Nebel lag über dem feuchten Gelände und klammerte sich an die verstreuten, schmutzigen Schneereste, als die Nacht dem Grau der Morgendämmerung wich. Eine schwarzhaarige Frau, der Nebelschwaden um die kniehohen, glänzend schwarzen Stiefel wogten, klatschte auf ihrem Weg durch ein nahezu stilles Lager mit der bloßen Hand an die Leinenzelte. Ein paar Dutzend Soldaten waren schon wach; sie sahen auf und lächelten, als sie vorbeikam.
»Zeit, daß ihr euch euren Sold verdient, ihr faulen Wiesenschnecken«, schimpfte sie mit den Schlafenden. »Auf, auf!« Hinter ihr hörte man Flüche, mit denen die Männer die Vorfahren der Frau beschimpften, während sie nach Waffen, Stiefeln und Helmen tasteten. Einer nach dem anderen schlug die Zeltplane zurück und trat in die winterlich kühle Luft. Die Soldaten zogen ihre Wollmäntel am Hals zu und verwünschten die beißende Kälte.
»Bei den Göttern, hätten der verrückte Valdan und sein verdammter Zauberer nicht bis zum Sommer warten können?« beschwerte sich ein bärtiger Mann, der über seine rote Nase und einen sandfarbenen Schnurrbart hinweg zu zwei großen Zelten schaute, die hundert Schritt abseits vom Hauptlager auf einem Hügel aufgestellt waren.
»Sei still, Lloiden!« warnte sein Kamerad. Ein älterer Mann war plötzlich in der Öffnung des kleineren Zelts aufgetaucht und fixierte die beiden Nörgler. Die schwarze Robe des Alten wurde von einer Silberschnur um die Taille gehalten, an der ein Dutzend verschiedener Beutel hingen. Hagere Finger spielten mit dem einen Beutel, und Lloidens Kamerad wurde blaß. Wieder gab er seinem Zeltnachbarn einen Wink, er möge schweigen.
Die Frau blieb stehen und wandte sich zu dem bärtigen Soldaten um. Leise sagte sie: »Der Kopf des letzten Mannes, der die Entscheidungen des Valdans in Frage gestellt hat, liegt südlich von hier am letzten Bergpaß. Es heißt, er habe größte Ähnlichkeit mit einer Kröte. Der Valdan ist reich genug, um seine Söldner gut zu entlohnen. Das ist das einzige, was uns etwas angeht, Lloiden.«
Der erste Mann schob trotzig das Kinn vor. Er winkte mit der Hand, als sei die Sache erledigt, und wartete, bis sich der Magier umdrehte und zurück ins Zelt ging. Dann begann Lloiden abermals zu nörgeln.
»Klar, der Sold ist ein Grund, aber wo bleibt die Strategie?« quengelte er. An seinem Bart hingen Tautropfen. »Was soll das, daß wir nach nur zwei Wochen Belagerung angreifen? Ich war schließlich bei der Belagerung von Festwild dabei, nördlich von Neraka. Ist Jahre her. Achtzehn Monate haben wir vor den Toren gelegen, und die letzte Schlacht hat drei Tage gedauert, so sehr hat sich der Gegner noch aufgebäumt.«
Andere Soldaten hielten in ihren Vorbereitungen inne und warfen der Frau mit dem Lockenkopf und ihren streitlustigen Untergebenen neugierige Blicke zu.
Sie verdankte ihren Rang bestimmt nicht ihrem Alter. Sie mochte kaum älter als Anfang Zwanzig sein. Schwarzes Leder verhüllte ihren Körper vom Hals abwärts, aber das Kettenhemd darüber verbarg die jugendliche Geschmeidigkeit ihres Körpers nur wenig. Warmer Iltispelz besetzte den Halsausschnitt ihres Wollumhangs und säumte das feste Leder, das ihre Arme von der Hand bis zum Ellenbogen schützte. Ihr Schwertknauf glitzerte.
Lloidens Zeltgenosse schob sich davon. Ein anderer Mann flüsterte unüberhörbar: »Nu’ macht Hauptmann Kitiara Lloiden aber gleich ’n Kopf kürzer, wenn er weiter so redet. Das wird was.« Die Soldaten stießen einander in die Rippen und grinsten.
Aber Kitiara schüttelte bloß resigniert den Kopf. Dieses Thema hatten sie schon oft genug durchgekaut. »Aberwitzige Ungeduld«, stimmte sie zu. »In den zwei Wochen sind die Vorräte des Meir doch kaum angekratzt. Auch wenn der Meir gefallen ist, war die Zeit viel zu kurz, um die Verteidiger der Burg mürbe zu machen.«
»Also, ich frag’ noch mal, warum der Angriff?« wollte Lloiden wissen. »Warum nicht aushungern?«
Kitiara machte den Mund auf, doch nur um ihn sofort wieder zu schließen. Sie fuhr sich mit der Hand durch das feuchte, schwarze Haar. Ihr übliches, gaunerhaftes Grinsen war von ihren Lippen verschwunden, als sie zum Zelt des Magiers hochblickte. »Der Valdan will, daß die Sache schnell zu Ende kommt.«
Ein anderer Soldat meldete sich fast flüsternd zu Wort. »Manche sagen, der Valdan hat Angst, seine Tochter könne noch Meiri-Truppen gegen ihn aufstellen.«
»Besonders jetzt«, bestätigte ein weiterer. »Nachdem ihr Mann tot ist, sehen die Meiri in Dreena ihre einzige Hoffnung im Kampf gegen ihren Vater.«
Kitiara sagte: »Jedenfalls waren die Generäle mit der Hast des Valdan einverstanden, und sie werden kaum auf die Einwände eines einfachen Hauptmanns hören.« Sie machte eine Pause, die ihre Verachtung für die Befehlshaber ausdrückte. »Besonders da der Zauberer jeden Befehl des Valdan stützt. Also Schluß damit, Lloiden.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch gelten. Lloiden schüttelte den Kopf und ging wieder an seine Vorbereitungen.
