Kwangsi

Wie sich herausstellte, hinkte Marquoz hinter der Zeit zurück. Der Rat bestand aus Politikern, gewiß, aber weder aus großen Persönlichkeiten noch aus Narren. Als die Dreel weiter vorstießen, erkannten die Ratsmitglieder die Schrift an der Wand, und ihre Beurteilungen wurden unterstützt durch ihre Computer und ihre militärischen Führer.

Der Kom-Bund würde verlieren. Schlimmer noch, bei der Beschleunigung ihres Vorstoßes würden die Dreel ein großes Reservoir an eroberten Welten aufbauen, deren Hilfsmittel sie nutzen konnten. Mit der Herrschaft über die menschlichen Bevölkerungen — selbst immunisierte — besaßen die Dreel einen gewichtigen Vorteil; sie konnten die erforderlichen Eigenschaften züchten, die die Immunisierung wertlos machten. Wenn die Dreel in diesem Tempo weitermachten und nicht innerhalb eines Jahres zum Stehen gebracht wurden, konnte man sie nicht mehr aufhalten. Sie würden zu viele sein, die Körper ihrer Feinde tragen und nicht nur die zusätzlichen Schiffe und Waffen bauen, die sie brauchten, sondern eroberte Industrien durch fortgeschrittene Dreel-Technologie verändern. Die Schiffe gegen den Kom-Bund würden ebenfalls von Menschen geflogen werden.

Der Krieg mag der wirksamste Anreiz für Neuerungen und technologischen Fortschritt sein, aber für dergleichen Dinge blieb nicht genug Zeit. Es spielte keine Rolle, ob die Superwaffe entwickelt wurde, wenn sie nicht hergestellt und eingesetzt werden konnte, bevor die Dreel gesiegt hatten. Die einzige Hoffnung lag also in früherer Forschung, verbotener Forschung: in Forschung und Information, die von früheren Generationen als zu gefährlich und für geheim erklärt worden war. Jeder wußte, daß solche Dinge irgendwo in den Archiven existierten — aber keiner wußte, was oder warum oder wie.

Auf fast einstimmigen Beschluß des Rates hin wurden die Siegel geöffnet. Eifrige Wissenschaftler studierten die Archive und entdeckten oft, daß sogar die zum Verständnis dieser verbotenen Projekte erforderlichen Werkzeuge hinter wieder anderen Siegeln verborgen waren. Vieles blieb deshalb nutzlos — und vieles andere taugte nichts, weil es für das Problem auch nicht entfernt von Belang war.

Tortoi Kai war keine Naturwissenschaftlerin, sondern Historikerin, die nach Hinweisen auf Ereignisse suchte, die aus den offenen Nachschlagewerken sorgfältig verbannt und archiviert worden waren, um vergessen zu werden. Sie stellte mit Entsetzen fest, wieviel von der Vergangenheit durch die von früheren Räten bestellten Historikerausschüsse manipuliert worden war. Je weiter man zurückging, desto schlimmer wurde es — umfassende Versuche, die Geschichte umzuschreiben —, aber während sie daran arbeitete, die Vergangenheit richtigzustellen, bemühten ganze Stäbe sich darum, die Gegenwart zu entstellen.

Kai war eine typische Historikerin; obwohl ihre Welt rings um sie zusammenbrach, verfolgte sie Nebenfäden und ließ sich von den großen und kleinen Leuten und Ereignissen in Bann ziehen, die, plötzlich offen zutage tretend, verwandelten, was sie gelernt hatte. Es begann mit einem Faden, einem Namen aus einer seit 762 Jahren toten Vergangenheit — während der Zeit der Schwamm-Händler, einer dunklen Zeit für die Weltengemeinschaft, lange vor der Entdeckung der ersten nicht-menschlichen Rasse. Je weiter sie durch das ›Fenster‹ dieser Zeit hinausblickte, desto öfter tauchte der Name auf.

