Der Mann, der sich Kapitän David Korf nannte, betrat sein Zimmer, sperrte die Tür ab und untersuchte den Raum sofort nach Wanzen. Danach ließ er sich zufrieden auf dem bequemen Bett nieder und versuchte nachzudenken.
Jemand war ihm auf die Schliche gekommen, soviel stand fest. Jemand, der viel über ihn wußte, der die Falle mit einem Köder ausgestattet hatte, der ihm unwiderstehlich erscheinen mußte. Sie hatten nur einen einzigen Fehler gemacht, nämlich in den Schatten, was sehr, sehr gut war — aber es ist schwer, ein erfahrenes, fremdes Wesen in einer Stadt zu verfolgen, wenn man vier Beine hat und groß ist, zumal spätabends, wenn nicht mehr viele Leute unterwegs sind. Hufe klappern, und wenn man noch so vorsichtig geht. Fünfhundert Kilo Körpergewicht lassen sich nicht leicht im Schatten verbergen.
Korf blickte auf das Telefon am Bett. Es gab mehrere Leute, die er anrufen konnte, sogar die Polizei. Nein, die Polizei würde nur ein paar von den Beschattern festnehmen und ihm nicht verraten, wer oder wie oder warum. Leute, die so gut vorbereitet waren, würden keine Gehilfen einsetzen, die leicht auszuquetschen waren.
Trotz seiner Neugier lockte der Gedanke an Flucht, aber leicht würde sie nicht fallen. Auf einer Welt, die fast ausschließlich von Zentauren bewohnt war, mußte ein Mensch auffallen. Den Raumflughafen, den einzigen hier, würde man natürlich im Griff haben. Natürlich gab es selbst dann noch Möglichkeiten, aber wie sollte es weitergehen? Er hatte keine Lust, ewig im Weltraum herumzugondeln.
Er seufzte. Nein, Davonlaufen barg zu viele Risiken, zu viele Wenns und Abers. Er würde sich den Leuten stellen müssen. Das war ihm ohnehin lieber, weil er seine Neugier befriedigen wollte.
Er gedachte aber nicht unvorbereitet in eine Falle zu tappen. Er blickte wieder auf das Telefon und dachte an die wenigen Menschen hier, die er anrufen konnte, und hatte sich beinahe schon entschlossen, als er den Gedanken wieder verwarf. Nicht hier. Eine öffentliche Sprechzelle, ganz wahllos ausgesucht. Außerdem mußte er die Beobachter ein wenig beobachten, um zu sehen, womit er es zu tun hatte.
Er überlegte, dann griff er nach dem Apparat und tippte den Namen der Reederei Durkh ein. Sofort erschien eine Nummer auf der Leuchtanzeige. Er wunderte sich nicht im geringsten. Das Unternehmen mochte sogar echt sein. In dieser Richtung konnte er sich Ermittlungen schenken.
Aber wer steckte dahinter? Gewiß nicht die Sekte. Vielleicht Söldner, angeworben von der Religionsgemeinschaft — aber welche? Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die Gemeinde genug tüchtige Leute hatte, um so etwas auszuführen. Aber wenn nicht sie, wer dann? Wer besaß die Verbindungen, nicht nur, ihn aufzuspüren, sondern bis Meouit zu verfolgen, diese kleine Welt im Nirgendwo, und mit Rhone-Agenten — und dem Mädchen zur Stelle zu sein!
Sie beunruhigte ihn am meisten. Kosmetische Chirurgie? Neoform? Egal, es gab keine Möglichkeit, wie sie das in der kurzen Zeit hatten bewältigen können.