Hauptmann Kitiara blieb vor ihrem eigenen Zelt stehen und hob die Stimme. »Aufstehen, Mackid! So müde kannst du nicht sein. Mich hast du gestern abend jedenfalls nicht lange wachgehalten.«
Die anderen Söldner brachen in schallendes Gelächter aus, und einige boten an, Caven Mackids Platz in Kitiaras Zelt zu übernehmen, aber es kam keine Antwort von hinter der Plane.
»Caven?« Kitiara zog die Zelttür zur Seite. Und so schnell, wie sie sie fallen ließ, wußten die Zuschauer, daß Caven Mackid anderswo war. Ihr halb verärgerter, halb bewundernder Blick zum provisorischen Korral weiter unten verriet, wo sie Mackid vermutete. »Verwünschter Malefiz«, murmelte sie. »Kann der Mann sich nicht mal genausoviel seinem Schwert widmen wie diesem Hengst?« Sie ging wieder daran, ihrer Truppe Beine zu machen. Die Soldaten schlangen ihr Frühstück, Käse und Trockenfleisch, hinunter, während sie sich für die Schlacht rüsteten.
Kitiara hatte den westlichen Rand des hochgelegenen Lagers erreicht und blieb stehen, um auf einen Bergzug im Osten zu blicken. Mit der Dämmerung wurde der Himmel hellgrau. Weit im Westen lagen die Spitzen eines anderen stillen, baumbestandenen Bergzugs noch in der Dunkelheit. Im Süden liefen die zwei Bergzüge zu einem zerklüfteten V zusammen, das die Stadt Kernen barg, aus der der Valdan stammte – der jetzt wie ein Luchs vor der Tür seines Nachbarn lauerte.
Es war allgemein bekannt, daß der Valdan sein einziges Kind mit dem Meir verheiratet hatte, weil er den jungen Mann dazu bringen wollte, das Königreich der Meir mit dem des Valdan zu vereinen. Die Heirat hatte nicht den erwünschten Erfolg gehabt, woraufhin der Valdan Rache geschworen hatte.
Jetzt lauschte Kitiara dem gedämpften Klirren und Fluchen einer Söldnerarmee, welche die wenigen, aber loyalen Meiri-Truppen überrennen wollte. Sie suchte sich ihren Weg über den nebligen Abhang voll abgeschlagener Äste, um sich einen möglichst guten Überblick über das vorgesehene Schlachtfeld zu verschaffen. Natürlich hatte sie sich das Gelände in den zwei Wochen, seit sie hier lagerten, oft angesehen, aber im Winter konnte sich der Boden rasch und tückisch verändern.
Rufe aus dem Lager zogen Kitiaras Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah, daß sich die Söldner dem Schloß des Meirs zuwandten, welches sich in eine baumlose Mulde duckte. Kitiara hatte die weibliche Gestalt auf den Zinnen bereits bemerkt, aber nicht erkannt, um wen es sich handelt. Jetzt wurde es ihr klar. Die Frau, deren blonde Haare fast weiß schimmerten, trug prächtige Kleider in Königsblau und Blutrot, den Farben der Meiri.
»Dreena ten Valdan«, flüsterte Kitiara.
Obwohl die unteren zehn Fuß des Schlosses von Nebel verborgen waren, gab die schlanke Frauengestalt auf den Zinnen ein hervorragendes Ziel ab. Es waren mehrere hundert Schritt zum Lager ihres Vaters, und Dreena ten Valdan stand etwa sechzig Fuß über den Soldaten. Doch das lag in Reichweite der Bogenschützen, die der Valdan angeheuert hatte.
»Genau wo ihr Mann vor einer Woche vom Pfeil getroffen wurde«, sagte sich Kitiara leise. »Vielleicht hofft sie, jetzt zu ihm zu kommen.« Sie schnaubte.
Unter Kitiaras Augen winkte Dreena ten Valdan kühn dem größten Zelt in Kitiaras Lager zu, dem mit der purpurschwarzen Standarte des Valdans von Kern. Dann trat die junge Frau zurück und war verschwunden.
»Was für eine Närrin«, sagte ein schwarzhaariger Mann mit schwarzem Bart, der aus dem Nebel neben Kitiara trat. »Warum, trotzt sie ihrem Vater auf diese Weise? Ihre Truppen verlieren die Schlacht auf jeden Fall. Wenn erst mal alles vorbei ist, wird Dreena ten Valdan noch all ihre Freundlichkeit brauchen können, nur um ihren Kopf zu retten. Der Valdan sieht in ihr einen Feind, genau wie in ihrem toten Mann.«
Kitiara spähte in den Nebel. »Es ist kein Verrat, Mackid, wenn man sein eigenes Land verteidigt.«
»Sie verrät ihren Vater.«
»Aber nicht ihren Mann.«
Caven Mackid schlug einen belustigten Ton an. »Wird Hauptmann Uth Matar plötzlich weich? Bei den Göttern, Kitiara, du verteidigst die große Liebe?«
»Wohl kaum. Aber ich kann doch ihren Mut anerkennen, daß sie für jemanden eintritt, den sie liebt.«
Caven grunzte.
