Mavra Tschang erwachte. Es war ein wenig kühl, aber nicht unangenehm; ein friedlicher Wald, das Rauschen eines nahen Baches. Sie war erleichtert; es war ganz mühelos gewesen, durch den Schacht zu gehen.
Sie begann sich zu bewegen und erstarrte sofort. Sie drehte sich, um ihren Körper zu betrachten, dann begann sie zu fluchen.
Obie soll der Teufel holen! dachte sie zornig. Sie war immer noch eine Zentaurin! Er hatte es gewußt — deshalb hatte er darauf bestanden, daß sie die Rhone-Gestalt beibehielt. Er war bemüht gewesen, sie daran zu gewöhnen.
Sie ging zum Wasser hinunter. Es gab einen Wasserfall, klein, aber hübsch, der unten das Wasser aufwühlte, das sofort in einen großen Teich lief. Ein Stück flußabwärts gab es einen spiegelglatten See, und sie nutzte ihn sofort.
Sie war nicht dieselbe Zentaurin von einst, erkannte sie an ihrem Spiegelbild. Sie war größer, stärker, kraftvoller. Ihr Kopf und der Pferdeteil ihres Körpers waren mit gelblichem Haar bedeckt, blond und majestätisch. Ihr Leib, gedrungen und kraftvoll, war hellhäutig, ihr Gesicht hatte nichts von seinem orientalischen Schnitt behalten. Es war ein eindrucksvolles, attraktives Gesicht. Aus dem Spiegelbild starrten ihr blaue Augen entgegen.
Und doch war an dem Gesicht etwas seltsam Vertrautes, so, als erinnere es sie an jemanden, den sie vor langer Zeit gekannt hatte. Sie wußte nicht, wer das gewesen sein konnte; sie hatte nie jemanden mit so heller Haut und blauen Augen gesehen — es sei denn…
Eine Erinnerung regte sich, kämpfte sich drängend an die Oberfläche, eine so lange vergrabene Erinnerung, daß sie von selbst nie darauf gekommen wäre. Obie war am Werk gewesen; sein Griff ging über seinen eigenen Untergang hinaus. Ein großer, gutaussehender, muskulöser Mann mit dunkelblauen Augen, und eine kleinere, wunderschöne, schwarzhaarige Frau mit ganz heller Haut.
Ihre Eltern.
Sie wußte auf einmal und begriff, was der Schacht getan hatte. Mavra Tschang war das Produkt von Hinterhofchirurgen gewesen, Gestalt und Form so anders, daß niemand sie als Flüchtlingskind von einem zum Untergang verurteilten Planeten erkennen konnte.
So wie jetzt hätte sie ausgesehen, wenn sie normal hätte aufwachsen dürfen, das wahre Kind ihrer Eltern hätte sein können.
Trotz der Zentaurengestalt sah sie sich zum erstenmal in ihrem Leben so, wie sie als Mensch hätte aussehen können. Das erstaunte, ja, erschreckte sie sogar ein wenig. Sie fröstelte, nur zum Teil der Kühle wegen.
Sie schaute sich um. Hohe Berge in der Ferne, eigentlich gar nicht so weit weg. Sie befand sich praktisch schon im Gebirge.
Sie wußte, wo sie war, wo sie sein mußte. Sie war aus diesen Bergen schon einmal gekommen, von den fremden, stillen Gipfeln des Sechsecks mit dem Namen Gedemondas. Das hier war Dillia, das Land der friedlichen Zentauren, oberhalb des Sees — an der Spitze eines riesigen Gletschergewässers. Dort unten lag ein Dorf, das wußte sie. Voll freundlicher Zentauren, die tranken und rauchten und sich tolle Geschichten erzählten. Und dort oben, auf diesen Bergen, lebte die fremdartige Gebirglerrasse, deren Angehörige Kräfte und Sinne besaßen, die keiner verstand.
Sie schien Obies Absicht zu begreifen, aber sie war trotzdem allein in einem kalten Wald, ohne einen Mantel, um sich zu wärmen.
Also gut, Mavra, sagte sie sich. Hier bist du die Kriegerkönigin ohne Anhänger und Armee. Hier bist du, weit, weit von Glathriel und Ambreza entfernt, nackt und allein, und du sollst eine Revolution anfangen.
Also gut, Superfrau, sagte sie zu sich, jetzt bist du auf dich allein gestellt. Kein Brazil, kein Obie, niemand. Genauso, wie du es immer haben wolltest. Wie wirst du jetzt anstellen, was du zu tun hast?
Sie seufzte, drehte sich um und ging langsam auf das Dorf zu, von dem sie wußte, daß es da war. Zuerst warme Kleidung, zu essen und zu trinken, dann die Welt erobern, sagte sie zu sich.
Ja. Die Welt erobern. Mit welcher Armee denn? flüsterte etwas in ihr. Antwort wußte sie keine.