Spitze traf auf etwas Hartes, Großes – zu weich für Fels. Das Schwert kampfbereit, steckte Kitiara den Dolch ein und griff wieder mit bloßer Hand nach vorn. Ihre Finger berührten etwas Weiches und Hartes, fuhren eine Wölbung nach, fanden einen welligen Rand und folgten ihm – es war eindeutig ein Stiefel.
Es war die Steinstatue, zu der Caven und Malefiz geworden waren.
Kitiara stand wieder auf der Lichtung bei ihren Gefährten.
Unbeirrt brach Kitiara wieder nach Haven auf, diesmal auf einem anderen Pfad. Eine Stunde später traf die Kämpferin auf dasselbe undurchdringliche Gestrüpp und landete wieder auf der Lichtung.
Da setzte sich Kitiara zornig an einen Baum und legte das Schwert über ihre Knie, um auf die Dämmerung zu warten. Obwohl sie sich geschworen hatte, wach zu bleiben, war sie im Handumdrehen fest eingeschlafen.
Vielleicht war es ein sechster Sinn, der sie warnte. Vielleicht erwachte sie durch die starken Gefühle aus ihrem Traum, in dem ihre tote Mutter mitten auf einer Brücke stand und nach ihr rief. Auf jeden Fall öffnete sie die Augen und blinzelte in die Finsternis, die sie umgab. Doch sie verfügte nicht über die Nachtsicht des Halbelfen. Für ihre allzu menschlichen Augen war die Dunkelheit undurchdringlich.
Innerlich verfluchte sie ihre beispiellose Schwäche. Kitiara Uth Matar schlief nicht auf Wache ein. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. Sie bewegte sich, als würde sie sich im Schlaf eine bequemere Stellung suchen, lehnte sich etwas bequemer gegen die Eiche und ließ ihre rechte Hand auf die Erde gleiten, so nah beim Schwertgriff wie möglich. Argwöhnisch beobachtete sie ihre Umgebung.
Grüne Lichtpunkte glühten paarweise im Unterholz. Glühwürmchen, dachte sie, obwohl ihr bald klar wurde, daß diese Käfer nicht paarweise umherziehen. Sie konzentrierte sich auf ein Lichtpaar. Noch ein Wichtlin? Die Lichter funkelten. Der Wichtlin, der ihre Gefährten umgebracht hatte, hatte nicht gefunkelt.
Andere Augenpaare schlossen sich dem ersten an, dann immer mehr, bis Dutzende feuriger Kreise sie fest im Blick hatten. Da Kitiara kein Geräusch mehr hörte, erhob sie sich schließlich, ergriff ihr Schwert und schüttelte den Kopf, um die Erschöpfung zu vertreiben, die sie in den letzten Tagen allzuoft wie eine Woge zu überfluten schien. War sie wieder krank? Oder hatte der Wichtlin sie doch noch vergiftet?
Jetzt wurde sie aus der Finsternis von Hunderten von Lichtern beobachtet. Tränenförmige, grüne Augen. Runde, goldene mit Pupillen wie Diamanten. Grausigerweise ein paar einzelne Augen. Die glänzenden Kreise kamen näher. Wieder hörte sie etwas atmen. Atmete der Wald selbst? Sie verdrängte den Gedanken.
Doch die Wesen schienen nur bis zu einem gewissen Punkt nahe zu kommen, nicht weiter. Kitiara bemerkte einen Geruch – den scharfen Schweißgeruch, den sie bei jedem anderen als Angstschweiß erkannt hätte. Ihre eigene Angst? Aber Kitiara gestand sich niemals Angst zu.
Warum, beim Abgrund, hielten sich die Wesen zurück? Warum griffen sie nicht an? Sie hatten den Vorteil der Überraschung verloren, doch zahlenmäßig waren sie klar überlegen.
Sie haben Angst vor mir. Aus gutem Grund, möchte ich hinzufügen.
Die Worte tauchten unwillkürlich in Kitiaras Kopf auf. Die Magie, die den Wichtlin vertrieben hatte, die Nähe des Ettins, die Eisjuwelen in ihrem Gepäck – das alles konnte nur eins bedeuten. Ihre Stimme zischte: »Janusz? Wenn du es bist, dann zeig dich, du Feigling.«
Es kam keine Antwort, nur ein ersticktes, rasches Luftholen, doch Kitiara konnte nicht sagen, woher. Der Zauberer des Valdans, der gewiß mehr Gründe hatte als jeder andere, sich an ihr zu rächen, hätte nicht auf diese Art geantwortet. Demnach mußte es jemand anders sein.