Jedermann wußte, daß die Menschheit sich ursprünglich auf einer wunderschönen, blauweißen Welt namens Erde entwickelt hatte, dem dritten Planeten unter einer gelben Sonne vom Typ G. Es war eine Welt widerstreitender Ideologien, sich rasch vermehrender Bevölkerung und ebenso rasch schwindender Ressourcen, eine Welt, die beinahe im allerletzten Augenblick in den Weltraum hinausdrängte. Der uralte Einstein hatte dargelegt, daß niemand die Lichtgeschwindigkeit überschreiten könne; seine Physik galt sogar heute noch, verfeinert und bis zum Äußersten ausgearbeitet. Aber es gab Wege, Einsteins Physik zu umgehen, indem man sich aus dem vierdimensionalen Universum hinausversetzte, wo sie galten.

Die Menschenwesen verstoßen mit großer Begeisterung gegen Gesetze, selbst gegen die der Natur.

Und sie verstießen gegen Einsteins Gesetz — umgingen es zumindest —, so daß Objekte langsamer in Bewegung sein konnten als Licht und trotzdem mit mehrtausendfacher Lichtgeschwindigkeit voranzukommen vermochten. Die Ausdehnung im Weltraum ging sehr schnell vor sich. In der Nähe gab es keinerlei erdähnliche Planeten, aber innerhalb von fünf Jahren hatten Erkundungsschiffe in Richtung Galaxiskern mehrere entdeckt, die man mit Hilfe einfallsreicher Planetargestaltung bewohnbar machen konnte. Die Rohstoffe dazu kamen von Raumschutt und Asteroiden.

Die Menschen nahmen ihre Ideologien mit; Utopier und Dystopier versuchten, ihr überlegenes System auf Welten vorzuführen, wo es keinen verderblichen Wettbewerb gab. Kloning, genetische Manipulation in planetarischem Maßstab, gesellschaftliche Eingriffe noch größerer Art, all das schuf eine Reihe von Welten — bald nach Hunderten zählend —, wo die Utopier vorherrschten. Jede war überzeugt davon, das ideale System gefunden zu haben, jede entschlossen, der ganzen Rasse zur Perfektion zu verhelfen.

Die Erde konnte die Kontrolle nicht aufrechterhalten. Ausgelaugt, zum Überleben nur fähig in der Abhängigkeit von den Kolonien, behielt sie ihre Macht allein durch militärische Oberherrschaft. Die neuen Kolonien entwickelten jedoch eigene Industrien mit eigenen Rohstoffen und schufen insgeheim ihre eigenen Militärmaschinerien mit dem ausgebildeten Personal dazu. Letzten Endes war es leicht. Die meisten Kolonien begruben ihre ideologischen Streitäxte, um koloniale Freiheit zu erlangen, und taten sich zusammen, um zunächst die Streitkräfte der Erde und dann die Erde selbst anzugreifen. Das Ausmaß der Schäden — ganze Welten zerstrahlt — entsetzte sogar die härtesten Parteiführer, aber es hatte den Anschein, daß sie im Sieg dazu verurteilt waren, untereinander Krieg zu führen.

Als Fanatiker sich eben dazu anschickten, drangen jedoch klügere Köpfe durch, und der Kom-Bund — der Rat der Welt-Kommune — wurde gegründet. Die großen Waffen wurden in die Waffenkammer verbannt, der Rat allein kontrollierte und bewachte sie, und jede Technologie, die diese Kontrolle gefährden mochte, wurde von allen Patentregister-Computeranlagen automatisch an die selbsttätigen Fabriken der Waffenkammer gemeldet oder zerstört. Jeder Planet konnte sein eigenes Gesellschaftssystem errichten, da besaß der Rat keine Macht, aber kein Planet konnte sich mit Gewalt auf andere Planeten ausdehnen.

