12 Angriffe

Das Gesicht des Mädchens und das ihres älteren Bruders waren von dem rußigen Walroßfett dreckig, mit dem die Mutter sie morgens eingerieben hatte, um den beißend kalten Wind abzuhalten, der über das Eisreich peitschte.

»Haudo«, flüsterte sie ihrem Bruder zu. Ihre schwarzen Augen glänzten vor Entzücken über ihren Einfall. »Ich bin ein Eisbär.« Sie streckte ihre Hände mit den Pelzhandschuhen hoch über den Kopf, auf dem eine warme Robbenfellmütze saß, die mit Federn von Seevögeln besetzt war. Sie ahmte das Brüllen eines Eisbären nach. Dann kicherte sie.

Aber Haudo runzelte die Stirn. »Wir dürfen den Eisbären niemals nachmachen, Terve«, erinnerte er sie mit dem schulmeisterlichen Ton, den ältere Brüder so an sich haben. »Er ist der Urahn des Landes, und wir müssen ihn ehren.«

Terve schmollte. »Du bist ein Spielverderber, Haudo. Ich wünschte, ich wäre zu Hause geblieben.«

Haudo seufzte. »Du hast mir so lange in den Ohren gelegen, daß du mitwillst, bis Vater es so entschieden hat. Ich habe ihm gesagt, du wärst zu klein. Ich habe Vater gesagt, du würdest müde werden und wärst überhaupt keine Hilfe. Aber sie wollten dich aus dem Weg haben, damit sie einmal in Ruhe Seile aus Seehundshaut flechten können, darum habe ich – «

»Das stimmt gar nicht! Ich kann auch mithelfen, Eis für den Frostsplitterer zu finden.«

»Dann mach das«, knurrte Haudo. »Und, kleine Schwester, sei einmal in deinen acht Wintern still, wenn du etwas tust.«

»Du bist nur vier Winter älter als ich, Bruder«, beklagte sich Terve, doch dann hielt sie für kurze Zeit den Mund. Der Junge und das Mädchen stocherten ein wenig in dem Geröll um den Splittererfels herum, einem Vorsprung aus fest gefrorenem Eis, der mit dem Eisboot von ihrem Lager aus eine Stunde entfernt lag. Ihr Boot lag ein Stückchen weiter auf der Seite, das große Segel flach auf dem Eis. Die langen Holzkufen glänzten. Das Packeis des Eisreichs war hier glatt genug, um mit dem traditionellen Fortbewegungsmittel des Eisvolks vorwärtszukommen, obwohl Senken in Schnee und Eis und gelegentliche Gletscherspalten, die von Flugschnee zugeweht waren, den Weg gefährlich machten. Von hier aus gesehen, schien sich das Eisreich in sanften Hügeln zu wellen. Haudo konnte kaum mehr den Rauch von den Torffeuern seines Heimatdorfs erkennen.

Der Eisvolkjunge stocherte am Rand des gewaltigen Vorsprungs herum, denn er suchte nach Splittern vom Frostsplittereis, die durch Eisbewegungen abgespalten worden waren. Das stahlharte Material konnte zu Schabern, kleinen Messern und sogar Näh- und Stricknadeln verarbeitet werden, doch nur der Verehrte Kleriker konnte den Gewinn der großen Stücke überwachen, die für die traditionelle Waffe Des Volks geeignet waren: die Streitaxt, die man Frostsplitterer nannte. Terve wickelte selbst die kleinsten Stückchen in gegerbte Seevogelhaut und legte sie ehrfürchtig in den Korb, den sie aus Walroßdarm geflochten hatte.

Irgendwann meldete sich Terve natürlich doch wieder. »Warum heißt es beim Volk Splittererfels, Haudo? Wer war Splitterer? Außerdem ist es Eis, kein Fels.«

Haudo grinste angesichts der Kürze von Terves selbstauferlegtem Schweigen, doch er antwortete freundlich. Haudo stammte aus dem Clan der Erzähler, so daß es seine Aufgabe war, die vielen tausend Geschichten auswendig zu lernen, aus denen die mündlich überlieferte Geschichte des Eisvolks bestand. Wenn er jetzt die Geschichte von Splitterer erzählte, war das eine gute Gelegenheit zu üben, auch wenn die kleine Terve sie bestimmt schon unzählige Male gehört hatte. Und eine Geschichte war auch ein guter Zeitvertreib.

