Die Lifttür ging auf, und ein Mann trat in die Kammer. Das war ein Sakrileg! Daß er überdies nicht einmal ein olympischer Mann war, steigerte es ins Unfaßbare.
Nikki Zinder wurde sich seiner Gegenwart sofort bewußt; sie hätte ihn schon früher bemerkt, aber sie allein kontrollierte die Aufzüge, und sie waren nicht in Betrieb gewesen. Nicht einer. Es war, als sei er einfach aus dem Nichts heraus im Aufzug erschienen.
»Wer wagt es, die Kammer der Heiligen Mutter so zu betreten?«sagte sie mit donnernder Stimme.
Der Mann blieb stehen, schaute sich um und nickte mit nachdenklicher Miene wie ein Tourist, der durch einen längst verlassenen Tempel schlendert. Er zog eine Zigarette heraus, zündete sie an, blieb stehen und blickte auf die gegenüberliegende Wand.
»Hallo, Nikki«, sagte er lässig.
Im ganzen Tempel, Stockwerke über ihnen, schrillten Glocken und Alarmanlagen, Computer-Monitore mühten sich, ihre kybernetischen Säfte wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Heilige Mutter geriet aus dem Häuschen.
»Wer bist du, daß du es wagst, hier so zu erscheinen?«fuhr sie den Mann an.
»Du weißt, wer ich bin, Nikki«, erwiderte er ruhig. »Du braucht mich nur anzusehen, um es zu wissen.«
»Du bist der Böse selbst!«kreischte sie mit ihren elektronischen Sprechzentren. »Du wagst es hierherzukommen, Böser, zumal in dieser Maske? Wie kannst du es wagen!«
Blitze zuckten durch die Kammer, Lichtbögen griffen nach dem Mann, der in der Mitte stand und gelassen seine Zigarette rauchte. Obschon heiß genug, alles Lebende zu verschmoren und sogar das Fließen eines Wesens aus reiner Energie zu stören, stand er, wie von einer unsichtbaren Luftblase geschützt, in der Mitte des tobenden Gewitters. Keiner der Blitze traf.
Als Nikki das begriff, schaltete sie die Stromstöße ab und überlegte, was sonst auf ihn wirken mochte. Es roch nach Ozon. »Es ist Zeit zu gehen, Nikki«, sagte er halblaut.
»Nein, Böser! Du wirst mich nicht ergreifen!«schrie sie.
Er lächelte.
»Es ist Zeit für dich, Nikki. Höchste Zeit. Deine Welt geht zu Ende. Teile davon hätten nie entstehen dürfen. Teile davon werden jetzt anderswo gebraucht.«Er schien Tränen in den Augen zu haben. »Es tut mir leid, Nikki. Du hast nicht das Leben gehabt, wie es sein sollte — aber keiner von uns kann sein Schicksal ganz steuern. Du bist in ein unglückliches Schicksal hineingeboren worden. Vielleicht wäre es besser gewesen, es hätte dich nicht gegeben. Vielleicht wäre dann nichts von diesen Dingen geschehen, nichts davon notwendig gewesen. Aber es ist, Nikki. Es existiert. Du bist um dein Leben betrogen, und deine Zeit ist um. Du mußt jetzt gehen.«Er sagte es traurig, mit so tiefer Aufrichtigkeit, daß sie fast in ihr seniles Gehirn drang.
»Du bist der Feind!«sagte sie beharrlich, nun aber von Angst erfaßt.
Er lächelte.
»Ich bin der Freund«, erwiderte er. »Sieh mich an, Nikki. Sag mir, was ich bin.«
»Du bist tot!«schrie sie gellend. »Tot! Tot! Tot!«
Ein Grollen wurde hörbar, und das trübe Licht in der Kammer erlosch vollends, bis auf ein Leuchten, das nicht von den Maschinen in den Wänden stammte, sondern von dem Mann selbst. Auch er durchlief eine Verwandlung. Plötzlich war er sehr groß, mit Kutte und Kapuze, und im Inneren der schwarzen Kleidung konnte man seine Gestalt sehen, eine geisterhafte, grauenhafte Gestalt.
Ein Skelett. Ein Skelett, das sie ansah, mit augenlosen Höhlen tief durch die Wände und Maschinen in die verstärkte Zelle starrend, wo ihr Gehirn und ihr Nervensystem in eine halborganische Substanz gebettet waren, die sie ernährte.
Ein Skelett, eine Zigarette zwischen fleischlosen Kiefern.
»Du bist der Tod!«kreischte sie. »Fort mit dir! Fort! Ich habe den Tod überwunden!«
»Ich bin die Ruhe«, erwiderte er. »Ich bin gekommen, dich zu holen, Nikki.«
»Nein!«heulte sie auf, bis ins Innerste der Seele verstört. »Nein! Fort, sage ich! Nein!«
Computer mühten sich, die Unausgewogenheiten auszugleichen, Normalität herbeizuführen, aber tief in dem uralten Gehirn quoll etwas hoch, unbeherrschbar, und Gefäße platzten. Zeiger zuckten, den Kampf kurz anzeigend, und sanken auf Null.
Entsetzte olympische Technikerinnen, durch die Alarmanlagen herbeigerufen, wußten schon in diesem Augenblick, daß die Heilige Mutter tot war. Trotzdem stürzten sie zu den Liften und versuchten, die Kammern zu erreichen. Schließlich dachte jemand an das Not-Umweg-System und nahm es in Betrieb. Aufzüge fuhren zu den Tempel-Etagen hinauf und füllten sich rasch mit Hohepriesterinnen. Dann sanken sie hinunter, nervös, unsicher, und stürmten durch die Türen in die Kammer der Heiligen Mutter.
Niemand war da. Niemand. Aber auf dem Boden in der Mitte des ovalen Raumes lagen die zertretenen Überreste einer noch glimmenden Zigarette.