Der Himmel wurde noch heller, doch der Dunst zog sich zu und breitete sich aus, bis er wie ein Federbett dicht über dem Boden hing. Das farblose Licht brachte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Mann und der Frau an den Tag – schwarze Haare, dunkle Augen, blasse Haut. Aber wenn man sie genauer ansah, war die Ähnlichkeit sehr oberflächlich. Während Kitiaras Behendigkeit ihren Körper biegsam und drahtig machte, war Caven muskelbepackt. Kitiaras langer Seitenblick verriet ihr Wohlgefallen.
»Bei diesem Nebel werden die Männer es auf dem unebenen Boden nicht leicht haben«, überlegte Caven. »Vielleicht entschließen sich die Generäle zu warten.«
»Sind die Pferde so weit?« unterbrach ihn Kitiara.
Ihr Ton machte Caven klar, daß mit dem Geplänkel Schluß war. Es wurde Zeit für die Schlacht.
»Malefiz und Obsidian sind gesattelt und beladen«, sagte er. »Wod kümmert sich um sie.«
»Wenigstens dazu taugt dein Knappe.«
»Trotzdem bleibt er mein Neffe.«
Kitiara warf ihm einen Blick aus ihren braunen Augen zu. »Wer wird hier weich?« Die Antwort wartete sie nicht ab. »Sag Wod, daß er Obsidian eine Extraportion Hafer geben und dann mit ihr an der Spitze der Westkolonne warten soll.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Schlacht, Caven«, gestand sie. »Ich bin nicht überzeugt, daß uns die Generäle des Valdan zum Sieg führen können. Für meine Begriffe haben sie schon die Belagerung vermurkst.«
Caven Mackid wartete, bis er sicher war, daß Kitiara ausgeredet hatte. »Du glaubst, wir verlieren?«
Kitiara blieb die Antwort schuldig. Statt dessen tätschelte sie ihren Schwertgriff. »Geh zu Wod und sag’s ihm«, meinte sie. »Und viel Glück, mein Freund. Ich fürchte, wir werden es heute brauchen.«
Nur Sekunden später war Caven zwischen Nebel und Bäumen verschwunden. Es wurde heller. »Bei den Göttern, warum blasen sie nicht zum Angriff?« flüsterte Kitiara gereizt. »Der beste Zeitpunkt ist schon vorbei. Worauf warten sie?«
Stimmen ließen sie stehenbleiben. Sie blickte wieder den Hang hinunter in den Nebel. Stimmen? Sie runzelte die Stirn. Wieder glitt ihre Hand zum Schwert. Unten um das Granitschloß des Meirs hatte sich der Nebel zusammengezogen und kroch mehr als mannshoch die Mauern empor. Es schien, als würde das Schloß schweben – Kitiara mußte zugeben, daß das taktisch sehr vorteilhaft sein würde. War der Nebel ein Werk von Zauberei? Hatte die Witwe des Meir ein paar Tricks auf Lager? Dreena war als Zauberin bekannt, doch ihre Macht war bescheiden. Janusz, der Zauberer des Valdan, hatte sie von Kindheit an unterrichtet.
Dreena muß doch wissen, daß sie dem Zauberer nicht gewachsen ist, dachte Kitiara bei sich. Er kennt alles, was sie versuchen könnte.
Wieder Stimmen. Und wieder kamen sie unten von der Schloßmauer. Flüstern. Wollten die Schloßbewohner etwa selbst angreifen? Kitiara sah wieder hoch zu ihrem eigenen Lager. Sie hatte keine Zeit, Caven oder andere Verstärkung zu holen, und wollte auch nicht unnötig Alarm schlagen. Vielleicht hörte sie nur das Geflüster ihrer eigenen Soldaten, das gespenstisch von den Steinmauern zurückgeworfen wurde.
»Dieser verfluchte Nebel«, flüsterte Kitiara. Nachdem sie ihr Schwert gezogen hatte, nutzte sie Nebel und Gebüsch als Deckung und schlich auf die Stimmen zu. Sie konnte kaum etwas sehen, gerade mal ihre eigenen Füße, aber dennoch schob sie sich vorwärts.
Die Stimmen schienen jetzt von links zu kommen. Plötzlich türmte sich vor Kitiara der graue Granit des Schlosses wie der gewaltige Grabstein eines Gottes der Vorzeit auf. Kitiara entfuhr ein Laut der Überraschung. Sie sah die Silhouette eines Busches, der genau am Fuß des Schlosses wuchs, und duckte sich dahinter.
»Wer ist da?« Das war eine Frauenstimme. Eine herrische Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu geben. Kitiara zog sich weiter hinter den Busch zurück und spähte durch die Blätter. Nur zwanzig Fuß weiter tauchte aus dem Nebel eine Frau auf, die jedoch ihr Gesicht abwandte. »Wer ist da?« fragte die Frau wieder in den Nebel. Sie wartete und wandte sich dann zum Schloß zu. »Lida?« Die Stimme bebte plötzlich vor Angst.