Im Verlauf der interstellaren Forschungsflüge stieß man auf einen Mikroorganismus, der mit einigen sonst harmlosen, synthetischen Nahrungsmitteln zusammenwirkte, um im Gehirn eine grauenhafte Mutation hervorzurufen; die Denkfähigkeit eines Menschen verminderte sich langsam, bis er zu einer hirnlosen Pflanze wurde, die sich nicht einmal selbst zu ernähren vermochte. Das einzige bekannte Gegenmittel war eine schwammartige Lebensform vom Heimatplaneten des Mikroorganismus. Es enthielt ein hemmendes Mittel, das die besten Computer und besten Medizinergehirne nicht hatten nachschaffen können.

Die Welt wurde natürlich gesperrt und von automatischen Posten bewacht, so daß niemand hingelangen konnte. Alle Kulturen des Mikroorganismus wurden vernichtet, und man glaubte, das Problem gelöst zu haben. Vom Organismus und dem Schwamm aus der Zeit der frühen Forschungen fiel jedoch etwas in die Hände der Unterwelt-Elite auf einer Reihe von Kom-Welten, und diese benützten das Material sofort dazu, um die Ziele ihrer interplanetarischen Organisation zu fördern. Das Syndikat machte führende Persönlichkeiten süchtig und besaß allein das Mittel zur Verzögerung des Verfalls, so daß es immer mehr Kom-Welten beherrschte.

Auf der von genetischer Manipulation beherrschten Kommunalwelt New Harmony hatte der Führer des Syndikats gelebt, ein Mann namens Antor Trelig — der perfekte Eroberer, ein Mann mit hohem Intellekt und körperlich in idealer Verfassung, aber völlig ohne Moral, Skrupel oder andere ungünstige Hemmnisse. Mit der Zeit hatten er und sein Verbrechersyndikat eine Welt nach der anderen unter ihre Kontrolle gebracht, mit dem Ziel, zuletzt eine Mehrheit des Rates zu beherrschen. Von seinem luxuriösen und wohlbewachten Planetoiden Neu Pompeii aus war der selbsternannte Kaiser eines neuen Römischen Reiches bestrebt gewesen, buchstäblich alles unter seine Kontrolle zu bringen.

Davon war, wie Tortoi Kai feststellte, in den Geschichtsbüchern nichts zu finden. Die Kriege, die Waffenkammer, ja — aber der Schwamm wurde nur als fremde Amok-Seuche erwähnt, deren Heilung vor ungefähr siebenhundertfünfzig Jahren ermöglicht worden war; ein billiges und leicht zu verteilendes Heilmittel hatte dem Schwamm den Weg von Pocken, Kinderlähmung, Krebs und anderen damaligen Krankheiten gewiesen.

Kai vertiefte sich immer mehr in die Unterlagen. Trelig hatte, wie sie entdeckte, die Forschungsarbeit eines unbekannten Wissenschaftlers namens Gilgram Zinder bemerkt. Dieser Dr. Zinder hatte auf irgendeine Weise eine ungeheure Entdeckung gemacht, eine von solcher Macht, daß Trelig glaubte, damit binnen Monaten die absolute Herrschaft über den Rat erringen zu können. Er entführte Zinders junge Tochter Nikki und erpreßte Zinder, seine Arbeit bei einem Institut aufzugeben und nach Neu Pompeii zu gehen, um dort seine Forschungen fortzusetzen. Einige widerspenstige Ratsmitglieder waren zu einer Vorführung eingeladen worden; ganz wenige waren selbst gekommen, andere hatten Vertreter oder Beobachter geschickt. Drei Tage danach waren nicht nur sie, sondern auch Trelig mitsamt dem ganzen Planetoiden verschwunden. Niemand kehrte je wieder zurück.

Tortoi Kai setzte das aus Tausenden von Einzelheiten zusammen. Das Experiment, die große Vorführung, war also auf irgendeine Weise mißglückt — aber wie? Und warum? Und was hatte die Vorführung zeigen sollen?

Sie verlangte vom Computer eine laienhafte Darstellung der Theorien Dr. Zinders.

