8 Das Amulett

»Dreena.« Kai-lid kämpfte mit der Benommenheit zwischen Schlafen und Wachen. Die Stimme, die da sprach, klang geisterhaft und wie aus einer anderen Welt.

»Dreena.«

Sie kannte diese Stimme oder eine ganz ähnliche. Sie hatte sie gehört, wenn sie als Kind mit großen Augen neben ihrer Mutter gestanden und einfache Zaubersprüche gelernt hatte. Aber Kai-lids Mutter war tot.

Dennoch hörte sie die Stimme wieder. Kai-lid schlug die Augen auf. Es war völlig finster. Nachdem sie sich auf ihrem Lager in der Höhle etwas aufgesetzt hatte, bemühte sie sich, in der Schwärze etwas zu erkennen. Sie roch etwas Großes, Warmblütiges, das sich in ihrer Nähe bewegte, das sie spürte, aber nicht berührte. Es war ein magisches Wesen, allerdings nicht vollständig magisch. Kai-lid bewegte die Lippen zu einem Lichtspruch, doch die Stimme erklang zuerst: »Shirak.«

Silbernes Licht umströmte Kai-lid und das große Wesen, dessen Kopf die Decke der Höhle streifte. Die Zauberin riß die Augen auf.

Es war ein Einhorn.

Weißes Licht umfloß die Platinhaut des würdevollen Geschöpfs. Das Einhorn war groß, hatte deutlich ausgeformte Muskeln und leuchtende, eisblaue Augen voller Intelligenz, doch seine Stimme war sanft: »Hallo, meine Dreena.« Dieses zischende Flüstern. Ganz sicher hatte Kai-lid es schon einmal gehört.

»Mama?« Die Frage ertönte in der zitternden Stimme der fünfjährigen Dreena ten Valdan, nicht der rauhen Stimme der Erwachsenen, die vor ihrem Vater geflohen war und sich den Namen Kai-lid gegeben hatte.

Kai-lid – oder Dreena – erinnerte sich nur flüchtig an die traurige Frau, die sie durch ihre Kindheit begleitet hatte und dann verschwunden war – gestorben, nachdem sie einen toten Sohn zur Welt gebracht hatte, wie es am Hof ihres Vaters hieß. Schon lange vor ihrem Tod hatte jene Frau vor Schmerz und Kummer geweint.

Gerüchten zufolge hatte der Valdan seinem Zauberer befohlen, seine Frau nach der Geburt des toten Sohnes aus dem Weg zu räumen. Beim Staatsbegräbnis war der Sarg geschlossen gewesen – was noch mehr Gerüchte aufkommen ließ. Die einfachen Leute glaubten, Dreenas Mutter sei eines Nachts geflohen. Ein schnellfüßiges, silbernes Pferd hätte sie vor dem Schloß am Waldrand erwartet.

»Mama?« wiederholte Kai-lid jetzt.

Das Einhorn neigte den Kopf und berührte den Boden vor Kai-lid mit seinem Horn. »Wenn es dir hilft, mich für deine Mutter zu halten, wollen wir es dabei belassen, Dreena.«

»Aber bist du’s?«

Das Einhorn antwortete nicht, und als Kai-lid ihre Frage wiederholte, sagte das Tier schlicht: »Wir haben keine Zeit. Es gibt Ärger, Dreena.«

»Ich bin hierhergekommen, weil meine Mutter aus dieser Gegend stammt«, beharrte Kai-lid. »Mein Vater hat sie hier als junger Mann auf einer Reise geheiratet.«

»Ich weiß. Du kannst dich nicht länger verstecken – weder hier noch anderswo«, sagte das Einhorn. »Dein Vater ist ins Eisreich geflohen. Dort zieht er ein großes Heer zusammen.«

»Aber vom Eisreich aus kann er mich doch unmöglich hier bedrohen«, wandte Kai-lid ein.