Kitiara hielt wieder die Luft an, diesmal jedoch geräuschlos, als die Frau sich umdrehte und die Söldnerin ihre Wange, dann das Profil ihrer Nase, dann diese unverwechselbaren türkisblauen Augen sah. Dreena ten Valdan vor dem Schloß? Kitiaras Gedanken überschlugen sich, als sie zu entscheiden versuchte, was sie tun solle.
Dreena hatte offensichtlich im Nebel die Orientierung verloren. Warum versuchte sie nicht, ihn magisch zu zerstreuen? Kit kam sofort auf die Antwort: Wenn Dreena das tat, würde Janusz wissen, wo sie ist.
Dreena trug nicht mehr das Rot und Blau, mit dem sie sich auf den Zinnen gezeigt hatte. Statt dessen hatte sie einen unförmigen, erdfarbenen Umhang übergeworfen. Ein Nebelfinger schlang sich um die Frau. Als der Nebel sich auflöste, war Dreena verschwunden.
Kitiara holte erschrocken Luft und erhob sich. Sie zwang sich, still zu bleiben und zu lauschen, und hörte, wie beschuhte Füße einen feuchten Pfad entlangeilten. Dann – nichts mehr. Kitiara stand kerzengerade mit gezogenem Schwert. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, länger hier zu bleiben. Dreena war fort, und Kitiara hatte die Gelegenheit verpaßt, sie zu erwischen. Im Schutz dieses Nebels konnte die Frau überall sein.
Mit einem Fluch steckte Kitiara ihr Schwert wieder ein und rannte durch den Nebel zum Söldnerlager. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Schloß entfernte, wurde der Nebel eine Handbreit flacher, bis er wieder nur ihre Knie umspielte. Als ihre schlanke Gestalt zwischen den Bäumen hindurch, an den Zelten vorbei und den Abhang zu den Zelten des Zauberers und des Valdan hinauf hetzte, blieb den Soldaten der Mund offen stehen. Kitiara hörte, wie Lloiden schon wieder über die Dummheit dieses Feldzugs herzog.
Keines der Zelte war bewacht. Nachdem sie kurz tief Luft geholt und ihre selbstsichere Haltung eingenommen hatte, betrat Kitiara das große Zelt – das mit dem purpur-schwarzen Wimpel darüber.
Im Zelt war es so warm wie draußen kalt und naß, und die Männer im Zelt funkelten den Eindringling finster an. Der Valdan, ein rothaariger Mann mittleren Alters, zischte dem Magier etwas zu. Janusz wirkte Jahrzehnte älter als der Valdan, war jedoch Gerüchten zufolge in Wirklichkeit ungefähr ein Jahr jünger. Kitiara ignorierte die beiden Generäle absichtlich, und diese ignorierten sie, denn sie zogen gerade wegen der Tirade des Valdan die Köpfe ein.
»Ich werde nicht angreifen, bevor wir sicher wissen, wo Dreena ist!« sagte der Valdan. »Seit sie die Zinnen verlassen hat, hat Janusz immer wieder seine magischen Künste eingesetzt, doch er kann sie nicht finden. Wir wissen nur, daß sie lebt. Ich muß wissen, wo sie steckt, bevor wir einen Angriff riskieren.« Er donnerte zum Nachdruck mit der Faust gegen den mittleren Zeltpfosten. Die Generäle schluckten, als die Stange knirschte und die Plane einzustürzen drohte. Janusz stieß ein einziges Wort aus, woraufhin sich der Mittelpfosten beruhigte. Besorgt warfen sich die Generäle einen Blick zu.
Feiglinge, dachte Kitiara. Da ihr jüngerer Bruder ein Zauberer war, war sie mit solchen Künsten vertrauter als die zumeist abergläubischen Bewohner der Gegend im Nordosten von Neraka.
Die Männer beachteten sie immer noch nicht. Kitiara mischte sich ein: »Dreena ten Valdan ist entkommen.«
Die Männer fuhren zu ihr herum. Kitiara merkte, wie ihr rechter Mundwinkel zuckte. Es war wirklich komisch – ängstliche, kleine Generäle, die wie Marionetten hin und her gerissen wurden. Der Valdan kniff die Augen zusammen; sie unterdrückte ein Kichern.
»Meine Tochter hat das Schloß verlassen?« fragte der Valdan.
Kitiara erwiderte seinen Blick unbeirrt und antwortete mit klarer Stimme: »Gerade eben. Ich habe sie selbst gesehen.«
»Bist du sicher?« drängte der Zauberer. »Ich habe unablässig gesucht…« Ein Blick des Valdan brachte ihn zum Schweigen.
Einer der Generäle, der selbstherrliche, meldete sich zu Wort. »Wir müssen sicher sein«, sagte er großspurig, kniff die Augen zusammen und rieb sich das Kinn. »Um so besser, wenn sie geflohen ist. Wenn Dreena ten Valdan im Kampf umkommen würde, könnten sich die Meiri-Bauern gegen uns auflehnen.«
Der zweite General schloß sich an. »Die Meiri-Bauern waren dem Meir treu ergeben, aber seine Frau beten sie regelrecht an. Wir sollten wirklich ganz sicher sein, daß der Hauptmann sich nicht irrt.« Sein Blick deutete an, wie wenig er von Kitiaras Zuverlässigkeit hielt. »Ich schlage vor, wir warten«, schloß er.