Zinder hätte, so teilte der Computer mit, bei keinem der naturwissenschaftlichen Gesetze an das Absolute geglaubt. Alle Materie, alle Energie sei nach seiner Ansicht ein unnatürlicher Zustand, durch eine Reihe mathematischer Gleichungen am Dasein erhalten. Der Naturzustand des Universums sei etwas Ruhendes, ein konstanter und gleichmäßig verteilter ›Äther‹ oder einzelner Typ von Energie. Die Materie und Energie, die wir kennen, wären hervorgerufen von der Verwandlung dieser einen Urenergie in die Formen, die den uns bekannten Gesetzen gehorchen.

Daß das Universum Grenzen besitze, galt in der Physik als anerkannt; es sei aus der ungeheuren Explosion eines ›weißen Lochs‹ entstanden, das sich aus keinem bekannten Grund von einem Alternativ-Universum in das unsere geöffnet hätte. Zinder glaubte, daß die durch dieses weiße Loch sprühende Materie und Energie auf irgendeine Weise die Urenergie des Ruhezustands, den Äther unseres eigenen Universums, verwandelt und den Keim für das All, wie wir es kennen, geschaffen hätte. Im allgemeinen stimmte Zinders Theorie mit denen seiner meisten Kollegen überein, abgesehen von der Natur des Äthers, der Urenergie, für die es keinen Nachweis gab. Starke Teleskope, die über den Rand des Universums hinausblicken konnten, hatten buchstäblich nichts registriert. Außerdem, so argumentierten die Wissenschaftler, müßten wir, wenn dieses Universum von Natur her im Ruhezustand sei, wie Zinder behauptete, jetzt, fast fünfzehn Milliarden Jahre danach, Anzeichen für die Rückkehr zum Ruhezustand wahrnehmen. Unser Universum sei nichts gewesen, eine Leere, bis sich das weiße Loch geöffnet habe.

Seltsamerweise gab Zinder zu, daß es Anzeichen für eine Rückkehr zum Ruhezustand geben müßte; die Tatsache, daß man keine feststellen konnte, überzeugte ihn nicht davon, im Irrtum zu sein. Materie und Energie, einmal erschaffen, seien laut Zinder durch die Auferlegung von Naturgesetzen von außerhalb auf irgendeine Weise eingefroren worden. Diese Gesetze seien auferlegt und durchgesetzt worden und hätten unser Universum daran gehindert, das Eindringen des weißen Lochs, wie es sonst möglich gewesen wäre, ›wegzudrängen‹. Welche Kraft könne die unterstellten Gesetze auferlegen und erzwingen? hatten seine Kritiker spöttisch gefragt. Ob er meine, daß es einen allmächtigen Gott gäbe, der den Durchbruch hervorgerufen und solche Gesetze aufgestellt hätte? Metaphysik! höhnten sie.

In der Tat glaubte Zinder an einen solchen Gott und hielt sich für fähig, derjenige zu werden, der die Existenz eines solchen Wesens wissenschaftlich beweisen mochte. Von Zeit zu Zeit mußten andere weiße Löcher durchgebrochen sein; es gab physische Beweise dafür, daß das noch der Fall war. Sie wurden zum Abklingen gebracht. Weshalb nicht der Urknall der Schöpfung?

Obschon ein hochbegabter Wissenschaftler, war Zinder auch ein praktischer Mensch. Wenn die Wissenschaft ihm das Weitermachen nicht erlauben wollte, vielleicht würde es die Metaphysik tun. Finanziert von einer religiösen Stiftung, die er persönlich widerlich fand, hatte er sein Labor auf Makiva errichtet und einen auf völlig neuen, von ihm selbst entwickelten Prinzipien beruhenden, selbsttätigen Riesencomputer gebaut, mit dem einzigen Ziel, die Urenergie ausfindig zu machen, zu entdecken, warum man sie nicht sehen oder messen konnte, und wenn möglich, hinter die aufgestellten Gleichungen für jene Dinge zu kommen, die wir als wirklich betrachten — sie zu erkennen und letztlich umzuschreiben.