Kitiara starrte in die Augenpunkte um sie herum.
Nein. Hier oben, Hauptmann Uth Matar.
Kampfbereit fuhr Kitiara herum und spähte in die Äste einer alten Eiche über sich. Zuerst sah sie nichts als Finsternis. Aber dann erschienen dort oben zwei waagerechte Schlitze im Dunkel. Sie rundeten sich immer weiter, bis Kitiara in zwei untertellergroße, orange Kreise starrte. In jedem Flammenkreis trieb ein kleinerer Kreis, schwarz wie die Nacht, die sie umgab. Während sie zusah, verengten sich die orangen Kreise zu schmalen Streifen, und die schwarzen Kreise darin – die Pupillen des Wesens, wie ihr klar wurde – weiteten sich. Es musterte sie, bei den Göttern! Aber was war es?
Mit geschlossenen Augen siehst du mich besser, mein lieber Hauptmann. Sieh in dein Herz, Kitiara Uth Matar. Seine Botschaft ist deutlich, selbst wenn die Augen dir einen Streich spielen.
»Was soll der Quatsch?« schrie Kitiara. »Zeig dich, du Wurm!«
Wurm? Ich?
In diesem Augenblick hörte sie ein leises Summen. »Bist du eine Riesenhornisse? Eine giftige Biene?« fragte sie herrisch. Aber solche Tiere wären kaum bei Nacht unterwegs und würden bestimmt nicht auf einem Baum hocken, um sich mit einem Menschen zu unterhalten. Mit der linken Hand zog sie ihren Dolch. Ihre Rechte hielt bereits das Schwert. Kitiara wich auf die Lichtung zurück, fort von der Gefahr.
Leg deine armseligen Waffen weg, Kitiara Uth Matar.
»Mach dich nicht lächerlich, Bestie.«
Wir sind keine Bedrohung – jedenfalls nicht für dich.
»Das entscheide ich selbst. Zeig dich. Jetzt.«
Langes Schweigen. Dann wurde das Summen lauter. Schließlich spürte Kitiara ein Rauschen, das wie ein Seufzer aus einer anderen Welt klang.
Du bist unhöflich, Mensch. Ich sollte dich hier mit den Untoten und deinen armseligen verzauberten Freunden allein lassen. Aber das würde vielleicht deinen Tod beschleunigen, und ich habe geschworen, das zu verhindern – vorläufig jedenfalls. Also versuche, dich gut mit mir zu stellen, Hauptmann.
Kitiara hörte schon längst nicht mehr richtig zu. »Verzaubert? Tanis…? Sie sind also nicht tot?«
Du läßt dich so leicht täuschen, Mensch. Ich habe doch gesagt, du verläßt dich zu sehr auf deine Augen.
»Zeig dich, Monster.«
Es raschelte über ihr, als ob etwas Großes mit einer plötzlichen Bewegung seine Federn aufgeplustert hätte. Dann wurde sie von Luft umbraust und von Wind geschüttelt – Flügelschlagen, registrierte sie. Ein Schrei wie von einer Todesfee gellte durch die Finsternis. »Oh, bei den Göttern«, sagte Kitiara verächtlich und ließ die Schwertspitze sinken. »Du bist bloß ein großer, dummer Vogel.«
Oben summte es weiter. Das Wesen kreischte erneut. Der Baum knarrte, als es von einem Klauenfuß auf den anderen trat. Dann herrschte Stille, die nur von diesem lauten Summen durchbrochen wurde, das in Kits Kopf gefangen sein mußte. Schließlich erklang eine neue Stimme, die einer Frau, und in ihr schwangen Wärme und Humor mit. »Ich fürchte, du hast meinen Freund beleidigt, Kitiara Uth Matar.«
»Diese Stimme habe ich schon mal gehört. Zeig dich.«
Pause. »Shirak.« Ein Glühen breitete sich über die Lichtung aus. Eine riesige Eule, von den Ohrenspitzen bis zum kurzen Schwanz doppelt mannshoch und offensichtlich verstimmt, blickte die Kämpferin böse an. »Eine Rieseneule«, sagte Kitiara leise. »Ich habe schon von euch gehört. Aber du sprichst Umgangssprache und hast magische Fähigkeiten, was ich nicht für möglich gehalten hätte.«
Ein dunkles, feingeschnittenes Menschengesicht spähte hinter einem Flügel des Vogels hervor. »Du bist im Düsterwald. Und mein Freund Xanthar ist in vieler Hinsicht außergewöhnlich«, sprach die Frau leise. Selbst im grünlichen Zauberlicht konnte Kitiara erkennen, daß ihre Augen auffallend blau waren.