Er blähte die Brust, holte die Luft, imitierte die Erzählerpose seines Vaters und begann mit dem Ritual seines Clans: »Die Alten sagen, von der Spitze des Splittererfelsens könne Das Volk bis zum Rande der Welt sehen. Und alles, was wir sehen, gehört uns und wird nur mit dem Eisbären geteilt. So war es immer, und so wird es immer sein. Das sagen die Alten.«

»Also, dann los, Haudo!« quietschte Terve. »Klettern wir auf die Spitze!«

Haudo sah sie wütend an. »Es gehört sich nicht, zu unterbrechen, wenn eine Geschichte vom Ursprung erzählt wird«, erinnerte er sie hochmütig. Terve wurde still. »Außerdem«, fügte er schlechtgelaunt hinzu, »ist noch nie jemand auf der Spitze des Splittererfelses gewesen. Er ist zu rutschig.«

Terve wollte etwas sagen, machte aber nach einem bösen Blick von ihrem Bruder den Mund wieder zu. Scheinbar gleichmütig holte sie ein Stück frischen, rohen Fisch aus einem Päckchen und aß es. Haudo nahm den Faden wieder auf.

»Vor vielen, vielen Wintern hat der große Eisbär, der das Land Des Volks geschaffen hat, hier, an dieser Stelle ein heiliges Geschenk hingesetzt, einen fruchtbaren Ort.« Diese letzten Worte wiederholte Haudo. Sie klangen so erwachsen. »Ein heiliges Geschenk, einen fruchtbaren Ort. Einen Ort, der das Geschenk des Eisbären, das Splitterereis, enthalten würde, das feste Eis, aus dem Die Menschen unter vielen Gebeten und Gesang den Frostsplitterer herstellen würden. Der Frostsplitterer, der von den Feinden Des Volks gefürchtet wird, ist das Geschenk des Eisbären.«

»Das sagst du, Haudo.« Terve runzelte die fettbeschmierte Stirn.

Haudo schloß die Augen und holte langsam Luft. Als er wieder ausgeatmet hatte, war er äußerlich gelassen. »Jahrhundertelang ist Das Volk zu geheimen Orten am Gletscher von Eismauer gezogen, um dort das Eis zu holen, um ihren Stämmen das Material zu bringen, aus dem nur die Verehrten Kleriker der Stämme Frostsplitterer machen konnten. Das ist so schwierig, daß die Herstellung einer einzigen solchen Waffe einen ganzen Monat beansprucht.«

»Das weiß ich, Bruder«, murmelte Terve.

»Der Frostsplitterer ist das Geschenk des Eisbären«, wiederholte er noch einmal, nur um sie zu ärgern. »Der Frostsplitterer ist die einzige Waffe, die die Stiermenschen und die Thanoi, die Feinde Der Menschen, vertreibt.«

Terve sah sich um und erschauerte. Die Erwähnung der Walroßmenschen und der Minotauren, die gelegentlich in das Eisreich einfielen, um Sklaven und Robbenfelle zu erbeuten, ließ sie etwas näher an ihren großen Bruder heranrücken. Haudo tat so, als ob er es nicht bemerkte. Er erzählte weiter vom Eisbären, den Splitterern und der Schuld des Eisvolks gegenüber dem Eisbären. Niemand aus dem Eisvolk würde einen Eisbären töten; wer das tat – selbst wenn es ohne Absicht geschah –, schuldete dem Geist des Bären sieben Tage des Fastens und des Gebets und viele Geschenke.

»Haudo.« Diesmal meldete Terve sich leise. »Terve«, klagte er, »ich versuche – «

»Haudo, Das Volk braucht doch kein großes Feuer, um Seile zu machen, oder?«

»Was?« Ohne sich zu bewegen, registrierte Haudo die wachsende Furcht in den Augen seiner Schwester. Dann wandte er sein Gesicht in den Wind. Dort hinten im Süden waren noch vor kurzem nur dünne Rauchsäulen von den Feuern seines Volks aufgestiegen.