Tortoi Kai brauchte keine Naturwissenschaftlerin zu sein, um die Konsequenzen zu begreifen. Angenommen, einmal nur angenommen, daß Zinder recht gehabt hatte? Wenn ein Ding bis zum nten Grad analysiert werden konnte, so daß es sich als Ganzes auf die Mathematik seines Daseins zurückführen ließ, und wenn dann genug Kraft angewendet wurde, um diese Mathematik auch nur ganz gering zu verändern…

Man wäre selbst ein Gott. Man würde nach Wunsch hervorbringen können, was und wen man brauchte. Mit der Verwandlung jeder Art von Materie und Energie in beliebig anderes konnte man alles, was man wollte, haben und brauchte es nur zu verlangen. Alles.

Kai erinnerte sich plötzlich an die Markovier. Eine über die ganze Galaxis verbreitete Rasse von Wesen, vor so langer Zeit entstanden, daß sie die erste Intelligenz gewesen sein mußten, die sich nach der Schöpfungsexplosion entwickelt hatte. Sie hatten peinvolle Formationen auf seit Milliarden Jahren toten Welten hinterlassen, dagegen keinerlei kleinere, künstlich hergestellte Gegenstände. Und unter jedem ihrer Planeten befand sich eine künstliche Schicht, bis zu zwei Kilometer dick, ein rätselhafter, quasi organischer Computer, Zweck unbekannt.

Wenn Zinder recht hatte, dann mochten die Markovier keinerlei künstlich hergestellte Gegenstände gebraucht haben — ihre Nahrung, ihre Kunst, ihre Einrichtung, alles, was sie wollten, brauchten sie sich nur zu wünschen. Vielleicht gab ihnen der Computer alles, was sie begehrten.

Die Unterlagen deuteten an, daß Zinder das für die Lösung des markovischen Rätsels hielt. Er hatte sogar behauptet, unsere eigenen Welten wären von einer den Markoviern zuzuschreibenden Singularität erzeugt worden, einer Singularität von völlig anderer Form als jener im Inneren schwarzer und weißer Löcher. Der Ort, wo die Regeln aufgestellt — und durchgesetzt wurden. Eine sekundäre Singularität als Nachahmung der größeren, welche die Markovier am Dasein erhielt.

Aber die Markovier waren längst tot. Zinder glaubte, sie wären so weit gelangt, daß sie in dem Gott aufgingen, der ihr eigenes Universum geschaffen habe. Sie wären selbst Götter geworden und seien aufgefahren, um sich ihrem Vater zuzugesellen.

Richtig oder nicht, Zinders Theorien erklärten vieles. Auf jeden Fall hatte Antor Trelig, der Möchtegern-Herrscher über die Galaxis, Zinder geglaubt.

Aber irgend etwas war danebengegangen.

Binnen Stunden nach Tortoi Kais Entdeckungen befaßten sich die Wissenschaftlerteams mit dem Problem. Obwohl sie Zinders metaphysischen Theorien außerordentlich skeptisch gegenüberstanden, bewunderten sie doch seine Beherrschung exotischer, esoterischer Wissenschaften, sein offenkundiges Genie, und sie erkannten wie Kai, daß Trelig geglaubt hatte, es werde funktionieren. Jemand hoch oben war demnach überzeugt gewesen, daß es funktioniert hatte, weshalb Zinders leider unvollständige Aufzeichnungen — ja, sogar die Tatsache, daß es ihn gegeben hatte — im Geheimbereich hatten verschwinden müssen.

Die von Tortoi Kai aufmerksam gemachten Wissenschaftler besaßen Zinders Theorien und seine Mathematik, aber nicht seinen Computer — dessen Grundlagen er auf irgendeine Weise vor allen hatte geheimhalten können — und nicht die Ergebnisse irgendeines seiner Experimente.

