»Er ist vor etwa einer Stunde weggegangen«, sagte die Stimme aus dem Funkgerät. »Tolga und Drur sind bei ihm. Mit dem Mädchen kennen wir uns aber noch nicht ganz aus.«
»Ich kann es mir denken«, sagte Mavra trocken und schaltete ab.
»Das Mädchen war also Brazil?«
Sie nickte.
»Natürlich, Marquoz. Eigentlich ganz einfach, noch dazu bei seiner Erfahrung.«
»Aber wie ist er aus dem Zimmer hinausgekommen? Man hat ihn doch beobachtet.«
»Ich habe Millionen aus stärker bewachten Gebäuden gestohlen, und es gibt unzählige Methoden«, erwiderte Mavra kopfschüttelnd. »Verdammt! Mein Gehirn ist ganz eingerostet! Ich habe mich zu sehr auf Obie verlassen! Und er hat uns auch noch eine lange Nase gedreht, indem er mit ein bißchen Bauchrednerei und einer angelehnten Tür direkt zu seinem Zimmer ging.«
»Sie wissen, was das bedeutet«, sagte Marquoz sorgenvoll.
Sie nickte.
»Ja. Er kennt sich aus mit uns.«
»Und er hat nicht angerufen, was heißt, daß er versuchen wird, das Weite zu suchen«, fügte der Chugach hinzu. »Ich glaube, wir sind in großen Schwierigkeiten, wenn wir ihn nicht sofort packen.«
Mavra überlegte fieberhaft.
»Ich weiß nicht. Es ist heller Tag, und bisher haben wir ihn nur dort gesehen, wo viele Leute sind. Er könnte bei der Polizei eine Beschwerde vorbringen und sich auf sein Schiff zurückbegleiten lassen.«
»Und was können wir tun, wenn er das wirklich macht?«fragte die Athene scharf.
»Obie rufen und das ganze, zweieinhalb Kilometer lange Ding entführen«, fauchte Mavra wütend. Sie war nicht zornig auf Brazil — diese Dinge stellten eher ihr Vertrauen in ihn und seine Legende wieder her — sondern auf sich selbst, weil sie so leichtgläubig gewesen war. Sie war einmal die größte Diebin im ganzen Kom-Gebiet gewesen, und es war ärgerlich, so hereingelegt zu werden.
Sie debattierten immer noch, als der elektronische Summer ertönte. Da sie alle durcheinanderschrien, dauerte es einen Augenblick, bis sie begriffen, dann verstummten sie schlagartig.
Das Telefon läutete.
Mavra blickte zu einem weiblichen Besatzungsmitglied in Rhone-Gestalt hinüber und nickte. Die Zentaurin ging achselzuckend zum Telefon, das am Boden lag. Wenigstens gab es auf Meouit keine Bildsprecher.
Beim fünften Summlaut nahm die Frau ab und sagte:»Reederei Durkh.«
»Tut mir leid, ich verstehe die Sprache nicht«, ertönte eine vertraute, hohe Stimme. »Sprechen Sie Standard?«
»Selbstverständlich, Sir«, sagte die Agentin im Ton einer geschulten Sekretärin. »Was können wir für Sie tun?«
»Wir können mich mit Bürgerin Tourifreet verbinden, wenn Sie so freundlich wären«, erwiderte der Anrufer. »David Korf am Apparat.«
»Ah — ach ja, Augenblick, Sir.«Die Rhone sah Mavra fragend an und drückte auf einen Knopf.
»Also?«sagte Mavra zu den anderen. »Was haltet ihr davon?«
»Ich würde sagen, seine Neugier hat ihn überwältigt«, gab Marquoz zurück. »Entweder das, oder sein nächtlicher Ausflug hatte den Zweck, ihm günstigere Chancen zu verschaffen.«
»Aber was soll ich tun — wenn man das alles berücksichtigt?«
Der Chugach zog die Schultern hoch.