Das Flüstern ging weiter. Es hatte eine nahezu hypnotisierende Wirkung auf die junge Frau. »Er und der Magier haben etwas sehr Mächtiges.«

Kai-lid erschauerte. Sie zog ihre Robe enger um sich. »Janusz hält mich für tot. Er würde nie darauf kommen, nach mir zu suchen. Hier bin ich sicher. Ich will nicht fort.«

»Ich weiß.« Das Einhorn senkte wieder sein Horn und zog sich langsam aus der Höhle zurück. »Aber die Zeit drängt.«

»Warte! Was soll ich tun?« rief Kai-lid.

Anstelle einer Antwort blieb das Silberwesen im Eingang der Höhle stehen. »Das wird dir helfen, Dreena. Vergiß es nicht.«

»Aber…«

Das Einhorn begann zu singen:

»Drei Liebende, die Zaubermaid,

Geflügelter mit treuer Seele,

Untote drohen im Düsterwald,

Sichtbar in der Spiegelschale.

Böses befreit durch des Diamanten Flug.

Rache geschmeckt, eisiges Herz

Sieht sein Bild schon auf dem Thron

Durch Stahl und heißes Feuer gebremst,

Funken fliegen aus Stahl und Stein.

Böses entsteht aus des Edelsteins Licht.

Drei Liebende, die Zaubermaid,

Das Band der Tochterliebe gelöst,

Legionen vertrieben, viel Blut nun fließt,

Frostiger Tod im endlosen Schnee.

Das Böse geschlagen durch Edelsteins Macht.«

Als die letzte Zeile in der Nachtluft hing, begann das Licht um das Einhorn nachzulassen. Das Geschöpf trabte in den Düsterwald. »Warte!« rief Kai-lid noch einmal, während sie von ihrem Lager aufsprang und barfuß über den Steinboden rannte. Als sie die Öffnung erreichte, war das Einhorn verschwunden.

Die Nacht war still. Kai-lid hörte kein Hufstampfen, sah keinen grauen Schatten in den Wald schlüpfen. Die Lichtung war von Nebel eingehüllt.

Dann saß sie plötzlich wieder auf ihrem Lager, die Decke lag auf dem Boden, und sie zitterte in der Kälte der beginnenden Morgendämmerung.»Es war ein Traum«, beharrte Xanthar kurz darauf, als sie ihm alles erzählt hatte, was geschehen war.

»Nein«, widersprach sie. »Es war wirklich so.«

Sie saßen an ihrem Lieblingsplatz – zwei Äste, einer über dem anderen, die aus der toten Platane ragten. »Wenn du ganz hoch aufsteigst«, meinte Kai-lid trotzig, »siehst du es vielleicht noch. Aber du bist zu stur.«

»Den Legenden nach wird ein Einhorn nur sichtbar, wenn es das will. Wenn nicht, hilft kein Suchen und kein Wünschen. Außerdem habe ich noch nie gehört, daß sich ein Einhorn aus dem Düsterwald gewagt hätte.«

»Meine Höhle liegt ganz nah am Wald.« Ihre Stimme wurde lauter. »Du bist so halsstarrig. Es war wirklich meine Mutter.«

Xanthar plusterte sein Gefieder auf und setzte sich um. »Seit wann ist deine Mutter ein Einhorn? Außerdem hast du mir erzählt, deine Mutter sei tot.«

»Als ich klein war, hat sie mir erzählt, sie komme aus der Gegend nördlich von Haven. Das könnte der Düsterwald sein.«

Die Eule schnaubte und murmelte: »Wohl kaum.« Doch Kai-lid achtete nicht darauf.