»Ich kenne dich«, sagte die Kriegerin langsam. »Du warst eine Magd von Dreena ten Valdan. Und eine Magierin, soweit ich weiß. Aber an blaue Augen erinnere ich mich nicht.«
»Lida Tenaka«, flüsterte die Frau. Ihre nächsten Worte konnte Kitiara kaum hören. »Ich habe dich gesucht, Kitiara Uth Matar.«
Die Eule sprang, breitete die Flügel aus und landete erstaunlich weich für ein so großes Wesen zwischen den erstarrten Gestalten von Tanis und Caven. Dann streckte die Eule einen Flügel aus, und Lida Tenaka glitt anmutig über die gefiederte Fläche zu Boden. Trotz ihrer Zartheit schien sie sich im nächtlichen Düsterwald wohl zu fühlen. Kitiara musterte sie, steckte jedoch ihr Schwert nicht ein. Diese Lida Tenaka konnte eine Erscheinung sein, etwas fleischgewordenes Böses, das sich im Schlaf in Kitiaras Bewußtsein geschlichen hatte. Es gab keinen Beweis, daß diese schlanke Frau mit der Robe wirklich Lida Tenaka war. Kitiara beobachtete sie genau.
Über der Schulter trug sie einen großen, anscheinend schweren Beutel. Die Lederriemen, mit denen man ihn verschließen konnte, waren zusammengeknotet. Der Sack zeigte die Umrisse von etwas Großem, Rundem, das an einer Seite flach sein mußte, und als die Bewegungen der Frau den Sackinhalt verschoben, zeigte sich, daß die andere Seite wohl gewölbt war. Das Gesicht der Frau war ausdruckslos, die lebhaften Augen waren der einzige Hinweis auf ihr Menschsein. Doch ihre Stimme klang freundlich. »Xanthar und ich sind stundenlang auf der Suche nach dir umhergeflogen, Hauptmann Uth Matar. Ich bin froh, daß wir dich endlich gefunden haben.«
Kitiara bellte los: »Du kannst zaubern? Die Eule kann zaubern?«
Lida Tenaka nickte dem Vogel zu. Ihr Haar schien über ihre Robe zu fließen. »Xanthar verfügt über gewisse Kräfte. Innerhalb einer bestimmten Entfernung und mit bestimmten Lebewesen kann er Gedanken übertragen – vor allem mit Menschen und anderen Rieseneulen. Und wie du siehst, kann er sich anderen fühlenden Wesen gedanklich mitteilen.«
»Fühlenden Wesen«, wiederholte Kitiara. Es klang wie eine Beleidigung.
»Denkende Wesen.«
»Kann er Gedanken lesen?«
Lida zuckte mit den Achseln. »In sehr begrenztem Maße kann er erkennen, was andere denken.«
»Diese Fähigkeit entwickelt sich langsam, wenn man viel, viel übt«, unterbrach der Vogel grantig.
»Kann er meine Freunde wiederbeleben? Kannst du es?« Rasch erzählte sie ihnen von dem Wichtlin und vom Schicksal ihrer Freunde.
Die Eule und die Zauberin sahen sich an. Kitiara spürte, daß sie ihr gegenüber nicht völlig offen waren. »Könnt ihr es oder nicht?« fragte sie herausfordernd.
»Sie träumen, glaube ich«, flüsterte Xanthar mit rauher Stimme. Lida warf ihm einen überraschten Blick zu, doch keiner erklärte etwas.
Lida redete langsam. »Ob ich ihnen helfen kann, hängt davon ab, wie sie verzaubert wurden und von wem. Es ist nicht leicht für einen Zauberer, die Sprüche eines anderen aufzuheben.«
»Aber du wirst es versuchen.«
»Wirst du dann auch mir helfen?« fragte die Magierin.
Kitiaras Blick fiel auf den verzauberten Tanis, dessen Körper mitten in der Bewegung erstarrt war. Lidas grünes Zauberlicht ließ ihn beinahe lebendig erscheinen. Einen Augenblick kam es ihr so vor, als würden die Mandelaugen des Elfen ihr zublinzeln. Eine Warnung? »Ich werde es mir überlegen«, sagte Kitiara schließlich. »Mehr kann ich nicht versprechen.«
Nach einer Weile sagte die Eule voller Sarkasmus: »Eine interessante Einstellung, Hauptmann, wenn man bedenkt, daß du es bist, nicht wir, die allein und ohne Hilfe im Düsterwald gefangen ist«, knurrte er.