Kitiara ignorierte die beiden und wendete sich an den Valdan. »Ich bin sicher, daß Dreena das Schloß des Meir verlassen hat, so wahr ich hier vor Euch stehe.« Ihr Blick ließ nicht locker.
Der Anführer nickte Janusz zu. »Angreifen.«
Janusz verbeugte sich und verschwand. Auch die Generäle gingen. Kitiara wartete vor dem Zelt des Valdan, bis der Zauberer, dessen dünnes, weißes Haar um den Kragen seiner schwarzen Robe flatterte, in seinem eigenen Zelt verschwunden war. Dann folgte sie Janusz. Als sie das Zaubererzelt erreichte, stellte sie sich an die Zelttür, zog sie einen Fingerbreit auf und spähte hinein. Wissen war Macht, wie ihr Söldnervater ihr immer wieder gesagt hatte. Es konnte nichts schaden, wenn sie mehr über den geheimnisvollen Zauberer in Erfahrung brachte.
Janusz blickte weder nach rechts noch nach links, sondern ging direkt zu seinem Feldbett, unter dem er eine Truhe hervorzog. Er schnippste eine Prise grauen Staubs in die Luft, flüsterte »Rrachelan« und öffnete dabei ein magisches Schloß. Dann klappte er den schweren Deckel auf, griff hinein und zog ein Sandelholzkästchen heraus, das mit geschnitzten Minotauren und robbenähnlichen Tieren mit gewaltigen Stoßzähnen verziert war.
Er wiederholte das Zauberwort mit leicht abgewandelter Betonung und öffnete das Kästchen. Erleichterung zog über sein Gesicht. »Die Macht von zehn Leben für den, der das aufbringt«, flüsterte er. Kitiara merkte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten.
Janusz steckte seine Finger in die Kiste und holte zwei – ja, was? – heraus. »Edelsteine« wäre das richtige Wort gewesen, aber die Steine waren mehr als das, sie glühten in einem unirdischen Licht. Einst, auf einer Reise im Süden der Khurmanischen See zweihundert Meilen weiter südlich, hatte Kitiara eine Halskette aus Amethysten gesehen, die im Lampenlicht violett geleuchtet hatten, draußen jedoch das tiefe Blauviolett des dunkelsten Ozeans angenommen hatten. Jene khurmanischen Steine waren jedoch bloß Kiesel gewesen, verglichen mit diesen hier. Sie strahlten gleichermaßen die Hitze des Lichts und die Kälte des Winters aus.
Eis, dachte Kitiara. Sie sehen aus wie glühende, purpurne Ovale aus Eis, so groß wie Rotkehlcheneier. Noch nie hatte sie so etwas Schönes gesehen. Ihr Atem ging schneller.
Der Zauberer hatte gesagt, sie besäßen Macht. Kitiara wußte, daß er die Wahrheit sagte.
»Zauberer!« Der Valdan rief aus seinem Zelt. Der Magier blickte hoch und entdeckte Kitiara an der Zelttür. Eilig ließ er die beiden Steine in eine Tasche seiner Robe gleiten, und das seltsame, purpurfarbene Licht erlosch so vollständig, als seien die Juwelen nie dagewesen. Janusz konnte kaum sprechen, so schüttelte ihn die Wut. »Auf deinen Posten, Hauptmann«, brachte er heraus. »Und vergiß, was du hier gesehen hast, sonst wirst du plötzlich merken, daß du einen Fischkopf auf den Schultern trägst.«
Kitiara tat so, als würde sie sich schnell von der Zelttür zurückziehen, doch gleich darauf spähte sie wieder hinein. Der Magier holte tief Luft, so wie Kitiara es von ihrem Bruder Raistlin kannte, wenn der seine Gedanken leeren und sich auf einen Zauberspruch konzentrieren will. Dann drehte sich Janusz um und fegte aus dem Zelt. Kitiara hatte gerade noch genug Zeit, um sich hinter der Ecke des Zelts zu ducken.
Der Zauberer lief zu einer Lichtung, die ein Stück unterhalb der Zelte lag. Dort konnte er das Schloß gut erkennen. Seine Hände zuckten. Es war, als ob seine Finger ein Eigenleben hätten, während sie durch die komplizierten Bewegungen tanzten, die den Spruch begleiteten.
»Ecanaba ladston, zhurack!« sang der Magier.
Kitiara merkte, wie ihr Gesicht kribbelte, und wandte den Blick ab. Sie hörte Janusz weitersingen. Verwandelte er sie jetzt doch in einen Fisch? Sie schaute sich nach etwas Glänzendem um, einem Spiegel oder einer Pfütze Tauwasser, die ihr verraten sollte, ob sie noch Kitiara Uth Matar war. Aber noch während sie sich umsah, erinnerte sie eine Stimme in ihrem Kopf daran, daß der Zauberer das Kästchen nicht verschlossen hatte. Auf einmal riß Donnergrollen sie aus ihren Gedanken. Sie blickte nach oben.
Über dem Schloß des Meir ballten sich Wolkentürme zusammen, eine Gewitterwand so hoch wie ein Dutzend Schlösser. Der Himmel über dem Söldnerlager war plötzlich klar. Die Soldaten verließen ihre Posten. Starr vor Schreck und mit offenem Mund wurden sie Zeuge, wie der Zauberer dort am Hang die Herrschaft über die Naturgewalten an sich riß und diese gegen den Feind führte. Die Menschen an der Brustwehr des Schlosses waren fast ebenso still. Mit wachsendem Entsetzen blickten sie nach oben.