»Beim ursprünglichen Plan bleiben. Schließlich wollen wir mit ihm ja nur reden.«
Sie nickte und ging zum Telefon, drückte wieder auf den Knopf und sagte freundlich:»Tourifreet.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Bürgerin«, erwiderte Korfs Stimme liebenswürdig. »Sie wollten geschäftlich mit mir sprechen?«
»Nur Tourifreet, bitte«, sagte sie beiläufig. »Wir verzichten auf Titel. Ja, hm, ich habe meinen Vater angerufen und alle Einzelheiten geklärt. Zwanzig Standard-Behälter, landwirtschaftliche Erzeugnisse.«
»Nicht gerade viel«, sagte er enttäuscht.
»Ich verstehe nichts davon, aber wir haben nichts dagegen, wenn Sie daneben noch andere Fracht übernehmen.«
»Zielhafen?«
Erstaunlich, wie er weiterspielt, dachte sie.
»Tugami — an der Grenze. Neue Route, ziemlich weit draußen, aber interessant, sagt mein Vater.«
Sie konnte im Hintergrund Stimmen hören, wie in einem vollen Büro oder auf einem Marktplatz. Dann raschelte Papier, und er sagte:»Ah ja. Sehe schon. Ich habe in meinem Navigationslog nicht alle Grenzwelten. Ja, gut. Ich glaube, ich kann kleineres Rhone-Frachtgut für die Fahrtunterbrechungen aufnehmen. Es eilt nicht?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Dann ist es gut. Einigen wir uns auf die Bedingungen und unterschreiben heute die Papiere? Ich möchte morgen um sechs abfliegen.«
Sie widerstand der Versuchung vorzuschlagen, sich zum Abendessen zu treffen. Das Rhone-Essen unterschied sich vom menschlichen beträchtlich, und außerdem würde er seine eigenen koscheren Mahlzeiten einnehmen müssen, wenn er Korf blieb.
»Warum kommen Sie hier nicht vorbei, wenn Sie frei sind? Irgendwann heute nachmittag oder am frühen Abend«, schlug sie vor. »Ich habe nicht viel anderes zu tun.«
»In Ordnung, wenn Sie mir den Weg beschreiben«, erwiderte er unbeirrt. »Sagen wir, in einer Stunde? Ich nehme an, Sie befinden sich in der Nähe der Hafenbehörde.«
»Ganz nah«, bestätigte sie und beschrieb ihm genau den Weg. Sie verabschiedeten sich mit den üblichen Floskeln, dann wandte sie sich den anderen zu. »Was haltet ihr denn davon?«fragte sie.
Marquoz lachte trocken.
»Das war sehr unterhaltsam. Man muß sich das vorstellen! Sie sind eine Schwindlerin, er ist ein Schwindler, jeder weiß es vom anderen — und trotzdem klang das Gespräch völlig überzeugend. Ich hätte Euch beinahe selbst geglaubt. Nicht zu fassen!«Er lachte in sich hinein.
»Glauben Sie, daß er kommt?«fragte die Olympierin nervös.
Marquoz nickte.
»Ganz bestimmt. Auf jeden Fall. Die Sache macht ihm auch noch Spaß, merken Sie das nicht?«Er wurde plötzlich ernst. »Aber er wird nicht blind daherkommen. Wenn er da drüben die Straße herunterkommt und über den Platz geht, können Sie sicher sein, daß er bewaffnet ist und ausgerüstet mit einem Sack voll Tricks und daß er vermutlich seine Freunde schon in Stellung gebracht hat. Das ist ein gefährlicher Mann — so tollkühn in eine Falle zu laufen, die er kennt. Wir sollten ihn nicht wieder unterschätzen.«
Sie waren sich alle einig. Mavra ging zur Tür und öffnete sie ein wenig. Es lag Schneematsch auf den Straßen und war immer noch ein wenig kalt, aber die Wolken waren aufgerissen, und die Sonne schien so hell auf den Schnee, daß die Augen schmerzten.
»Oben auf dem Dach ist Talgur mit einem Betäubungsgewehr samt Zielfernrohr«, sagte Mavra und deutete auf die einzelnen Stellen. »Da drüben ist Galgan, ebenso bewaffnet, dort auf dem Turm, oder was das sein soll, Muklo. Dazu wir hier, während Tarl und Kibbi ihn beschatten. Sollte genügen.«Sie schloß die Tür.