»Xanthar«, mahnte Lida warnend. Die Eule schnaubte und drehte beiden den Rücken zu.
Nachdem Lida hinter der Eule hervorgetreten war, wobei sie ihr zärtlich über den Flügel gestrichen hatte, trat sie zu Caven. Sie legte ihre schlanken Hände auf die Nüstern von Malefiz und schloß die Augen. Nach einer Weile schlug sie sie wieder auf. Lida setzte an: »Ich kann nicht – «
»Doch, du kannst, Lida«, mischte sich die Eule plötzlich drängend ein. »Nimm den Spruch ›Verzauberung brechen‹.«
»Den… Aber es gibt keinen…« Der warnende Blick der Eule ließ Lida verstummen. Sie runzelte die Stirn. Die Eule sah ihr tief in die Augen, und als die Stille anhielt und Lidas Augen in plötzlichem Erschrecken groß wurden, erkannte Kitiara, daß Xanthar telepathisch mit der dunkelhäutigen Frau Kontakt aufgenommen hatte. Schließlich nickte Lida. »Na gut, Xanthar. Ich bin froh, daß du das vorgeschlagen hast. Das könnte gehen.«
»Kann jedenfalls nichts schaden«, murmelte die Eule mit einem bösen Blick zu Kitiara. »Schließlich sind sie jetzt alle praktisch tot. Viel schlimmer kann es kaum werden. Außer vielleicht, wenn man untot ist…«
»Halt!« brach es aus Kitiara hervor. »Nicht!«
Xanthar schob sich zwischen sie und Lida. Im ersten Impuls wollte Kitiara ihn durchbohren, doch statt dessen mußte sie ihm tief in die Augen sehen. Daran solltest du nicht einmal denken, Mensch. Die Kanten seines gewaltigen Schnabels waren, wie sie jetzt bemerkte, so scharf wie eine Schwertklinge. Kitiara trat vorsichtig zurück und spähte an der Seite vorbei.
Lida stand vor Malefiz. Sie streichelte dem Tier die Flanke, murmelte seltsame Silben und verstreute ein paar Prisen grauen Puder aus einem Beutel. Dann ging sie zu Wod und seinem Pferd und tat dasselbe. Darauf wendete sie ihre Aufmerksamkeit dem Halbelfen zu. Zuletzt trat sie zurück und stellte sich neben Xanthar.
»Bleib zurück«, warnte Lida Kitiara. »Für die drei ist keine Zeit verstrichen. Sie werden glauben, daß sie immer noch mit dem Wichtlin kämpfen.« Sie riß dramatisch die Arme hoch, warf den Kopf zurück und sang. Kitiara runzelte wieder die Stirn.
»Barkanian softine, omalon tui.« Lida wiederholte den Satz dreimal und legte dabei nach jedem Wort eine Pause ein. Beim ersten Ruf verloren die Gestalten auf der Lichtung ihren statuenhaften Glanz. Beim zweiten kehrte ein rosa Lebensschimmer in die Gesichter zurück. Und beim dritten Gesang sprangen sie los, um die Bewegung zu Ende zu bringen, zu der sie vor Stunden im Kampf gegen den Wichtlin angesetzt hatten.
Tanis warf sich zu Boden und rollte beiseite. Perplex blieb er liegen. Dann sah er Kitiara. »Kit? Geht es dir gut?«
Kitiara spottete: »Mir geht es immer gut.«
Caven war inzwischen damit beschäftigt, den sich aufbäumenden, bockenden, beißenden Malefiz zu bändigen. Wod und sein Pferd trabten zur Seite, um den Hufen auszuweichen. Der Söldner aus Kern brachte sein Tier schließlich vor Kitiara, Lida und Xanthar zum Stehen. »Bei den Göttern! Eine Rieseneule! Ich dachte, die gibt es nur im Märchen«, rief er aus. »Was hatte ich bloß für einen Traum: Meine Mutter kam und hat mir eine haarsträubende Geschichte über den Val…« Als er Lida Tenaka bemerkte, blieben ihm die Worte weg. »Du bist Dreenas Zofe«, sagte Caven überrascht.
Tanis kam näher. »Hast du auch von deiner Mutter geträumt?« Wod stöhnte, und die Kämpferin drehte sich zu ihm um. »Und du?«
»Ihr habt alle im Traum ein Omen gesehen«, sagte Lida beruhigend. Die Zauberin begann, ein Gedicht aufzusagen. Mit jedem Wort wurden die Gesichter der vier Reisenden ernster und aufgeregter. Am Ende sagte Caven die Zeilen mit ihr zusammen.