»Ich habe immer geglaubt, sie sei ein Einhorn in Menschengestalt gewesen, daß sie sich in meinen Vater verliebte, ihn geheiratet hat und mit ihm nach Kern gegangen ist. Als das Leben unerträglich wurde, hat sie ihre Einhorngestalt wieder angenommen und ist nach Hause zurückgekehrt. Ich habe es nie jemandem erzählt. Aber sie wird wissen, was mein Herz glaubt.«

»Das ist romantischer Unsinn, Kai-lid. Du hast geträumt, weil du gestern in Haven etwas Falsches gegessen hast.«

»Ich habe meine Mutter gesehen.«

Das Gespräch drehte sich im Kreis, bis Eule und Zauberin dessen müde wurden. Wortlos saßen sie da, erst in trotzigem Schweigen, dann einfach in Gedanken versunken. Als schließlich der Himmel im Osten heller wurde, sagte Xanthar, als ob keine Zeit vergangen wäre: »Und du glaubst also, daß dein Vater von Süden her angreifen will?«

Kai-lid zögerte. Schließlich nickte sie. Die Eule nickte auch. »Dann müssen wir handeln«, sagte Xanthar leise.

»Wir?« fragte sie und richtete sich auf. Ihre Kapuze fiel zurück. »Du kannst dich nicht zu weit vom Düsterwald entfernen. Du würdest deine Magie verlieren.«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Die Gesetze des Düsterwalds sind nicht überall gleich. Es heißt, daß Reisende, die tief in den Düsterwald eindringen, feststellen, daß ihre Waffen verschwinden – aber hier nicht. Es heißt, daß Geister Reisende abschrecken – aber hier nicht. Vielleicht kann ich weiter fort, als wir dachten.«

»Du hast gesagt…«

»Wir müssen den Valdan aufhalten.«

»Hier sind wir sicher.«

Die Rieseneule schwieg eine Weile. Dann sagte Xanthar: »Keiner ist irgendwo sicher.« Kai-lid dachte an Xanthars tote Gefährtin und seine Jungen.

»Du bist seine Tochter. Du kannst dich nicht vor ihm verstecken, wenn er entschlossen ist, dich zu finden.«

Kai-lid kehrte der Eule den Rücken. Ihre Stimme klang beherrscht. »Weil er Macht über das Königreich des Meir gewinnen wollte, hat er mich zu einer Heirat gezwungen, die ich nicht wollte. Als der Meir und ich uns dann verliebten und ihn von unserem Land fernhielten, hat er angegriffen. Er hat meinen Mann getötet. Soll ich das vergeben?«

»Ich rate dir nicht, etwas zu vergeben. Ich sage, daß du ihn aufhalten mußt. Vielleicht bist du als einzige dazu imstande.«

Kai-lid rutschte von ihrem Ast auf einen tieferen, dann auf den Boden. Sie blickte zu der Eule hoch. »Das kann ich nicht.«

»Du bist entkommen, weil deine Zofe zurückgegangen ist, hast du gesagt.«

Kai-lids Gesicht wurde kreideweiß. »Hör auf.«

Aber Xanthar fuhr fort. »Lida ist zurückgegangen«, sagte er. »Du hast es mir selbst erzählt, Kai-lid. Lida ging zurück. Sie zog deine Kleider an, weil ihr klar war, daß dein Vater das Schloß zerstören würde, und weil sie wußte, daß nur ein toter Körper, den man für den von Dreena ten Valdan hielt, ihn davon abhalten würde, dich zu verfolgen.«

Die Eule nahm keine Rücksicht. Kai-lid hielt sich die Ohren zu. Der Vogel ging zur Gedankensprache über.

Sie war deine Freundin. Ihr seid zusammen aufgewachsen; ihre Mutter hat euch zusammen erzogen. Und sie ist für dich gestorben. Ob Dreena ten Valdan oder Kai-lid Entenaka – kannst du jetzt selbstsüchtig sein?

Die Zauberin begann zu weinen.

Erinnere dich an jenen Morgen, Kai-lid. Erinnere dich, Dreena.

Unwillkürlich erinnerte sich die Zauberin, wie sie mit Lida aus dem Schloß geflohen war. Ihre Zofe war mitten im Fluchttunnel stehengeblieben, weil sie noch etwas vergessen hatte, und hatte Dreena gefragt, ob sie ihr Hochzeitsamulett als letzte Liebesgabe im Sarg des Meir lassen wolle.