Schlimmer noch — wer konnte wissen, wie sie ausgesehen hatte? Nur Leute auf der Schacht-Welt konnten das wissen, und es war so lange her. Außerdem waren sie alle tot, alle außer diesem Halunken Ortega, vielleicht — aber selbst er konnte seinen Einfluß nicht über die Schacht-Welt hinaus geltend machen. Das Ganze ergab keinen Sinn. Nur sehr wenige Leute kehrten jemals von der Schacht-Welt zurück, und ihr Verbleib war bekannt — jedenfalls der von allen, die gewußt haben mochten, wie sie damals ausgesehen hatte.
Hier handelte es sich also um etwas Neues, etwas im Ansatz sehr Gefährliches. Der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum, den diese Idioten verursacht hatten — mochte er sonderbare Nebenwirkungen erzeugen? Er war seit Generationen nicht mehr auf der Schacht-Welt gewesen; hatte jemand den Riß ausgenützt, um in diesen Raum zurück- oder hindurchzukommen? War es möglich, daß dort jemand leben mochte?
Nichts ergibt Sinn, sagte er sich. Es bot sich nur eine Lösung an. Er stand auf, stemmte den Koffer aufs Bett und öffnete ihn vorsichtig. Er zog den schweren Mantel mit der dicken Polsterung aus, streifte die unbequemen, hohen Stiefel ab, entfernte mit einem chemischen Mittel aus dem Koffer den langen Bart. Langsam beseitigte er Rabbi David Korf völlig, die buschigen, weißen Brauen, die Falten um die Augen, alles. Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Nicht sehr hoch oben, gewiß nicht unmöglich. Aber ein senkrechter Absturz; es würde schwierig sein hinunterzugelangen. Und kalt war es draußen auch. Es schneite stark.
Und unten was? Der Schnee nützt natürlich, aber eine Gruppe, die Wujus Erscheinung kannten, würde mit jeder seiner Körperzellen vertraut sein. Es würde eine gute Maske sein müssen, eine seiner besten, die selbst den erfahrensten Beschatter täuschte. Er hatte eine solche. Er verwendete sie nicht gern, aber sie wirkte; bei vorgetäuschten Todesfällen hatte er sie ein- oder zweimal benützt.
Er ging zu seinem Koffer zurück, der seine Masken enthielt.
Viel von ›Korfs‹ Haar war ebenfalls falsch, aber darunter trug Brazil sein eigenes, dichtes, schwarzes Haar. Er schnitt es mit einer Schere kurz und rasierte einen großen Teil seines Körpers. Dann Theatersalbe, um die natürlichen Falten zu glätten und die Haut dunkler zu machen. Er arbeitete mit einem Schauspieler-Schminkkasten und verwandelte sich in jemand, der sehr wenig Ähnlichkeit mit ihm hatte. Die Römernase konnte er natürlich nicht verbergen, aber ein wenig glätten und die Nasenflügel verbreitern, so daß sie ganz anders aussah. Schließlich die Perücke, für die er über zwei Jahrhunderte zuvor ein Vermögen bezahlt hatte, und die Kleidung. Er war ein sehr kleiner Mann, was hier half.
Nach über einer Stunde sorgfältiger Arbeit betrachtete er sich im Spiegel. Perfekt. Für das kalte Winterwetter draußen besaß er jedoch keinen passenden dicken Mantel; er würde eine Weile sehr frieren und sich unbehaglich fühlen.
Obwohl das seine beste Maske war, hatte er sie nie gemocht, aber die Herausforderung machte ihm Spaß. Wenn man lange genug an vertrauten Orten ist, braucht man eine Methode, um fortzukommen, ein anderer zu sein, mit Leuten zu reden, bei denen man sich eigentlich nicht blicken lassen darf — und Leuten auszuweichen, die einen sprechen wollen, wie jetzt.
Er mußte sich maskieren, damit er der Beschreibung in den falschen Papieren entsprach, die er dabeihatte. Auf den meisten Planeten reichten sie aus, um ihn hinein- und hinauszuschleusen, ohne daß ein zweiter Blick auf ihn fiel, aber im einzigen Zugangshafen dieses Planeten gab es keine Unterlagen über seine Ankunft. Auf einer größeren menschlichen Welt; hier würde es zu Nachforschungen führen.