»Zuviel«, fauchte eine olympische Stimme hinter ihnen. Betäubungsstrahlen fauchten zuckend durch das Lagerhaus, als wohlverteilte Olympierinnen die Besatzungsmitglieder Mavra und Marquoz mühelos niederschossen. Die Athene schaute sich befriedigt um, dann wandte sie sich den anderen zu. »Die drei auf dem Dach. Ihr wißt, was ihr zu tun habt.«
Sie nickten und hasteten zu den Ausgängen im ersten Stock hinaus, mit denen sie sich vertraut gemacht hatten. Nach weniger als zehn Minuten waren alle wieder da.
»Sie schlafen, bis es dunkel wird«, versicherte eine der Aphrodites.
»Die Punkte waren gut ausgewählt«, stellte die Anführerin fest. »Geht auf das Dach und den Turm — das sind die besten Stellen, gleichgültig, welchen Weg er nimmt. Schießt die Beschatter nieder und jeden anderen, der in den Weg kommt, auch. Volle Betäubung!«
»Und wenn sie gegen Betäubung gepanzert sind?«fragte eine der Olympierinnen.
»Dann tötet sie.«
»Wo werden Sie sein?«
»Auf dem Platz draußen«, erwiderte sie. »Ich werde eine Statue werden, bis er nah genug herankommt, daß man ihn berühren kann. Dann und erst dann werde ich die Heilige Frage stellen.«Sie lächelte breit, während ihre Augen fanatisch funkelten. »Und diesmal wird die Antwort die wahre sein, Schwestern! Erlösung und Paradies warten auf uns!«
Die Anführerin blickte über den Platz. Alles war bereit, stellte sie fest; ihre Schwestern befanden sich in Stellung, und sie selbst verschmolz mit dem Schatten einer hohen Statue fast zur Unsichtbarkeit. Solange sie sich nicht bewegte, würde niemand sagen können, wo sie stand. Die Kälte störte sie nicht im geringsten; auf Olympus hätte das Schneegestöber von Meouit als Hochsommer gegolten. Der dumme, kleine Echsen-Polizist und das arrogante Weibsbild, die Brut des Bösen und seiner Helfer, waren zum Schweigen gebracht. Ihr Wort! So, als binde ein Wort, das man dem Bösen verpfändete. Die Heilige Mutter hatte recht gehabt. Sie hatte das alles sorgfältig geplant, und sie selbst und ihre Schwestern hatten es ausgeführt. Fehler waren keine gemacht worden. Alles war vollkommen. Tatsächlich hatte sie zwei Fehler gemacht. Einer davon war begreiflich; ihre Religion erlaubte ihr nicht den Glauben, Nathan Brazil werde andere einsetzen, um unliebsame Überraschungen zu verhindern; auf anderen Dächern saßen jetzt drei sehr grimmige Raumfahrer, mit denen er sich in der vergangenen Nacht in Verbindung gesetzt hatte, und verfolgten alles. Das scheinbare Verschwinden der Anführerin mitten auf dem Platz hatte sie überrascht, aber die anderen, die ihre Waffen nach unten richteten, waren deutlich sichtbar.
Der zweite Fehler bestand darin, vergessen zu haben, daß der Betäubungspegel auf die durchschnittliche menschliche Körpermasse eingestellt war; Rhone, was Mavra und alle ihre Besatzungsmitglieder jetzt waren, hatten viel größere Leiber und bedurften einer stärkeren Ladung. Was Menschen — und trotz seines Gewichts auch Marquoz — stundenlang niederwarf, begann bei den betäubten Rhone, Mavra eingeschlossen, im Lagerhaus nach dreißig Minuten abzuklingen. Es war etwa so, als erwache man mit einer Körperzelle nach der anderen, aber Bewußtsein, Schmerz und Bewegungsfähigkeit kehrten langsam in sie zurück.
Der Mann, der sich für David Korf ausgab, stand zwei Häuserblocks entfernt und blickte die Straße hinunter. Ich komme mir vor wie Grenzer-Rabbi, der Zwei-Colt-Weise aus dem Talmud, dachte er Absurderweise. Er hatte einen großen Teil der Polsterung entfernt und konnte ihn blitzschnell abwerfen. Die Taschen waren aufgeschnitten, so daß seine Hände darin auf zwei überaus wirksamen Kom-Maschinenpistolen ruhten, bei denen man nicht einmal mehr zu zielen brauchte. Sie waren von der Sorte, wie eigentlich nur Polizisten sie haben durften.