Über ihnen pulsierte die Wolke. Gelbe, blaue und rote Blitze brachen aus dem wogenden Nebel. Der Donner hallte in Kitiaras Kopf nach. Sie mußte sich zwingen weiterzuatmen. Ihre Knie wurden butterweich, und sie mußte sich gegen einen Baum lehnen. Hätte sie sich jetzt verteidigen müssen, wäre sie so leicht gefallen wie blutige Anfänger. Doch den Söldnern näherte sich kein Angreifer.
Dann öffnete sich die Wolke mit einem Mal und ließ Feuer auf die Verteidiger des Schlosses herabregnen.
Soldaten, Bauern und Adlige schrien und versuchten entsetzt und vergeblich, dem flüssigen Feuer zu entkommen. Einigen gelang es, ihre Kleider auszuziehen, nur um dann zu bemerken, daß der Schwefel auf ihrer Haut haftet. Viele stürzten sich von den Schloßmauern, um den qualvollen Tod abzukürzen. Andere versuchten vergeblich, das Schloß zu beschützen, indem sie Pfeile auf die Armee der Belagerer abschossen, die sicher außerhalb ihrer Reichweite wartete.
Machtlos gegen den Schwefel verbrannten die Anhänger des Meir wie lebende Fackeln. Das Holztor des Schlosses explodierte. Das Obergeschoß stürzte ein. Ein Teil der Schloßmauer brach auf, so daß Kitiara durch den Spalt den Inhalt von Wassertrögen kochen und blubbern sah. Dann zerbarsten auch die Tröge.
Janusz hatte eine solche Macht, daß die Söldner von dem Feuer nichts fühlten als eine angenehme Wärme an ihren Füßen. Ein heißer Wind wehte durch das Lager, doch auch das war angesichts der Nässe beinahe angenehm. Aber der Wind führte auch Asche mit sich, und bald tränten den Söldnern die Augen.
Die Klügeren hielten ihre Wollmäntel vor Mund und Nase. Lloiden nicht. Hustend fiel er vor seinem Zelt auf den Boden. Kitiara fragte sich, ob sich Janusz so für Lloidens Aufbegehren am Morgen rächte.
Und dann war alles vorbei. Der feurige Regen war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Die Wolke verpuffte zu nichts. Die Söldner wagten wieder zu atmen. Wo einst ein mächtiges Schloß gestanden hatte, war jetzt nur noch eine rauchende Ruine. Noch immer klaffte die Öffnung in der Vorderseite des Schlosses, doch noch wagte sich keiner hinein. Die Luft war voller Asche und stank grauenvoll nach verkohltem Fleisch.
Im Lager erhob sich zitternd eine Stimme. »Und wozu hat er uns gebraucht?« fragte der Soldat.
Da kam der Valdan hinter Janusz’ Zelt hervor. Er zeigte mit dem Schwert auf Kitiara, die immer noch am Baum lehnte. »Zum Angriff!« schrie er mit puterrotem Gesicht. »Ich habe euch angeheuert, um meine Feinde vom Erdboden zu vertilgen! Also tut das auch!«
»Valdan«, sagte Kitiara benommen, während sie sich zwang, aufrecht zu stehen, »es gibt keine Feinde. Euer Zauberer hat sie alle getötet.«
Aber der Anführer fuchtelte mit seinem Schwert wie ein Kind, das nach einem eingebildeten Monster sticht. »Überzeug dich davon, Hauptmann! Ich will sicher sein, daß alle tot sind.«
Kitiara setzte noch einmal an. »Valdan, es kann unmöglich jemand über – «
»Findet sie!«
Niemand durfte sich ihm widersetzen. Halbtot von der Anstrengung, die ihn der Feuerregen gekostet hatte, schleppte sich Janusz den Hügel hoch. Seine Stimme war kaum zu hören, sein Gesicht von Asche und Schweiß überzogen. »Valdan, es ist zu heiß da drin, als daß sich unsere Soldaten hineinwagen könnten.«
»Dann mach Regen!«
Janusz blickte den Valdan lange an. Dann drehte er sich wortlos um und taumelte wieder den Hang hinunter. Kitiara hörte neuen Singsang.
»Es regnet!« rief ein Soldat.
Das stimmte. Es waren keine Wolken zu sehen, aber dennoch hatte der Magier einen leichten Schauer hervorgerufen, der in der Hitze des zischenden, glühendheißen Schlosses verdunstete. Einer der Generäle – der selbstbewußte – befahl seinen Truppen, in das Schloß des Meir vorzurücken. Kitiaras Leute sollten auf Anweisung des Generals um das ausgebrannte Gebäude herum Stellung beziehen.
Kaum waren die Soldaten zwischen die glühenden Säulen getreten, die einst das Haupttor flankiert hatten, als in der Vorhut von Kitiaras Männern ein Schrei ertönte. Der Schrei wurde von Mann zu Mann weitergegeben, bis er schließlich zu verstehen war. »Wir werden angegriffen!«
»Wie?« kreischte der Valdan. Seine blauen Augen quollen hervor, und er fuchtelte noch wilder mit dem Schwert herum. »Zauberer!«
Kitiara zog ihr Schwert aus der Scheide und rannte ein paar Schritte nach unten, um sich ihrer Truppe anzuschließen, doch der Valdan rief sie zurück. »Hol den Zauberer und komm mit ihm in mein Zelt!« befahl er.