»Drei Liebende, die Zaubermaid,
Geflügelter mit treuer Seele,
Untote drohen im Düsterwald,
Sichtbar in der Spiegelschale.
Böses befreit durch des Diamanten Flug.
Rache geschmeckt, eisumklammertes Herz
Sieht sein Bild schon auf dem Thron
Durch Stahl und heißes Feuer gebremst,
Funken fliegen aus Stahl und Stein.
Böses entsteht aus des Edelsteins Licht.
Drei Liebende, die Zaubermaid,
Das Band der Tochterliebe gelöst,
Legionen vertrieben, viel Blut nun fließt,
Frostiger Tod im endlosen Schnee.
Das Böse geschlagen durch Edelsteins Macht.«
Einen Herzschlag lang sagte keiner ein Wort. Dann begannen alle zugleich zu reden.
»Es war meine Mutter, sage ich euch.«
»Aber meine starb bei meiner Geburt.«
»Meine auch.«
»Aber meine lebt.«
»Was hat das zu bedeuten?«
Und die ganze Zeit jammerte Wod: »Ich will zurück nach Kern.« Vergeblich versuchte Kitiara, die anderen drei davon abzubringen, sich über das Omen den Kopf zu zerbrechen. Sie sollten lieber die Verfolgung des Ettins wieder aufnehmen.
»Zum Abgrund mit dem Ettin«, schrie Caven von Malefiz herunter. »Das Vieh muß längst über alle Berge sein.«
»Ihr sucht einen Ettin?« fragte Xanthar plötzlich.
Kitiara nickte. »Hast du ihn gesehen? Wo? Sag schon!«
Die Eule machte einen Schritt zurück und wiegte ihren großen Kopf von einer Seite zur anderen, so daß man den weißen Fleck über ihrem linken Auge leuchten sah. »Nein, nein. Ich habe mich nur gewundert, warum ihr hier im Wald einen Ettin sucht. Normalerweise leben sie nicht in dieser Gegend.«
»Nein.« Die Stimme gehörte Lida. Sie trat vor die Eule. »Aber es gibt hier einen Ettin, und er ist nicht weit vor uns. Ich habe ihn aus der Luft gesehen, als wir herflogen. Ihr könnt ihn einholen, wenn ihr euch sputet.«
Es herrschte Schweigen. Dann redete Kitiara auf ihre Freunde ein. »Traut ihr nicht. Ich möchte euch daran erinnern, daß wir im Düsterwald sind.«
»Als ob wir das vergessen könnten«, murmelte Caven, der unruhig in die Finsternis ringsherum starrte. Kitiara brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Dann fuhr sie fort. »Diese Eule, die Dinge vermag, von denen ich bei einer Rieseneule noch nie gehört habe, und diese Frau, die vorgibt, Lida Tenaka zu sein – sie könnten böse Erscheinungen des Waldes oder Illusionen des Wichtlins sein. Und ich möchte dich daran erinnern, Caven, daß der Zauberer Janusz womöglich uns alle selbst von Kern aus verzaubern kann.«
»Janusz ist nicht mehr in Kern«, unterbrach Lida.
Die vier blickten sie an. »Wer ist dieser Janusz? Was weißt du über diese Sache, Kitiara?« wollte Tanis wissen.
Kitiara berichtete kurz, wie der Feldzug der Kerner gegen die Meiri ausgegangen war, ohne dabei jedoch die Eisjuwelen zu erwähnen.