Er sprach in das Funkgerät in der rechten Hand.
»Wie sieht es aus, Paddy?«
»Tja, Unschuldige sind keine dabei, auch wenn’s stört«, erwiderte eine heisere Stimme. Die meisten alten Raumfahrer hatten irgendeine Macke; Paddy, dessen Steckenpferd Folksongs waren, hatte vor langer Zeit entschieden, daß er Ire sei, und verhielt sich auch so, trotz der Tatsache, daß er eine der schwärzesten Afrikanerhäute besaß, die je erblickt worden waren. »Sieht sich ganz nach ’ner Versammlung aus.«
»Und andere Schiffe sind auch nicht gelandet«, stellte Brazil fest. »Also? Sind die anderen Jungs soviel wert wie du?«
»Kannste dich drauf verlassen, Nate«, gab Paddy zurück. »Auf’m Dach sitzen sich scheint’s ’n paar von den Superweibern.«
Brazil war erstaunt.
»Olympierinnen? Hier! Verdammt! Also doch die Narrensekte!«Er war beinahe enttäuscht. Er hatte sich etwas Interessanteres erhofft. Paddys Antwort weckte seine Hoffnungen indessen wieder.
»Nein, sieht so aus, als wär’n die Puppen auf die anneren los. Überall auf’n Dächern liegen die toten oder bewußtlosen Pferdchen. Schein’ Menge Leute hinner dir her zu sein, Natty!«
Das sah schon besser aus.
»Habt ihr die Olympierinnen?«fragte er. »Wie viele?«
»Drei, die wir auf’n Dächern seh’n. ’s könn’ mehr sein, aber wenn ’se da sinn’, gehn’ se nich’ auf dich los.«
Das war zu schaffen. Alle anderen würden im Lagerhaus sein. Wenn er Glück hatte, war die Schmutzarbeit von den Olympierinnen geleistet worden, und er brauchte sich nur mit ihnen und nicht mit dem unbekannten Gegner abzugeben — falls es zwei verschiedene Gruppen waren, und danach sah es jetzt aus.
»Knallt los und betäubt sie tief, wenn ihr mich seht«, befahl er. »Sie sind nicht menschlich und vertragen viel, also her mit dem ganzen Saft.«
»Und wenn’s noch nich’ reicht?«sagte Paddy eifrig.
»Tut, was ihr tun müßt«, erwiderte Brazil. »Dann nehmt ihre Posten ein und gebt mir auf dem Platz Deckung.«
»Klar. Nur zu.«
Brazil steckte das Gerät in eine Hemdtasche und ging die Straße hinunter. Eigentlich ein schöner Tag, dachte er. Idiotisch, einen schönen Tag so zu verbringen.
Vor sich sah er den Zugang zu dem kleinen Platz, in dessen Mitte irgendein Denkmal stand — ein riesiger Rhone aus altersgrüner Bronze, der einen Wagen zog: der Gott des Handels oder dergleichen. Die Statue war das einzige Hindernis, aber sie könnte irgend jemandem Deckung bieten, dachte er.
Nein, Paddys Leute hätten jeden sehen müssen.
Oder doch nicht? Kurz vor dem Platz, von dort aus noch nicht sichtbar, blieb er stehen und starrte angestrengt die Statue an. Wie viele Olympierinnen konnten sie als einen Hintergrund benutzen, mit dem man zu verschmelzen vermochte? fragte er sich beiläufig. Er schob die Hände durch die Taschen, legte sie auf die Pistolen. Superfrauen hin, Superfrauen her, sie würden unbewaffnet sein müssen. Er schluckte mühsam, atmete tief ein und aus und trat auf den Platz hinaus.
In diesem Augenblick feuerten Paddy und seine Leute. Die Olympierinnen auf den Dächern erstarrten und kippten um. Auf dem Platz war nichts zu sehen oder zu hören, aber Brazil wußte, daß sein Hinterhalt funktioniert hatte, sonst hätte es Gebrüll und Geschrei gegeben, möglicherweise sogar Explosionen, so, wie er Paddy kannte.