Die Erinnerung an diesen hastigen Wortwechsel im Morgengrauen verfolgte Kai-lid noch immer. Lidas Gesicht im Schatten, auf dem sich abwechselnd Entschlossenheit und Furcht abzeichneten. Die feuchten Steinmauern des Gangs. Der Modergeruch des Erdbodens. Das Geräusch der Wassertropfen. Und, alles übertönend, das Schlagen der feindlichen Trommeln, das Dreenas Herzklopfen wiedergab. Sie hatte das Amulett abgenommen, den flachen, grünen Stein geküßt und ihn Lida in die Hand gedrückt. Halb hatte sie geahnt, was ihre treue Freundin vorhatte, doch sie hatte nichts dagegen gesagt. Dreena hatte mit Lida verabredet, daß sie sich in einer Höhle unter einem Wäldchen westlich des Schlosses treffen würden. Dann hatte die Dienerin Dreena fest umarmt, sie geküßt und, bevor sie zurückgelaufen war, geflüstert: »Meine Schwester.«

Wie viele läßt du noch sterben, damit du sicher bist, Dreena?

Kai-lid schrie auf und rannte in die Höhle zurück, wo sie sich schluchzend in die Dunkelheit hockte. Schließlich verriet ihr das Geraschel und das Kratzen von Krallen auf den Steinen, daß Xanthar am Eingang stand. Seine Gedanken waren jetzt freundlicher.

Ich glaube dir deinen Traum, Kai-lid. Aber ich glaube, er ist ein Zeichen, daß nur du deinen Vater aufhalten kannst. Er wartete. Als Kai-lid nicht antwortete, fügte er hinzu: Ich begleite dich.

»Das kannst du nicht«, flüsterte Kai-lid.

Ich lasse dich nicht alleine gehen.

»Und dann stirbt noch einer für mich, Xanthar?« wollte sie verbittert wissen.

Entschuldige. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Jeder trifft seine eigene Wahl. Lida hat sich dafür entschieden, im Schloß zu bleiben. Ich habe mich dazu entschlossen, mit dir zu gehen. Eine Art Lächeln erreichte sie mit den Gedanken der Eule. Ich sollte darauf hinweisen, daß ich entschlossen bin, heil und unversehrt zurückzukommen, damit ich meine Enkel weiter mit meinen brummigen Launen beeindrucken kann.

Kai-lid saß auf ihrem Lager, bis sie zu zittern aufhörte. Dann zog sie ihre Sandalen an, stand auf und schloß den Vorhang vor dem Eingang, so daß die Eule ausgeschlossen war.

Was hast du vor? fragte Xanthar.

»Ich habe eine Idee.«

Sie spürte die Frage der Eule und antwortete schon, bevor sie sich in ihrem Kopf formte. »Die Söldner. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, mich zu begleiten. Sie sind gut ausgebildet.«

Die Eule zögerte, bevor sie sagte: Das ist ein guter Gedanke. Kannst du sie durch Magie finden?

»Vielleicht. Ich brauche Ruhe, Xanthar.«

Die Zustimmung des Vogels spürte sie mehr, als daß sie sie hörte. Ein Schatten fiel über den Vorhang, als Xanthar sich dort als Wache aufstellte.

Die Schale, nach der die Zauberin griff, sah von außen ganz gewöhnlich aus – auf Hochglanz poliertes Ahornholz. Aber innen glitzerte sie, denn sie war mit Gold ausgeschlagen. Genau in der Mitte unterbrach ein Symbol das gehämmerte Muster – ein eingeritztes Edelweiß.