»Der Zauberer Janusz und der Valdan schieben mir zweifelsohne die Verantwortung für den Tod von Dreena ten Valdan in die Schuhe«, schloß sie. »Der Valdan hat den Magier erst losschlagen lassen, als er sicher war, daß seine Tochter geflohen war. Die Bauern waren verstört, denn nach dem Tod des Meir wußten sie nicht, was sie tun sollten. Dem Valdan war es wohl gleichgültig, ob seine Tochter überlebte oder starb.« Lida stöhnte leise, doch Kitiara fuhr fort: »Der Valdan wußte sehr wohl, daß die Untertanen des Meir Dreena mittlerweile liebten. Er fürchtete, daß ihr gewaltsamer Tod die Bauern zur Auflehnung gegen den Valdan bringen würde, anstatt daß sie sich still dem neuen Herrscher unterwarfen.«
Kitiara sah von Tanis zu Caven und zurück zu Tanis, dessen Miene immer finsterer wurde. »Auf meine Worte hin wagten sie den Angriff auf das Schloß«, sagte Kitiara. »Ich sah, wie Dreena es verließ, und sagte dem Valdan Bescheid, daß er sicher angreifen konnte.«
Tanis redete langsam, um nicht vor Wut zu platzen. »Dieser Zauberer Janusz hat einen Ettinsklaven, und du behältst das einfach für dich, während wir zur Jagd auf einen anderen Ettin aufbrechen, der rein zufällig in dieser Gegend auftaucht? Bei den Göttern, Kitiara, denkst du denn gar nicht nach? Du hast kein Recht, uns in solche Gefahr zu stürzen! Mackid, hast du dich denn nicht über den Ettin gewundert?«
»Doch, das habe ich«, kam die gleichmütige Antwort. »Aber ich habe nur an mein Geld gedacht.«
Tanis gab angewidert auf. Der Blick des Halbelfen schweifte über die Lichtung. Schließlich stieß er ein bellendes Gelächter aus. »Ich schätze mal, daß wir Janusz sauber in die Falle gegangen sind.«
Lida mischte sich ein. »Ihr könntet Janusz aufhalten, ihr vier. Ihr könntet den Valdan aufhalten. Erst war es ihm genug, das Reich des Meir zu erobern, aber jetzt beansprucht er ganz Ansalon. Kitiara, du kennst ihn gut; du hast für ihn gekämpft, und du kannst Truppen führen. Ich sehe, daß du, Halbelf, ein kluger und ehrenwerter Mann bist. Und du, Caven, bist ein erprobter Soldat und ein tapferer Kerl.« Caven lächelte dünn. Lida sagte nichts über Wod, doch in ihrer nächsten, umfassenden Geste war er miteingeschlossen. »Ihr vier könntet den Valdan aufhalten. Ihr könntet Helden werden. Kein anderer ist dazu in der Lage. Im Augenblick zieht der Valdan eine Armee zusammen, um vom Eisreich aus gen Norden zu ziehen.«
»Vom Eisreich?« fragten Kitiara und Caven zugleich. Der ungläubige Blick, den sie wechselten, hatte etwas unfreiwillig Komisches an sich. Dann sagte Kitiara: »Wir haben ihn in Kern verlassen, fünfhundert Meilen nordöstlich vom Düsterwald, und jetzt behauptest du, er wäre dreihundert Meilen weiter südlich? Und du sagst, wir wären in der Lage, ihn aufzuhalten? Für wie leichtgläubig hältst du uns eigentlich, Zauberin? Was willst du wirklich?«
»Woher weißt du das?« wollte Caven wissen.
Lida wirkte nervös. »Mein Traum«, sagte sie schließlich.
Caven schlug auf seinen Sattel, was Malefiz erschreckte. Als er den Hengst beruhigt hatte, sagte der Soldat: »Der Traum könnte auch ein Trick sein. Von Janusz geschickt.«
»Kannst du uns helfen, aus dem Düsterwald herauszukommen?« fragte Tanis Lida, die den Kopf schüttelte. »Xanthar kann mich tragen, aber nicht mehr.«
Als nächste meldete sich Kitiara zu Wort. »Was kümmert’s dich, was Janusz und der Valdan machen, Zauberin? So weit fort, bist du doch wohl sicher.«
Die Frau zögerte, denn sie mußte offenbar erst ihre Gedanken ordnen. »Dreena war meine Freundin, und sie haben ihren Tod auf dem Gewissen.«
»Du lügst«, schimpfte Kitiara. »Du und die Eule, ihr beide lügt. Ihr wollt etwas von uns. Ich sage, wenn du uns für etwas brauchst, dann biete uns etwas dafür. Reichtum.«
»Ich habe kein Geld.«
»Dann eben Macht. Schließlich bist du eine Zauberin.«
»Ich folge dem Pfad des Guten. Ich verhökere keine Macht.«
Tanis’ Stimme unterbrach den Wortwechsel. »Du würdest uns natürlich ins Eisreich begleiten.«
Kitiara fuhr zu ihm herum. »Halbelf! Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, ins Eisreich zu ziehen? Vielleicht ist sie nicht einmal die, für die sie sich ausgibt!«
»Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich gehe oder nicht.« Tanis betrachtete Lida nachdenklich. »Ich habe doch auch die Auswirkungen der Magie erlebt, Kit. Und ich würde sagen, daß diese Zauberin – die uns vielleicht wirklich nicht alles sagt, was sie weiß – ehrenwerte Absichten hat. Ich glaube, daß sie wirklich den Tod ihrer Freundin rächen will.«
Kitiara spuckte angewidert aus und kehrte dem Halbelfen den Rücken zu. Bei dieser Bewegung fiel ihr das breite Lächeln auf Cavens Gesicht auf. »Und wo liegt dein Problem, Soldat?« fuhr sie ihn an.