Jetzt war die Luft schwarz vor Rauch. Noch auf diese Entfernung konnte Haudo brennende Pelze und Häute riechen. Er hätte sogar schwören können, daß er Schreie hörte, aber das war unmöglich.

»Haudo?« Terve stand plötzlich dicht neben ihm. Er legte seiner kleinen Schwester den Arm um die Schultern. Sie ist zu jung, um ihre Mutter zu verlieren, dachte er. »Wir müssen zum Eisboot, Terve.«

»Was ist denn passiert?« Terve war den Tränen nahe, doch ein Kind Des Volks weinte nicht so leicht. Immer noch umklammerte sie den Korb mit den Splittererscherben.

»Wir werden sehen, Kleine Schwester.« Er stellte das Boot auf, half Terve hinein und setzte das Segel. Bald rannte er nebenher, um es auf den festen Schnee zu lenken und dann hineinzuspringen, als der Wind das Segel blähte. Schweigend sausten sie auf das rauchende Dorf zu.

Dann bremste Haudo das Eisboot und versteckte es hinter einem Hügel aus aufgetürmtem Schnee. Das Dorf war nicht mehr weit entfernt. »Bleib hier«, befahl er Terve.

Der Zwölfjährige schlich hinter dem Schneeberg entlang, wobei er sich alles ins Gedächtnis rief, was sein Vater ihm je über die Pirsch gesagt hatte: Vertraue deiner Nase und benutze deine Ohren. Sie werden dir genausoviel verraten wie deine Augen. Noch bevor er den Kopf über den Schneeberg erhob, roch er den stechenden Geruch der Minotauren. Er nahm auch den tranigen Fischgestank der Thanoi wahr, der Walroßmenschen, die entgegen jahrtausendealter Legenden behaupteten, das Eisreich würde ihnen gehören, nicht Dem Volk. Und Haudo roch noch etwas anderes – einen unangenehmen Geruch von Abfall und faulem Fleisch. Da warf er einen Blick auf sein Dorf, obwohl er in dem dichten Rauch fast gehustet hätte. Ihm stockte der Atem. »Zweiköpfige Untiere!« flüsterte er.

Er wollte zurückspringen, um den Anblick nicht sehen zu müssen, der sich ihm für immer ins Gedächtnis einprägen würde. Seine Verwandten, seine Freunde lagen verrenkt und tot im blutgetränkten Schnee. Minotauren, Walroßmänner und die zweiköpfigen Monster schleppten einen Körper nach dem anderen aus den Eisblockhütten und den Zelten aus Häuten. Einige Körper zuckten noch. Ein alter Mann stöhnte, doch gleich eilte eines der zweiköpfigen Ungetüme herbei und schlug ihm mit einer Dornenkeule den Kopf ein.

Angeführt wurde der Überfall von einem Mann in einer Robe, dessen Silhouette am Südhimmel zu sehen war.

Leiser, als er je eine Robbe oder ein Walroß gejagt hatte, eilte Haudo durch den Schatten hinter dem Schneeberg zu Terve und dem Eisboot. Das kleine Mädchen hatte dieses eine Mal gehorcht. Es kauerte im Boot. Haudo sagte nur: »Wir müssen fort, Kleine Schwester.« Sie nickte stumm.

Bald jagte das Eisboot über den Schnee zum Dorf ihrer Verwandten, das mehrere Tagesreisen nordwestlich lag.


Kai-lid schreckte aus dem Schlaf hoch. Der Halbelf, der Wache hatte, sah zu ihr hin, sagte jedoch nichts. Caven, Kitiara und Wod lagen in Decken gewickelt ums Feuer. Xanthar hockte wachsam über ihnen. Die Augen der Untoten beobachteten sie immer noch aus der Finsternis.

Die Zauberin sandte ihre Gedanken aus. Xanthar?

Ich habe es auch gesehen, Kai-lid. Die Verwüstung des Eisvolkdorfes.

Es war also kein Traum?

Genausowenig wie die andere Botschaft. Die Armeen deines Vaters haben das Dorf überrannt. Der Valdan erprobt seine Macht, Kai-lid.