Tortoi Kai gab sich nicht zufrieden. Trotz der Lobessprüche, mit denen man sie überhäufte, ging sie mit ihren Sorgen zu ihrem Vorgesetzten Warn Billie, einem freundlichen, erkahlenden, alten Herrn, der aufmerksam zuhörte.

»Mir gefällt das Ausmaß nicht, in dem diese Informationen begraben waren, Billie. Das ist viel zu überlegt geschehen, von jemand, der genau wußte, wie man selbst Ermittler mit guten Computern täuscht.«

»Aber ein Mann wie Trelig hätte sich diese Mühe doch ganz natürlicherweise gemacht«, wandte Billie ein.

»Nein, nicht Trelig«, erwiderte sie. »Nach allem, was ich erkennen kann, war er so fanatisch, daß es, hätte er die Hand im Spiel, keine einzige Informationsspur in den Archiven gäbe. Nein, jemand anderer, jemand von hohem Einfluß, wollte, daß die Aufzeichnungen aufbewahrt werden. Sie erschienen ihm wichtig genug, aber auch so gefährlich, daß er die Information derart tief vergrub, daß die meisten Leute niemals darauf gestoßen wären. Der Computer weigert sich, es mit dem übrigen in Verbindung zu bringen. Um auf die Informationen zu kommen, muß man genau die richtigen Fragen stellen. Ich habe an eine Kom-Polizei-Verbindung gedacht und die Archive für zehn Jahre danach mit allen vorhandenen Namen durchsucht, aber nichts gefunden.«

»Und mehr als zehn Jahre?«meinte Billie zögernd.

»Was für einen Zweck sollte das haben?«

»Versuchen wir es doch«, schlug ihr Vorgesetzter vor. »Nach Ihren Ergebnissen ist deutlich erkennbar, daß man unklaren Dingen nachspüren muß. Aber wie kann es die geben? Wir haben alles, was eingetragen wurde — aber nur bis hin zum Experiment! Also muß danach etwas geschehen sein. Warum eine öffentlich bekannte Theorie und ein nachweisbar tödliches Scheitern überhaupt vertuschen? Warum, außer das Experiment ist eben nicht gescheitert!«

»Aber… das ist unmöglich!«stieß Kai hervor. »Wir wissen —«

»Nur die Hälfte«, ergänzte er. »Also, gehen wir an die Konsole und stellen wir fest, welche Faktoren wir für die Datenkorrelation verwenden könnten.«Billie ging in sein Büro und setzte sich vor den Konsolen-Bildschirm. Kai blieb neben ihm stehen.

»Also«, sagte er. »Freie Assoziation.«

»Antor Trelig… Schwamm… New Prompeii… New Harmony… Gil Zinder… Nikki Zinder…«Sie ratterten eines der Schlüsselworte nach dem anderen herunter, und sie erschienen der Reihe nach auf dem Bildschirm. Dann nannte Billie die Namen aller Ratsmitglieder und ihrer Vertreter, die zu Treligs Vorführung eingeladen worden waren. Er bat um Korrelation mit späteren Präsidiumsposten und anderen Stellungen.

Die Korrelationen nahmen nur Sekunden in Anspruch, aber der Ausdruck lief noch nach Minuten aus der Konsole. Bis zum frühen Morgen des nächsten Tages hatten sie nach einer schlaflosen Nacht einige interessante Rätsel und ein paar neue Spuren gefunden.

»Da — dieses Ratsmitglied Alaina«, sagte er zu ihr. »Sie war, als Trelig seine Vorführung gab, Ministerin für die Kom-Polizei im Präsidium. Sie schickte nur ihre Assistentin. Ein Glück für sie — später wurde sie Ratspräsidentin! Und hier?«Sein Blick glitt über elf Meter Gedrucktes. »Da! Sie war es, die der Welt etwa dreizehn Jahre später das Heilmittel gegen den Schwamm bekanntmachte. Heilung der Schwamm-Sucht! Das Syndikat zerschlagen. Und Trelig, mit dem sie dreizehn Jahre vorher zu tun hatte, war Chef des Schwamm-Syndikats — wie sie in ihrer Stellung wissen mußte. Und welche beiden Posten wären besser dafür geeignet, etwas zu vertuschen?«

Tortoi Kai stand schon an der Konsole und ließ sich Antwort auf die Frage nach der Forschung zu der Droge ›Schwamm‹ geben.