»Ach, Hauptmann, es ist so herzerfrischend, wenn man sieht, daß selbst du hin und wieder den kürzeren ziehst«, sagte der Kerner.
»Den kürzeren ziehen?« Kitiara traf vor Wut fast der Schlag. Sie gestikulierte wild. »Ich habe nicht die Absicht, mal eben einen Ausflug ans eiskalte Ende von Ansalon zu machen, damit diese Magd den Tod von jemandem rächen kann, der der Feind von dem Mann war, dem ich gedient habe. Den Ettin für ein Kopfgeld zu jagen, war eine Sache. Aber herumziehen, um das ungewaschene Volk von Krynn zu retten, und das auch noch ohne Lohn… ach, vergiß es!« Sie begann, davonzustapfen, schimpfte jedoch über die Schulter weiter. »Ihr zwei Männer könnt es ja gerne versuchen, aber ich kann euch dann beide nicht mehr brauchen. Trottel. Leichtgläubige Rindviecher!« Sie trat gegen einen Baumstamm, wurde dann jedoch von Übelkeit übermannt und mußte sich mit beiden Händen abstützen. Gleich darauf war der Anfall jedoch vorbei, und sie stieß sich vom Baum ab.
Tanis machte einen Schritt in ihre Richtung. »Kit…« Die Kriegerin ignorierte ihn.
Caven legte dem Halbelfen eine Hand auf den Unterarm, um ihn aufzuhalten. »Laß sie erst mal in Ruhe, Tanis. Kit wird ein Weilchen toben, aber dann kommt sie wieder zu sich. Wenn sie sich so in ihre Wut hineingesteigert hat, bringt sie jedes weitere Wort nur noch mehr auf.« Tanis zögerte und nickte dann. Kitiara starrte sie unablässig fluchend und drohend an.
Tanis und Caven unterhielten sich gedämpft weiter, während Lida und Xanthar beiseite gingen.
Verzauberung brechen, also wirklich, Xanthar.
Nicht ich habe die Wesen im Wald zurückgehalten, Kai-lid. Die haben keine Angst vor Rieseneulen. Jemand hat einen Schutzzauber über Kitiara geworfen – derselbe, würde ich sagen, der den Zauber von den drei anderen genommen hat, während du diesen phantastischen Mummenschanz aufgeführt hast. Wir sind innerhalb des Schutzzirkels, das spüre ich. Wir werden beobachtet, Kai-lid.
Kai-lid dachte einen Augenblick mit klopfendem Herzen nach. Das muß Janusz sein, Xanthar. Niemand anders. Er hat sie gesehen, und er hat mich gesehen. Jetzt stecken wir in der Falle.
Vergiß nicht, daß der Zauberer Lida sieht, nicht Dreena.
Mit seiner Magie könnte er erkennen, wer ich wirklich bin, wenn er das will. Kai-lids Lippen zitterten.
Er hat doch keinen Grund dazu, meine Liebe. Er hält Dreena für tot.
Warum hat er die Verzauberung des Halbelfen und der anderen aufgehoben?
Xanthar schwieg eine Weile. Ich weiß es nicht. Es wird in seinen Plan passen. Bestimmt hat er den Ettin geschickt, um sie zu fangen.
Und sie sind ihm ihrerseits in die Falle gegangen. Glaubst du jetzt an den Traum, Xanthar?
Ja.
In diesem Moment löste sich Tanis von den anderen und näherte sich der Eule und der Zauberin. Ohne Umschweife sagte er: »Ich will wissen, warum du uns helfen willst.«
Lida sah Xanthar an, doch der bot keine Hilfe. »Wir haben keine Wahl«, erklärte sie schließlich. »Wir müssen diesem Ettin folgen.«
»Warum?«
Lida schluckte. »Ich glaube, daß dieser Ettin uns zum Valdan führen wird. Res-Lacua ist der Ettin und Sklave von Janusz. Er muß zu ihm zurückkehren.«
Tanis sprach langsam, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Mir kommt es wie eine Falle vor, Lida. Wir folgen dem Ettin, und der Zauberer kriegt die Chance, sich an Kitiara zu rächen. Wie sollen wir gegen eine ganze Armee antreten?«
Lida merkte, wie ihr Tanis’ unnachgiebiger Blick zu schaffen machte. »Halbelf«, sagte sie schließlich, »es ist zu spät zum Umkehren. Kitiara ist keineswegs hilflos, und wir werden bei ihr sein, um sie zu schützen. Ich glaube, sie weiß weit mehr, als sie uns verrät.« Als Tanis nichts sagte, schluckte sie wieder und fuhr fort, obwohl sie Xanthar innerlich verfluchte, weil er sie dieses Gespräch allein führen ließ. »Ich komme mit, Halbelf. Meine Magie ist nicht gerade mächtig, aber ich werde tun, was ich kann. Vielleicht ist es eine Falle, aber die habe nicht ich gestellt. Ich glaube, wir sind die einzigen, die zwischen der Gier des Valdans und dem Tod vieler, vieler Menschen stehen. Es ist eine Frage der Ehre, Tanis.«
»Eine Frage der Ehre«, wiederholte Tanis leise.