Xanthar, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen die vier zum Sla-Mori bringen und ins Eisreich schaffen.

Ich habe eine Idee. Unter Kai-lids Augen erhob sich die Eule vom Baum und schwang über den Düsterwald davon. Gleich darauf war sie nicht mehr zu sehen.

»Worüber habt ihr gesprochen?« fragte Tanis leise von seinem Posten aus. »Kitiara hat mir von eurer Telepathie erzählt.«

Kai-lid antwortete langsam. »Ich glaube, Xanthar will nach dem Ettin Ausschau halten.«

Tanis nickte, obwohl sein Blick Zweifel verriet. »Du glaubst also, wir sollten weiter versuchen, ihn zu fangen? Auch wenn er wahrscheinlich von diesem bösen Zauberer, diesem Janusz, geschickt ist?«

Sie zögerte. Dieser Halbelf schien ein anständiger Mann zu sein. Vielleicht konnte sie ihm gegenüber ehrlicher sein. Vielleicht würde Tanis freiwillig den vielen tausend Menschen zu Hilfe kommen, die ganz sicher durch die Hand ihres Vaters sterben würden, wenn man den Valdan nicht besiegte. Kai-lid machte langsam den Mund auf.

Aber Caven Mackid mischte sich ein. »Wir sollten den verdammten Ettin fangen, sofort nach Haven zurückkehren und unsere Belohnung abholen, Tanis. Laß die Frau ihren Kampf allein ausfechten.« Er deutete mit dem Kopf auf Kai-lid. »Ich verstehe sowieso nicht, warum Dreenas Magd in diese Sache mit dem Ettin verwickelt ist.« Er hatte eindeutig nicht geschlafen. Seine Stimme war gereizt, und seine Augen waren von Ringen umgeben.

»Ich bin auch Cavens Meinung«, sagte Kitiara, um die Debatte neu zu entfachen. »Bringen wir den Ettin um. Dazu sind wir schließlich losgezogen.«

»Und dann?« fragte Kai-lid.

»Dann?« wiederholte Kitiara.

»Dann kannst du mit deinen fünfzehn Stahlmünzen sicher nach Hause gehen, während der Valdan auf seinem Weg zur Macht alles zerstört«, sagte Kai-lid bitter.

»Das behauptest du, Zauberin. Ich bin da nicht so überzeugt.« Die Kriegerin streckte sich genüßlich. »Jedenfalls ist es nicht mein Problem. Ich arbeite nicht mehr für den Valdan.«

Caven nickte. »Das sind zwei Stimmen für fünfzehn Stahlmünzen«, betonte er.

Kitiara nickte, doch Tanis schien wenig überzeugt. Er starrte Kai-lid an. »Ich glaube, du verheimlichst uns etwas, Zauberin«, sagte er leise. »Ich wünschte nur, ich wüßte, was es ist. Warum sollten wir dir vertrauen, Lida Tenaka?«

Kai-lid setzte zu einer Antwort an, drehte sich dann aber um.»Großes Huhn!« rief Res. Er fuhr zuerst auf, wodurch er Lacuas Seite mit hochriß. »Essen! Essen!«

Der linke Ettinkopf protestierte. »Kein Huhn, Dummkopf. Zu groß. Vielleicht Gans.«

»Aber Abendbrot?«

»Ja.«

Xanthar seufzte auf seinem Ast hoch über dem Ettin. »Ich bin eine Rieseneule, ihr hohlköpfigen Einfaltspinsel.«

Die zwei Köpfe sahen einander an. »Huhn redet?« Argwöhnisch schauten sie zu Xanthar hoch. »Hohl… Was sagen?«

»Das war ein großes Kompliment«, sagte Xanthar trocken. »Vertraut mir.«

»Ah«, nickte Lacua. »Ein Kompliment.«

»Abendbrot weiß große Worte«, stellte Res fest.

»Ich habe eine Mitteilung für euch«, sagte Xanthar.

»Mit-tei…«, Lacua blieb an dem Wort hängen.