In den dreizehn Jahren zwischen Antor Treligs Verschwinden und Präsidentin Alainas Bekanntgabe des Schwamm-Durchbruchs hatte es keinerlei Forschung auf diesem Gebiet gegeben.

»Wo ist das Heilmittel entwickelt worden?«fragte Kai den Computer.

UNBEKANNT, erwiderte die Maschine.

»Wer hat es entwickelt?«

COMPUTER.

»Wessen Computer?«

ZINDERS COMPUTER.

»In welchem Jahr?«

UNBEKANNT.

»In welchem Jahr hat der Computer es Ratsmitglied Alaina gegeben?«

1250.

Sie hörte, wie Billie hinter ihr tief einatmete. So war das also. Gil Zinders Computer hatte der mächtigen Frau das Heilmittel etwa dreizehn Jahre nach dem Datum gegeben, zu dem der Computer angeblich zerstört worden war.

»Wo befindet sich Zinders Computer heute?«fragte Kai.

ZERSTÖRT DURCH AKTION KOM-POLIZEI 1250, SIEHE KOM-POLIZEI-UNTERLAGEN FÜR 2.9.1250.

»Da haben wir’s!«schrie Billie.


* * *

Die Unterlagen waren eindeutig. Dreizehn Jahre nach dem Verschwinden tauchten Zinders Computer und der Planetoid, in den er eingebaut worden war, an ihren damaligen Koordinaten wieder auf. Die Kom-Polizei erhielt einen Hilferuf von einer Fährrakete, und alles, was man erfuhr, ging sofort über den Schreibtisch der damaligen Präsidentin Alaina. Ein Blick, und sie war sofort dorthin geeilt.

Das Schiff hatte drei fremde Wesen von unbekanntem Typ und elf unfaßbar schöne Frauen enthalten. Abgesehen von Haar- und Augenfarbe sahen alle Frauen genau gleich aus. Aber neun von ihnen besaßen große, anmutige Pferdeschweife.

»Die Olympierinnen!«rief Tortoi Kai.

Von den fremden Wesen war eines ein blauhäutiges, auf dessen menschlichem Rumpf ein gehörnter Teufelskopf saß, ersterer ruhend auf Ziegenbockbeinen; das zweite Wesen glich zwei Spiegeleiern, die umherglitten und aus den orangeroten Säcken auf dem Leib Scheinfüßchen nach Wunsch hervorbrachten. Das dritte, nur undeutlich wahrnehmbar, schien ein Energiewesen von bläßlichem Rot zu sein. Es glich einer Kutte, in der man niemanden erkennen konnte.

Und Präsidentin Alaina erhielt Antworten. Bei der Vorführung legte Zinder im letzten Augenblick Trelig herein, indem er ein nach seinen Theorien entwickeltes Feld zuschaltete, das Neu Pompeii aus der Wirklichkeit riß. Unerwartet wurde der Planetoid jedoch wie ein Magnet angezogen, um einen fremden Planeten — die Schacht-Welt — zu umrunden. Diese Welt bestand aus sechseckigen Biosphären, von denen jede ihre eigene, vorherrschende Lebensform enthielt. Der Computer dieser Welt verwandelte jeden, der auf ihre Oberfläche gelangte, in eines der vorherrschenden Wesen — wie es nach seinen Angaben dem blauen Satyr geschehen war, zusammen mit Trelig, Treligs Assistenten Ben Yulin, den Zinders (Vater und Tochter) und Mavra Tschang, die Alainas persönliche Vertreterin gewesen war. Nach Jahren, in denen sie auf der Oberfläche der Schacht-Welt festgesessen hatten, waren Tschang und der blaue Satyr Renard, Ben Yulin, Nikki Zinder und einige andere nach Neu Pompeii zurückgelangt, wo Yulin das Kommando über den Computer übernahm. Yulin formte danach die meisten Leute auf Neu Pompeii in, wie er meinte, schöne Liebessklaven um. Auf Kosten von Tschangs Leben gelang es Tschangs Gruppe, Yulin zu töten und seinen Einfluß auf die verwandelten Frauen zu brechen, um anschließend zur Weltengemeinschaft zu flüchten. Das Heilmittel gegen den Schwamm war ein letztes Vermächtnis von Zinders Computer gewesen.