Er blickte zu den Lagerhäusern hinüber, die im grellen Sonnenlicht standen, entdeckte an einem das Schild der Reederei Durkh und ging langsam darauf zu, ein Auge auf die Statue gerichtet. Im Schnee sah der grüne Zentaur aus, als litte er an weißer Räude.
Im Inneren des Lagerhauses stand Mavra als erste schwankend auf, als sie zu sich kam.
Sie waren von den Olympierinnen übertölpelt worden, soviel stand fest. Das bedeutete, daß die Frauen Brazil auf dem Platz in einen Hinterhalt locken wollten. Sie ging zur Tür, öffnete sie und sah ihn schräg auf sich zukommen. Sie griff sofort nach dem Funkgerät und schaltete auf Rundruf.
»Talgur! Galgan! Muklo! rief sie. Keine Antwort. Sie warf das Ding verärgert weg. Sie wußte, daß sie ihn warnen mußte, daß es darauf ankam, ihn von dort wegzuholen — Aber wie das machen, ohne niedergeschossen zu werden? Es war kalt, ja, aber zum Henker mit der Kälte! Sie zog die Jacke und den langen Pullover aus, bis sie nackt war. Das würde ihm beweisen, daß sie keine verborgenen Waffen trug. Ohne weiter nachzudenken, stieß sie sich mit ihren starken Pferde-Hinterbeinen ab und sprang in vollem Galopp auf den Platz hinaus, auf dem die kleine, schwarzgekleidete Gestalt lässig herankam. »Zurück!«schrie sie ihn aus vollem Lauf an. »Eine Falle!«
Er blieb wie angewurzelt stehen, völlig verblüfft.
Die olympische Führerin löste sich fluchend von ihrem Platz an der Statue und lief auf Brazil zu, während sie kreischte:»Schießt auf sie, Schwestern! Schießt!«Ihre gellende Stimme hallte von den Gebäuden in unheimlicher Weise wider.
Brazil sah auf der Linken die olympische Amazone heranstürzen, ihr entgegen kam der Geist von Wuju, und seine Entgeisterung war unüberbietbar.
»Verdammte Scheiße!«stieß er hervor.
Paddy war schneller. Als er die Olympierin von der Statue wegstürmen sah, zielte er und wollte schießen. Die Athene war vor Mavra bei Brazil und brüllte:»Herr, seid Ihr Nathan Brazil?«In diesem Augenblick drückte Paddy ab, und sie wurde zu Boden geschleudert und blieb regungslos liegen, einen verblüfften Ausdruck im Gesicht.
Mavra wurde von dem Schuß völlig überrascht, sie nahm aber an, daß wenigstens einer ihre Leute noch im Besitz seines Gewehrs war. Zwei Rhone-Besatzungsmitglieder, Brazils Beschatter, galoppierten plötzlich aus zwei verschiedenen Straßenzuführungen auf den Platz, die Pistolen gezückt. Mavra fühlte sich für kurze Zeit erleichtert. Sie versuchte anzuhalten, aber ihr Schwung trug sie an Brazil vorbei.
Von den Dächern feuerten die Puls-Gewehre und fällten die Rhone. Erneut aus der Fassung geraten, schlug Mavra einen Haken, um Brazil nicht zu rammen, aber er hatte schon seinen Mantel abgeworfen. Er trug einen Pistolengürtel mit zwei Halftern. Er versuchte nicht, ihr auszuweichen; als sie ausscherte und langsamer wurde, sprang er statt dessen auf ihren Rücken.
Sie knickte unter der Last beinahe ein, aber als sie stehenblieb und sich aufbäumte, um ihn abzuwerfen, spürte sie im Kreuz ihres humanoiden Rückens eine kalte Pistolenmündung.
»Keine Bewegung!«sagte er scharf. Sie kannte seine Stimme aus Obies Archiven gut. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Laufen Sie die Straße zum Gebäude des Hafenamts hinauf!«befahl er. Sie nahm sich zusammen und ging langsam in die angegebene Richtung, von den Ereignissen vollkommen verwirrt.
»Wer ist da oben?«stieß sie hervor und zeigte auf die Dächer.
Brazil lachte.
»Natürlich meine Leute! Sie hätten gestern nacht die Gasse hinter dem Haus und das Fenster bewachen lassen sollen!«
Sie begann zu schwitzen und spürte plötzlich die bittere Kälte. Sie fröstelte.