Xanthar ergänzte seine Worte. »Ich habe etwas Wichtiges für euch.«

»Ah!«

»Über Kitiara Uth Matar.«

»Wer?« stammelte Res.

Lacua piekte ihn. »Frau Soldat, Dummkopf«, sagte der linke Kopf. Dann, zu Xanthar: »Sag jetzt.«

»Sie will den Düsterwald verlassen.«

Res protestierte. »Geht nicht. Muß Res-Lacua zum Fieberberg folgen. Meister sagt – «

»Still!« Lacua zog Res mit der Keule eins über. Res rieb sich schmollend den Schädel.

»Sie werden dir nicht weiter folgen, Ettin«, sagte Xanthar schnell, während er den Kopf drehte, um hingebungsvoll eine Schwungfeder mit dem Schnabel glattzustreichen. »Sie wollen fort.« Er wandte sich wieder dem sorgenvoll dreinschauenden Monster zu.

»Gut. Res geht auch heim«, beschloß der rechte Kopf.

»Nein!« unterbrach Lacua. »Muß Frau Soldat kriegen.«

»Ihr könntet sie jetzt gleich entführen«, schlug die Eule vor.

Der Ettin sah wieder hoch. »Entführen?«

»Fangen.«

»Fangen! Res weiß fangen!« Der rechte Kopf grinste. Lacua sah nachdenklich aus. Dann wiederholte er: »Gleich fangen.«

»Ich habe euch etwas Wichtiges gesagt«, meinte Xanthar. »Findet ihr nicht, ich habe zur Belohnung einen Gefallen verdient?«

Der Ettin nahm eine doppelt mißtrauische Haltung ein. »Gefallen? Wie Gefallen?«

»Ihr dürft niemanden verletzen. Nehmt Kitiara, die Frau Soldat, die zwei Männer und den Jungen, wenn ihr wollt.« Xanthar starrte den Ettin an, bis Res-Lacua unruhig mit den Füßen scharrte. »Aber nicht die andere Frau.«

Ein listiges Lächeln legte sich über Lacuas Gesicht. »Und wenn Res-Lacua dem Riesenhuhn nicht Gefallen tut?«

Xanthars Augen wurden zu Schlitzen. »Dann nehme ich das Wichtige zurück.«

»Warte! Nein! Brauchen Wichtiges!«

»Nun, dann…«

»Keinen nicht verletzen. Nein, nein, nein. Frau Soldat fangen, Männer, Jungen. Ja, ja. Jetzt Wichtiges behalten?« Lacua hielt inne, um tief Luft zu holen.

»Ja«, gab Xanthar zurück. »Wichtiges behalten.«

Die Rieseneule flog davon.

Sobald Xanthar außer Sichtweite war, schrie Lacua auf und schlug sich mit der Hand an die Brust. Er zog den Redestein heraus. »Meister redet?«

Die Stimme kam aus dem kleinen, flachen Stein, doch sie erfüllte den Wald rings um den Ettin. Die Augen der Untoten, die sich ebenso um das Monster scharten wie um die anderen, wichen zurück, als die Blätter der verrenkten Bäume von den Schwingungen zitterten. Die Stimme klang müde. »Tu, was die Eule sagt. Greif Kitiara und die anderen an.«

»Ja«, flüsterten die zwei Köpfe.

»So schnell wie möglich.«

»Ja.«

»Bring sie zum Fieberberg.«

Sie nickten.

Es entstand eine Pause, als ob die Stimme überlegte. »Was die andere Frau angeht…«

»Meister?«

»Fang sie auch. Ich bin neugierig auf sie.«

»Was ist mit nettem Gefallen?«

»Vergiß den Gefallen. Wir haben das Wichtige.«

»Ah. Fangen.«

Janusz ließ den Ettin die Anweisung noch dreimal wiederholen. »Noch Fragen?« fragte er schließlich.

»Kein Abendbrot hier. Blöder Wald leer. Res-Lacua mag kein totes Essen. Hungrig.«

Janusz beschloß, dem Ettin gegenüber großzügig zu sein. »Töte einen von den anderen, wenn du willst. Aber verletze die beiden Frauen nicht. Bring sie zu mir.«

»Essen?«

» Einverstanden.«Kai-lid, ich habe dem Ettin gesagt, wo wir sind. Der Ettin wird sie entführen.