»Aber meine Männer…« Kitiara sah zu ihnen hin. Sie sah, wie sie scharenweise im Sturm Hunderter berittener Adliger in Scharlachrot und Königsblau fielen, denen Bauern mit Hacken, Äxten und an Stangen befestigten Pflugscharen folgten. Unbeholfene Waffen vielleicht, doch nicht in den Händen von Männern und Frauen, die damit Haus und Leben verteidigten.
Den Geruch von Rauch und Matsch in der Nase rannte Kitiara zum Zauberer hinunter. Janusz saß mit aschfahlem Gesicht und geschlossenen Augen auf einem großen Stein. Die Hände lagen mit nach oben gekehrten Handflächen still in seinem Schoß. »Der Valdan will Euch sehen, Zauberer«, sagte Kitiara.
Er riß die Augen auf. Kitiara mußte sich vorbeugen, um seine Worte zu verstehen. »Ich… kann nicht mehr«, flüsterte Janusz. »Habe keine Kraft mehr.« Er hustete und schloß die Augen wieder.
»Wir werden von einer großen Meiriarmee angegriffen«, beharrte Kitiara.
»Ich weiß.«
»Vielleicht noch mehr Feuer –?«
Der Zauberer warf ihr einen fragenden Blick zu und schüttelte verächtlich den Kopf. Kitiara kannte die Regeln der Magie von ihrem Bruder: Ein einmal verwendeter Spruch verschwindet aus dem Kopf des Zauberers, bis er ihn sich wieder neu einprägen kann. Starke Magie zehrt sehr an der körperlichen Kraft. Wenn man jetzt noch mehr von Janusz verlangte, konnte das seinen Tod bedeuten.
»Aber der Valdan – «, versuchte sie es noch einmal.
»Ich komme. Gib mir deinen Arm.«
Kitiara half dem Zauberer den Hügel hoch zum Zelt des Valdan, wo sie ihn vor dem kleinen Tisch des Anführers auf eine Bank setzte. Sie zog sich zum Eingang zurück, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Einer der Generäle kam blutverschmiert herein und schob sie beiseite. »Valdan, wir verlieren!« rief er.
Der Valdan sprang auf. Seine blauen Augen unter den karottenroten Haaren blitzten. »Wie kann das angehen?«
»Sie sind siebenmal so viele wie wir.«
»Aber ich habe euch angeheuert, um die Meiri zu schlagen!« Mit der Hand am Schwert näherte sich der Valdan dem Söldnerführer.
Der General war verzweifelt. »Wir müssen uns zurückziehen. Vielleicht können wir uns in den Bergen wieder sammeln und neu formieren…« Er machte einen Schritt zurück.
»Nein!« Schnell zog der Valdan sein Kurzschwert und stieß es dem General in den Bauch, wo er die Waffe abrupt zur Seite riß und die Wunde so verbreiterte. Der General brach tot in einer Lache seines Blutes zusammen.
Der Valdan beugte sich über ihn, um dem Leichnam das Rangzeichen abzureißen. Das blutige Abzeichen gab er Kitiara. »General Uth Matar«, sagte der Valdan ohne Regung, »übernimm das Kommando.«
Kitiara schluckte. Hinten lächelte der Zauberer mit kaum verhohlener Verachtung. Sie war zum General einer geschlagenen Armee ernannt worden, und das von einem verrückten Anführer, der seine besiegten Generäle hinrichtete. Kein Wunder, daß Janusz vor Hohn strahlte. Kitiara würde den Tag nicht überleben, und die purpurfarbenen Juwelen des Magiers würden sein Geheimnis bleiben.
Dem Gesicht des Valdan nach hatte Kitiara jedoch eine große Ehrbezeugung empfangen. »Dank, Herr«, sagte sie mit möglichst wenig Ironie in der Stimme. Sie stieg über den Leichnam ihres Vorgängers und stellte sich wieder an die Tür. Sobald der Valdan seine Aufmerksamkeit dem Zauberer zuwandte, schlüpfte sie durch die Tür und rannte zu ihrem eigenen Zelt. Unterwegs warf sie das Generalsabzeichen in den Dreck.
Als Kitiara am Zelt des Zauberers vorbeikam, wurde sie langsamer. Janusz war im Zelt des Valdan beschäftigt, und zudem war er mittlerweile stark geschwächt. Kitiara war sich sehr sicher, daß das Sandelholzkästchen nicht mehr mit Fallen gesichert war. Sie zögerte. Ohne Frage würde der Valdan seinen geschlagenen Söldnern wohl kaum nachjagen, um ihnen den schuldigen Sold auszuzahlen. Wenn sie schon vom Schlachtfeld floh, konnte sie genausogut ihren Lohn in Form von ein, zwei Purpurjuwelen mitnehmen.
Kitiara sah sich um und schlüpfte ins Zelt. Augenblicklich kniete sie vor der Truhe. Sie holte tief Luft und in der Hoffnung, daß der Zauberer keine magische Schlange darin hielt, die seine Reichtümer bewachte, hob sie den schweren Deckel hoch. Nichts geschah. Sie zog das Sandelholzkästchen heraus. Wenn der Magier irgendwo Fallen angebracht hatte, dann hier. Sie klappte den Deckel auf. Wieder nichts.