Sie streckte die Hand nach ihm aus und legte sie auf seinen Arm. »Halbelf, auch ich habe eine Frage an dich. Was bedeutet dir Kitiara?«
Tanis starrte die Zauberin an. Ihr glattes, schwarzes Haar floß über ihre Schultern. Ihre leise Stimme bebte. »Ist sie dir wichtig, diese Kriegerin?« drängte die Magierin, als er nichts erwiderte.
»Sie ist – « Tanis schwankte angesichts der Leidenschaft in ihren blauen Augen, die sich so auffällig von der dunklen Haut abhoben. »- eine Bekanntschaft. Wir reisen nur gemeinsam.«
Die schwarzen Pupillen weiteten sich, und die Magierin verzog leicht die Mundwinkel. »Ah. Eine Bekanntschaft.«
»Ja.« Er blickte zur Seite.
Die Worte der Frau hatten einen amüsierten Unterton. »Es ist Kitiaras Kampf, nicht deiner, Tanthalas Halbelf. Welch ein Glück für Kitiara, daß sie einen ›Bekannten‹ hat, der so stark und mutig ist, daß er sie in so gefährlichen Zeiten nicht im Stich läßt. Ich frage mich, was du für Frau und Kind tun würdest, wenn du dich schon für eine bloße Bekannte so einsetzt.«
Tanis wurde rot. »Du willst also unbedingt gegen den Valdan kämpfen?« fragte er hastig.
Sie nickte. Der Halbelf zögerte und kehrte zu den anderen zurück.
Du willst sie doch gar nicht begleiten. In Xanthars Stimme lag ein gewisser Vorwurf.
Ich habe Angst, Xanthar, und ich bin keine besonders mächtige Zauberin. Sie brauchen mich nicht. Sie kommen gut allein zurecht. Aber vielleicht verfolgen sie die Sache nicht weiter, wenn sie glauben, daß ich vorhabe, sie im Stich zu lassen.
Xanthar beugte sich vor und pflückte mit dem Schnabel einen Ast von einem Baum. Dann schälte er die Rinde ab, indem er ihn mit der Zunge so drehte, daß er mit der Schnabelkante die Rinde abziehen konnte. Und du glaubst, der Ettin führt sie ins Eisreich? Ich möchte darauf hinweisen, Kai-lid, daß der Ettin schließlich nach Norden zieht, während das Eisreich das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, noch am südlichsten Ende von Ansalon lag.
Kai-lid antwortete nicht. Xanthar dachte weiter nach. Ich habe gehört, daß es im Düsterwald einen Sla-Mori gibt, einen, der weit nach Süden führt. Das kann ein Gerücht sein oder auch nicht.
Einen Sla-Mori?
Einen geheimen Weg. Einen magischen Tunnel, der seine Benutzer weit, weit weg bringt, wenn sie sein Geheimnis enträtseln können. Es heißt, daß die Elfen die Sla-Mori vor langer Zeit gebaut haben.
Und dieser Sla-Mori liegt im Norden?
Die Eule nickte. Nicht weit entfernt – in einem Tal am Fieberberg. Vielleicht will der Ettin dorthin. Dann wechselte Xanthar wieder das Thema. Du hast dir Kitiara genau angesehen, nehme ich an.
Ja.
Und hast du gesehen? Nicht mit deinen zwei Augen, sondern mit dem inneren Auge.
Ich habe gesehen, Xanthar. Ich frage mich, was sie vorhat.
Xanthar lachte laut los. Glaubst du etwa, sie weiß es, Kai-lid? Du gestehst Menschen aber wirklich mehr Selbsterkenntnis zu als ich.
Aber wie kann eine Frau ein Kind tragen, ohne es zu wissen?
Unterschätze niemals, wie taub die Menschen für ihre innere Stimme sind, Kai-lid. Niemals.