Xanthar! Was hast du getan?

Die vier hier werden ewig herumstreiten, während Unschuldige sterben. Ich habe die Sache nur beschleunigt. Keine Sorge, du bist sicher. Das hat der Ettin versprochen. Aber ich habe wohl recht gehabt, Kai-lid. Sie werden zum Fieberberg gebracht und von da aus zum Sla-Mori, in das Tal direkt im Süden des Berges.

Und? Wenn der Ettin sie erwischt, folgen wir ihm und vergewissern uns, daß sie den Sla-Mori finden. Wenn sie erst im Eisreich sind, werden sie den Valdan bekämpfen. Sie haben ja gar keine andere Wahl. Wenn die Magie des Düsterwalds sich bewährt, werden sie bald vergessen haben, daß sie jemals hier waren. Und auf dich, meine Liebe, fällt kein Verdacht.

Kai-lid war sprachlos.

Du könntest auch danke sagen.

Doch sie sagte nichts.

Als kurz darauf der Angriff kam, fuhren Tanis und Kitiara gleichzeitig mit blitzenden Schwertern hoch, um der Gefahr zu begegnen.

Ein gewaltiges Monster, das nach ranzigem Fleisch und totem Stinktier stank, stürzte sich brüllend auf sie, während es in jeder Hand eine Keule schwang. Beim ersten Blick auf das fürchterliche Ungetüm bäumte sich Wods Stute vor Schreck auf und galoppierte in den Wald. Die zwei Keulen des Monsters ließen die stählernen Schwerter, die gegen das versteinerte Holz schlugen, wie Zwergenwaffen erscheinen. Kitiara zuckte unwillkürlich zusammen.

Die Rieseneule schoß kreischend herunter, doch die Zauberin schien nichts machen zu können. Die ganze Zeit wurden sie aus dem Wald von den Augen beobachtet.

Auf der anderen Seite der Lichtung kämpfte Caven mit Malefiz. Er wollte aufsitzen, doch das Pferd bäumte sich auf. Caven wandte sich Tanis’ Wallach zu. Paladin trug Cavens Gewicht lammfromm.

Tanis und Kitiara sprangen los, um den zweiten Angriff des Ettins abzuwehren, warfen sich jedoch genauso schnell zur Seite, als die Waffen des Ettins auf sie zusausten. Jede Keule war mit sechs jeweils handlangen Eisendornen besetzt. Die Dornen waren von jahrelangem Gebrauch zerkratzt und abgestoßen.

Tanis machte einen Scheinangriff und traf den Riesen dann mit seinem Langschwert. Kitiara folgte auf dem Fuß. Doch das Monster hatte eine so viel größere Reichweite als sie, daß Tanis und Kitiara nur kurze Ausfälle wagen konnten, um dann gleich wieder zurückzuspringen. Nur Tanis konnte in der Dunkelheit genug sehen. Kitiara mußte sich auf ihre Intuition verlassen, um zu erraten, woher der Gegner kam, denn in mehr als ein paar Fuß Entfernung war er nur noch ein Schemen in der Finsternis.

Tanis brachte taktisch geschickt einen dicken Eichenstamm zwischen sich und das Monster. Kitiara folgte ihm blinzelnd. Xanthar kreischte weiter über ihren Köpfen herum, bis Kitiara glaubte, sie müsse selbst schreien. Der Halbelf schien die Aufregung der Eule gar nicht zu registrieren.

»Du kommst nie in seine Nähe, Halbelf«, schrie Caven von Paladin, während er versuchte, das Pferd näher heranzutreiben. »Hier muß man aus dem Sattel fechten.«

»Rede nicht, sondern tu etwas, Mackid!« schrie Tanis zurück. Der Halbelf drehte sich zu Kitiara um. »Der Ettin mag ja strohdumm sein, aber, bei den Göttern, er ist unglaublich stark!« Er hielt inne. »Caven hat jedenfalls recht. Mit Schwertern haben wir keine Chance.«

Unvermittelt hob Tanis einen faustgroßen Stein auf. »Bleib hier! Gib mir Deckung!« zischte er.