Jetzt beugte sie sich vor und holte einen purpurfarbenen Seidenschal aus einer Ledertasche unter dem Tisch und einen mit Gold emaillierten Krug aus einer Nische in der Höhlenwand hervor. Die Flüssigkeit, die Kai-lid aus dem Krug in die Schale goß, schien gewöhnliches Wasser zu sein; es stammte aus einem nahen Fluß, der westlich von Haven in den Weißen Fluß mündete. »Ein Fluß, der am Rand des Düsterwalds entspringt«, murmelte Kai-lid ehrfürchtig.

Während sie das Wasser in die Schale goß, sah sie zu, wie das Edelweiß erst verschwamm und dann wieder scharf zu sehen war, als sich das Wasser beruhigte. »Mit der Stille kommt die Klarheit«, begann sie mit den rituellen Worten, die Janusz selbst ihr vor Jahren beigebracht hatte. Mit schlanken Fingern malte sie Zeichen in die Luft und legte den Schal, der die Farbe dunkler Trauben hatte, über ihren Kopf und die Schale. Ihre Daumen hielten die Ecken des Schals fest, doch die Finger bewegten sich weiter, während sie den Zauber wirkte. Sie schloß die Augen, um sich zu konzentrieren.

»Klarwalder kerben. Annwalder kerben«, murmelte sie. »Katyroze warn. Emlryroze sersen. Enthülle, enthülle.«

Sie machte die Augen auf und wartete. Zuerst geschah gar nichts. Dann trübte sich das Wasser, bewegte sich und veränderte sich, als sei es eine Gewitterwand. Das gleiche Graublau leuchtete in ihren Augen. Sie ließ den Schal los. Die Seiten fielen um ihren Kopf, bildeten jedoch ein Zelt über der Schüssel. Ihre linke Hand zog den Schildpattknopf aus der Tasche, den sie in dem Eingang in Haven gefunden hatte. »Ich suche den, dem dieses Ding gehört«, flüsterte sie. »Wildrag-meddow, jonthinandru. Enthülle.«

Bei dem Befehl klärte sich das Wasser in der Schale, doch von dem goldenen Edelweiß an seinem Grund war nichts mehr zu sehen. Statt dessen sah man ein Waldstück. Kai-lid unterdrückte einen Freudenschrei. Da war der Halbelf, der einen Fuchswallach durch den grauen Morgen lenkte, und hinter ihm Kitiara Uth Matar und der andere Söldner auf schwarzen Pferden. Ein gähnender Junge, der an einem langen Brötchen knabberte, ritt hinter ihnen her. Die kleine Gruppe war in ein Gespräch vertieft, doch Kai-lids Suchzauber gestattete ihr nur zu beobachten, nicht mitzuhören. Sie sah ein Stirnrunzeln auf dem Gesicht des Halbelfen, als dieser Pflanzen beiseite drückte, in der Erde herumstocherte und in der Hocke mit den Ellenbogen auf den Knien den Boden absuchte.

Kai-lid beobachtete sie einige Zeit, weil sie hoffte, sie könne aus der Umgebung schließen, wo genau sich die Gruppe befand. Natürlich nicht im Düsterwald, aber auf jeden Fall in dieser Gegend. Sie sah Ahorn, Eichen, Platanen, Pinien und Unterholz aus jungen Ahornbäumchen. Die dichten, niedrigen Büsche verrieten Kai-lid, daß die vier nah am Waldrand waren, wo das Sonnenlicht Bodenpflanzen besser erreichen konnte.

Plötzlich sah sie, wie der Halbelf erstarrte und sich vorbeugte, weil sein Blick auf dem Boden etwas entdeckt hatte. Seine ganze Haltung veränderte sich. Er war nicht mehr nur wachsam, sondern er handelte. Er sprang vom Pfad und nach rechts. Er zeigte auf etwas am Boden – einen Fußabdruck? –, während die beiden Söldner auf ihren Pferden abwarteten und der kauende Knappe schluckte. Dann zeigte der Halbelf nach rechts, praktisch in die entgegengesetzte Richtung, die, aus der sie gekommen waren. Die Söldner saßen sichtlich ungeduldig im Sattel, als der Halbelf zu seinem Pferd zurückging. Die Gruppe machte kehrt.