Angesichts des Glanzes der neun purpurfarbenen Steine, der ihr aus dem Sandelholzkästchen entgegenstrahlte, vergaß sie ihre Angst. »Die Macht von zehn Leben«, hatte der Zauberer gesagt. Vielleicht konnte sie diese Macht entfesseln. Sie würde einen Magier brauchen, der ihr half. Und welcher Magier sollte das tun, wenn nicht ihr eigener Bruder, Raistlin, zu Hause in Solace? Seit er ein kleiner Junge war, ging er in eine Zauberschule. Sie wußte, daß er begabt war; auf jeden Fall aber war er loyal.
Man mußte darüber nachdenken.
Im Moment erforderte die Lage allerdings eher Handeln als Nachdenken. Während sie ihren Anfall von Ehrfurcht verfluchte, stopfte sie die neun Steine in die Tasche und rannte hinaus.
Wod, Cavens Knappe, wartete an der verabredeten Stelle. Der schlaksige Junge hatte Obsidian am Zügel und hielt sich von einem stampfenden, schwarzen Hengst fern, der an eine Eiche gebunden war. Ohne ein Wort zu sagen, entwand Kitiara Wod die Zügel und bestieg ihr Pferd. Sie wendete die Stute, als jemand sie rief.
Kitiara hielt noch einmal an. »Caven, ich verschwinde.«
Er schwang sich auf seinen Hengst Malefiz. Caven war der einzige, der das Tier beherrschen konnte, das er einem Minotauren auf Mithas beim Würfeln abgenommen hatte. »Ich komme mit.«
»Aber – «, setzte Kitiara an.
»Ich komme mit«, unterbrauch er sie nachdrücklich. Er winkte Wod, der davonrannte.
Kitiara entschied, daß er ihr vielleicht nützlich sein könnte. Besonders jetzt. »Also los.« Caven konnte sie später immer noch loswerden, dachte sie bei sich.
Kurz darauf tauchten die beiden schwarzen Pferde mit den Reitern in den Bäumen unter. Nur Minuten später folgte ihnen Wod auf einem langbeinigen, braunen Klepper.
Hinter ihnen nahm die Schlacht ein blutiges Ende. Der Zauberer saß noch immer auf der Bank im Zelt des Valdan. »Hol die Steine«, befahl der Anführer.
»Noch nicht«, sagte Janusz.
»Du hast gesagt, sie sind mächtig.«
»Man muß sie erst ganz genau untersuchen«, wehrte sich der Zauberer. »Ich kenne ihre Geheimnisse noch nicht.«
»Hol sie!«
Erschöpft stand der Zauberer auf und holte das Sandelholzkästchen aus seinem Zelt. Wieder beim Valdan, setzte er zu dem, Spruch an, der das Kästchen öffnen sollte. Mitten im Spruch brach er ab. Der Deckel ging leicht auf. Als der Magier aufblickte, kämpften Schrecken und Zorn in seinem grauen Gesicht. Dann starrte er wieder in das Sandelholzkästchen. »Dieses Weibsstück!« Mit aufeinandergepreßten Lippen griff Janusz in die Tasche und zog zwei glänzende Steine hervor. »Sie hat neun, und soweit ich weiß, reicht schon einer, um Krynn zu beherrschen.«
Draußen ertönte ein Schrei. Der selbstgerechte General trat ins Zelt, doch jede seiner Handbewegungen spiegelte seine Nervosität. »Wir haben die Leiche Eures Schwiegersohns gefunden, Valdan«, sagte er und fügte unnötigerweise hinzu: »Des Meirs.«
»Und?« fauchte der Anführer. »Wir wissen, daß er schon beim ersten Angriff ums Leben gekommen ist. Verschwinde oder komm zur Sache. Ich habe wichtigere Probleme.«
Der General zuckte sichtlich zusammen. »Vor dem Sarg liegt die Leiche einer Frau.«
»Na, und? Wer ist es?«
»Es… es müßte der Leichnam der Frau des Meir sein.«
Der Valdan wurde gefährlich still, um dann zu sagen: »Kitiara hat geschworen, daß Dreena entkommen ist.«
»Hauptmann Uth Matar muß sich geirrt haben, Valdan«, sagte der General, dessen Stimme vor Bosheit triefte. »Der Körper trägt den Hochzeitsschmuck von Dreena ten Valdan – die Malachiteule an einer Silberdrahtkette. Die Kette ist geschmolzen, doch der Stein ist zu erkennen.«
Die Stimme des Valdan blieb ruhig. »Dreena würde sich nie davon trennen.«
»Beim dunklen Gott Morgion«, sagte Janusz schließlich gebrochen. Seine Stimme war rauh. »Dreena ist im Zauberfeuer umgekommen. Und ich…« Ihm fehlten die Worte. Benommen sah er zu, wie der General dasselbe Schicksal erlitt wie sein Kamerad zuvor.
Noch während der General sein Leben aushauchte, fuhr der Valdan zum Zauberer herum. Sein Gesicht war fahl, die Fäuste geballt.
»Wenn dir dein Leben lieb ist, Zauberer, dann finde Kitiara Uth Matar. Bring sie zu mir. Ich will sie sterben sehen.«