Er betrachtete sich ein letztesmal, dann ging er zum Fenster. Sah verdammt kalt aus, da draußen! Er schob das Fenster leise hoch. Die eisige Luft fegte herein. Er kehrte noch einmal um und programmierte Rhone-Musik, die nach einer Viertelstunde abschalten würde. Dann bat er den Empfang telefonisch, ihn am nächsten Morgen zu wecken.
Er griff nach einem kleinen Töpfchen, rieb klare Salbe auf seine Handflächen, atmete tief ein, schob sich zum Fenster hinaus und benützte mit Hilfe der Salbe seine Hände als Saugnäpfe, um die dreißig Meter Backsteinwand zum Durchgang hinunterzuklettern. Am Boden fand er den Hinterausgang, ließ sich ein wenig auftauen, rollte die Salbe von den Händen und schlenderte durch den Korridor zur Halle.
Es wurde schon spät, aber wie er vermutet hatte, war der Aufenthaltsraum für Menschen noch voll. Die meisten entspannten sich bei Lustdrogen oder Getränken, bei Tanz.
Es gab einen Garderobenraum, der unbewacht war. Wer würde sich hier die Mühe machen, einen Mantel für Menschen zu stehlen? Er ging hinein, suchte sich einen aus, der für Maske und Körper gleichermaßen paßte, zog ihn an, ging in die Halle zurück, nickte am Empfang und trat in das Winterwetter hinaus. Als keine Alarmlichter aufflammten, keine Schreie hinter ihm aufgellten und keine sichtbaren Beschatter auftauchten, begann er, vor sich hinzupfeifen.
Die Sonne kam herauf. Für die Mitglieder der Besatzung, die Lagerhaus und Hotel ›Pioneer‹ beobachtet hatten, war es eine stille, wenngleich kalte Nacht gewesen. Alle würden beschwören, daß niemand sie bemerkt hatte und daß, was sie anging, Korf die Nacht ruhig durchgeschlafen hatte.
Einer der Rhone-Beschatter im Korridor neben Zimmer 404 A fuhr hoch, als er ein fernes Geräusch hörte, und begriff, daß er eingenickt war. Er schaute den Flur hinunter, als der Lift, eine große Kabine für Zentauren, heraufkam und sich öffnete. Eine Person stieg aus, eine junge und hübsche Frau, elegant angezogen, mit herausforderndem Gang. Sie strich lange, braune Haare zurück, zog einen kleinen Block heraus, warf einen Blick darauf und achtete auf die Zimmernummern, bis sie 404 A erreichte. Die Aufpasser richteten sich auf. Sie klopfte an der Tür, schien Antwort zu erhalten, dann wurde herumgetastet und die Tür einen Spalt geöffnet. Sie zwängte sich hinein und schloß die Tür rasch hinter sich.
»Hol mich der Teufel!«zischte eine Stimme im Ohr des Aufpassers. »Ich dachte, er ist ein Heiliger.«
»Da kann man sich täuschen«, sagte ein anderer witzelnd. »Das ist schon eher meine Art von Religion!«
Die Männer wären verblüfft gewesen, hätten sie gesehen, daß Zimmer 404 A nur eine Person enthielt. Die Frau zog die Schuhe aus, nahm die Perücke und Körperpolster ab, entfernte aber nicht die ganze Maske. Es dämmerte schon, und Nathan Brazil wollte etwas schlafen, bevor er wieder Rabbi Korf werden mußte; er ließ sich auf das Bett fallen und schlief fast sofort ein. Er lächelte ein wenig bei dem Gedanken, daß seine Beschatter morgen, wenn er fort war, angesichts des Falles der verschwundenen Frau einen ordentlichen Schock davontragen würden, falls sie im Zimmer nachsehen sollten.