»Sie verfolgen etwas«, sagte Kai-lid. Sie wartete noch einige Augenblicke, bevor sie nickte. »Morgmegh, mortrhyan, merhet. Schluß jetzt.«

Das Wasser war wieder Wasser, die Schale nur eine Schale, das Edelweiß glänzte wie zuvor am Boden. Sie warf den purpurroten Schal zurück und spürte, wie er sich um ihre Schultern schmiegte. Kai-lid legte die plötzlich müden Hände an die Schläfen. Ihre schwarzen Haare fielen wie Seide vor, und ihre Aufregung kämpfte mit ihrer Müdigkeit. Xanthar wartete schweigend am Eingang zur Höhle. Aus den Geräuschen konnte er schließen, daß sie fertig war, doch er wußte auch, daß Beobachten sie immer erschöpfte.

Schließlich hob sie den Kopf und ging zum Vorhang. Ein orangefarbenes Augenpaar musterte sie besorgt. »Ich habe sie gefunden«, sagte sie ruhig.

»Ich habe nachgedacht. Vielleicht sollten wir es bleibenlassen«, unterbrach sie der Vogel. Er wetzte zweimal seinen Schnabel am Granit des Höhleneingangs. »Schließlich war es doch nur ein Traum.«

»Es war wirklich so«, fing Kai-lid wieder an. »Ich habe die beiden Söldner gesehen, dazu den Halbelfen und den Jungen. Sie jagen etwas.«

»Wo?«

Kai-lid zuckte mit den Schultern. »Bei Haven, würde ich sagen. Aber ob Norden oder Süden? Ich muß sie beobachten, bis ich Anhaltspunkte erkenne.« Stirnrunzelnd schwieg sie eine Weile. Dann sagte sie zögernd: »Glaubst du, ich kann die vier… überzeugen, diese Aufgabe zu übernehmen?«

Die Eule legte den Kopf schief. »Es sind schließlich Söldner. Du hast kein Geld. Was hast du zu bieten?«

»Ich weiß es nicht… noch nicht.« Kai-lid lehnte im Eingang und sah sich auf der Lichtung um – ihrer Lichtung. Für wenige kurze Monate hatte sie hier eine Sicherheit gefunden, die sie vorher nicht gekannt hatte. Jetzt mußte sie von hier fortgehen.

»Vielleicht erkennen sie mich«, überlegte sie.

»Als Dreena? Du bist doch verkleidet.«

»Nein, nicht als Dreena. Als mir klar wurde, was Lida getan hatte, habe ich weitgehend ihr Aussehen angenommen, um… um ihr Andenken zu ehren und Dreena für immer hinter mir zu lassen. Vielleicht erkennen sie Lida.«

Die Eule stupste sie sanft mit dem Schnabel an die Schulter, und Kai-lid grub die Finger einer Hand in die weichen Federn der cremefarbenen Brust. Xanthars Stimme drang in sie ein. Du kannst doch einfach eine neue Gestalt annehmen.

Als sie sich wieder trennten, schüttelte die Zauberin den Kopf. »Nein. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn sie Lida erkennen. Ich werde darüber nachdenken. Als erstes muß ich herausfinden, wo sie sind und wohin sie wollen.« Sie drehte sich wieder zur Höhle um, doch die Bewegung der Eule hielt sie zurück.

»Das Suchen ermüdet dich. Vielleicht kann ich sie finden«, sagte Xanthar laut, jetzt wieder in Menschensprache. Die Eule schlug mit den Flügeln. Kai-lid kniff wegen des Staubs, der plötzlich aufgewirbelt wurde, die Augen zusammen. Dann hockte sich die Eule wieder hin. »Spring auf«, lud Xanthar sie ein, während er eine der Riesenschwingen weit ausbreitete.

»Ich hole meine Sachen«, sagte sie.

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