»Zinder hatte also von Anfang an recht«, stieß Billie hervor. »Es gab irgendwo eine Singularität, erbaut von den Markoviern, die sich an die Regeln hielt! Die Schacht-Welt! Ein Laboratorium für die Götter!«

Tortoi Kai nickte ernsthaft.

»Er hatte völlig recht. Alles deutete darauf hin, daß die drei fremden Wesen ein Raumschiff stahlen, davonflogen und spurlos verschwanden — das Schiff wurde später geborgen. Auf irgendeine Weise waren sie auf ihre Heimatwelt zurückgekehrt. Die anderen gründeten mit Alainas Hilfe Olympus. Elf Superfrauen. Unfaßbar!«Sie überlegte. »Elf Superfrauen? Wie haben sie sich fortgepflanzt — durch Kloning?«

»Oder Yulin hat sie befruchtet, und einige brachten männliche Wesen zur Welt«, meinte Billie achselzuckend. »Kein Wunder, daß sie ihre Gründerinnen die Ersten Mütter nennen!«

»Das erklärt auch ihre sonderbare Religion, wenigstens zum Teil«, betonte Kai. »Sie haben einen Teil der Wahrheit — aber so, wie ihn Jahrhunderte der Isolierung des Erzählens und Wiedererzählens verzerren müssen. Jedenfalls alles bis auf die Sache mit Nathan Brazil, die ganz gewiß eine spätere Zutat ist.«

Der Vorgesetzte nickte.

»Ja, wenn Zinders Auffassung als richtig bewiesen wurde, und die Olympierinnen scheinen dafür lebendiger Beweis zu sein, könnte man einen Gott leicht akzeptieren — sie suchten einfach nach einem und fanden ihn. Wenn wir Nathan Brazil in die Computer eingeben, werden wir den Zusammenhang bestimmt finden.«Er verstummte plötzlich und starrte Kai an. Sie runzelte die Stirn. »Was ist? Das ist der Beweis dafür, daß Zinder recht hatte! Ich glaube, das bedeutet das Ende der Bedrohung durch die Dreel.«

Sie nickte dumpf.

»Ja, gewiß. Aber was dann. Diese Art von Macht — vor aller Augen, in den Händen des Kom-Bundes. Was entfesseln wir in uns, nachdem die Dreel besiegt sind? Denken Sie daran — die Kom-Polizei hat Neu Pompeii und seinen Computer vernichtet, und alle Unterlagen wurden sorgfältig versteckt. Damals hatte man Angst vor solcher Macht. Haben sie keine? Nach den Aufzeichnungen über Neu Pompeii konstruierte Zinder ein schüsselförmiges Gerät, um einen ganzen Planeten binnen Sekunden umzuwandeln — genau nach Wunsch! Erschreckt Sie das nicht?«

Er nickte.

»Doch, aber die Dreel auch. Nachher… nun, Sie und ich werden die Geschichte davon schreiben und beobachten, wie der nächste Akt verläuft, wie immer. Es ist zu spät, unsere Wiederentdeckung zu vergessen. Gilgrams Vermächtnis ist im Guten wie im Schlechten wieder da. Es ist real, es ist hier, und es wird nicht wieder begraben werden.«

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