»Wollen Sie mir vielleicht sagen, wohin es geht? Ich erfriere hier!«
Er lachte wieder.
»Wie du mir, so ich dir. Ich wäre gestern nacht beinahe erfroren, als ich im Schneesturm die Hausmauer hinuntermußte. Sie kommen nicht um. Laufen Sie zur Hafenbehörde!«
Sie drehte sich ein wenig und blickte zu ihm auf. Er bot einen lächerlichen Anblick, ein Mann in hochhackigen Lederstiefeln und hautenger, brauner Hose, mit dickem Pistolengürtel und zwei Halftern. Er trug ein dünnes, rotweiß kariertes Baumwollhemd, einen riesigen weißen Bart, flatterndes weißes Haar und den flachen Hut.
»Okay. Hier anhalten!«befahl er kurz vor der stark befahrenen Straße gegenüber der Hafenbehörde. »Ich steige jetzt ab, aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich Sie nicht an Ort und Stelle niederschießen könnte. Die Einheimischen sind beleidigt, wenn sie einen Menschen auf einem Rhone reiten sehen, aber die kleine Pistole hat ihren eigenen Willen.«
Sie hatte die Waffe gesehen und wußte, daß das zutraf.
Er glitt herunter, und sie hatte das Gefühl, als wäre ihr eine tonnenschwere Last abgenommen worden. Es tat so wohl, daß es schmerzte, und sie versteifte sich ein wenig.
»Also, die Jungs in der Hafenbehörde sind gut dafür bezahlt worden, daß sie nicht auf uns achten«, erklärte er. »Aber da Sie eine Einheimische sind und ich keiner bin, könnte die Rassentreue die Habgier doch überwinden — obwohl ich mich nicht darauf verlassen würde. Ich werde das Ding jetzt also einstecken, und wir gehen beide hinüber in den Warteraum, wo wir uns gestern getroffen haben, und durch Flugsteig Vier zum Fährboot. Da mein Schiff noch nicht ganz entladen ist, wird man sich nicht viel dabei denken. Ich kann jetzt ohnehin die Umlaufbahn nicht verlassen.«
Sie nickte. Sie wußte, daß er nie so offen gewesen wäre, wenn seine Leute nicht alles abgedeckt hätten und die ganze Sache nicht genau vorbereitet gewesen wäre. Es spielte keine Rolle; alles, was sie wollte, war ein Gespräch.
Sie wünschte sich aber, Obie erlaubt zu haben, sie so zu präparieren, wie er es auf Olympus getan hatte. Sie war wegen der Geschichte mit dem Geburtstempel aber immer noch so zornig auf ihn, daß sie sich diesesmal rundweg geweigert hatte. Jetzt vermißte sie ihn. Sie wußte, daß Obie mit Nathan Brazil besser fertigwerden konnte als sie.
Sie betraten das Gebäude, und wie er vorausgesagt hatte, achtete niemand auf die beiden, nicht einmal auf sie — und sie hielt sich für eine Rhone von beachtlicher Anziehungskraft —, obwohl sie nackt war wie an dem Tag, an dem sie geboren worden war, wäre sie wirklich eine Rhone gewesen. Und das mitten im Winter!
Das Pilotboot war automatisiert und hob im Nu ab. Sie war dankbar für die Wärme und die Gelegenheit, zu Atem zu kommen. Brazil lehnte sich zurück und betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Faszination.
»Dann also heraus damit, Tourifreet oder wie Sie wirklich heißen mögen«, begann er, »sind Sie der Kopf dieser Verschwörung oder nur eine Gehilfin? Wer wußte soviel, daß er Sie so nachbilden konnte?«
Obwohl sie noch ein wenig keuchte, brachte sie ein Lächeln zustande.
»Nicht Tourifreet, nein«, stieß sie hervor. »Mavra. Mavra Tschang. Ich bin Ihre Urenkelin, Mr. Brazil.«
Er zog eine Zigarre heraus und machte es sich an der Schottwand bequem.
»So, so, so… Was Sie nicht sagen. Hat Ihnen schon einmal jemand erzählt, daß Sie Ihrem Urgroßvater gleichen?«