»Was? Wie? Halbelf, ich kann kaum etwas sehen!« schimpfte Kitiara. Sie griff nach seinem Arm. »Was hast du -?«

Ihre Frage blieb unbeantwortet, denn der Halbelf warf den Stein auf den Ettin. Die Köpfe des Riesen fuhren zurück. In den wäßrigen Augen stand Verwirrung. Gleichzeitig spornte Caven sein Pferd an.

Tanis legte einen Pfeil auf und schoß. Er sauste auf den Ettin zu, als Caven und Paladin auf den Riesen zustürmten. Der Pfeil streifte den Ettin an der Schulter. Der linke Kopf des Riesen schwang herum, jedoch mehr aus Überraschung als vor Schmerz, da der Pfeil kaum durch die dicke Haut gedrungen war, und sein linker Arm fiel auf Paladin herab. Caven wurde vom Pferd geworfen, und plötzlich hing der Hals des Wallachs in der Faust des dreizehn Fuß großen Ungetüms. Das Pferd trat wild in die Luft. Der Ettin schüttelte es am Hals. »Essen!« krächzte der rechte Kopf. Lacua, der linke Kopf, wiederholte Res’ Feststellung, und der Ettin schmetterte das Pferd gegen einen Baum. Tanis schrie auf, als er hörte, wie dem Tier die Vorderbeine brachen. Res-Lacua ließ los, und Paladin stürzte zu Boden.

Kitiara schoß auf den Ettin zu. Die linke Hand des Monsters ließ die Keule fallen, griff zu und wehrte Kitiara ab. Dann packte der Ettin die Kriegerin und schüttelte sie heftig, bis sie ihre Waffe fallen ließ. Caven, der jetzt im Stehen sein Schwert schwang, versuchte, näher zu kommen. Tanis schloß sich ihm an. Er wagte jetzt keinen Schuß auf den Ettin, weil er befürchtete, Kitiara zu treffen. Der Ettin schüttelte sie ein letztes Mal, um sich dann ihren bewußtlosen Körper über die Schulter zu werfen.

Dann blieb Res-Lacua stehen und sah sich um. »Frau Zauberer!« brüllte er. Über die Lichtung stürmte er auf Kai-lid zu. Tanis sah, wie sie erstarrte. Verzweifelt suchten ihre Finger in den Beuteln mit Zauberzutaten an ihrem Gürtel herum. »Xanthar!« schrie sie. »Meine Magie! Ich kann nicht…« Die Rieseneule wollte auf den Ettin herabstürzen, doch Xanthars Flügelspitze blieb an einem Ast hängen. Hals über Kopf stürzte er auf die Erde.

»Xanthar!« schrie Lida wieder. Die Eule lag reglos da.

Dann stapfte der Ettin mit Kitiara über einer Schulter von der Lichtung. Lida zerrte er am Arm hinter sich her. Res-Lacua schob sich an Tanis und Caven vorbei, als ob sie nur Schilfgras wären. Gerade als der Ettin den Rand der Lichtung erreicht hatte, trat eine weitere Gestalt vor das Monster.

Ausgerechnet Wod.

In seiner Panik riß der junge Knappe Kitiaras Schwert hoch. »Halt!« schrie Wod mit zitternder, piepsiger Stimme. Tapfer richtete er die Waffe auf den Ettin.

Der Ettin wurde nur kurz langsamer. Der zweiköpfige Riese schob Kitiaras Körper zurecht, als wäre er nicht schwerer als ein Sack Zwiebeln, und legte ihn in die Lücke zwischen seinen Köpfen. Dadurch hatte er eine Hand frei – eine Hand mit einer Dornenkeule.

Wod schrie Cavens Namen. Der bärtige Mann sah sich verzweifelt um, entdeckte einen Felsbrocken und hob ihn mit schwellenden Muskeln hoch über seinen Kopf. Dicht gefolgt von Tanis stürmte er über die Lichtung.

Wod schrie noch einmal, doch dann traf ihn die Keule des Ettins. Der Junge brach zusammen. Der Riese trat über ihn hinweg und verließ die Lichtung.

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