Zone Süd

»Mavra! Hilf mir hoch, ja? Mir ist schwindlig«, murmelte Yua.

Mavra knickte an den Vorderbeinen ein und half der Olympierin hoch.

»Das war entschieden unbehaglich«, knurrte Marquoz. Er wirkte selbst ein wenig wacklig.

Mavra schaute sich verwirrt um.

»Wo ist Zigeuner?«

Die anderen beiden erkannten erst jetzt, daß sie nur zu dritt waren, und schauten sich ebenfalls um. Die Kammer war riesengroß; sie standen auf einer flachen, glatten, glasigschwarzen Oberfläche von unbekannter Beschaffenheit. Die Platte war sechskantig, aber die Halle war von solcher Größe, daß man sie schwer schätzen konnte. Das Licht kam von einer riesigen, sechsseitigen Tafel an der Decke. Ein Geländer, das offenbar einen Laufgang verbarg, führte rund um den Raum. Zu Lücken im Geländer führten Stufen hinauf.

»Wir müssen trotzdem weiter«, sagte Mavra und ging zu der nächstgelegenen Treppe, die aus Stein zu sein schien. Der Laufgang bestand aus einer Reihe von Fließbändern, wie sie sahen, die aber jetzt stillstanden.

»Sie sind schon einmal hiergewesen«, sagte Marquoz zu Mavra. »Wie setzen wir das da in Bewegung?«

Sie lachte leise.

»Ich bin nie hiergewesen. Hier kamen alle anderen an, die nicht hier geboren waren. Ich landete mit einem Raumschiff. Eine Bruchlandung. Ich war nur einmal kurz als Gefangene in einer Botschaft in Zone. Ich fürchte, für mich ist das ebenso neu wie für euch. Vergeßt nicht, daß ich zwar schon auf diesem Planeten gewesen bin, aber nicht durch den Schacht ging. Ich weiß so wenig wie ihr, was uns erwartet.«

Plötzlich hörten sie weit weg ein Surren und spürten im Geländer ein Vibrieren.

»Unser Empfangskomitee scheint unterwegs zu sein«, meinte Mavra.

Marquoz schaute sich um.

»Aber wo ist Zigeuner? Ich weiß, daß er hierhergekommen ist. Er war der erste.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Mavra seufzend. »Er hatte von Anfang an etwas Unheimliches an sich. Er ist Ihr Freund. Ich weiß keinen Grund, weshalb er nicht hier sein sollte, gleichgültig, wer oder was er war.«

»Ich kenne ihn seit Jahren und kenne ihn doch nicht«, gab Marquoz achselzuckend zurück. »Vielleicht haben wir alle nur eine Maske gesehen. Vielleicht war er eine nicht auf Kohlenstoff aufgebaute, fremde Lebensform, die uns Menschengestalt nur vortäuschte, so daß er jetzt in Zone Nord ist. Wer weiß? Obie hat es wohl gewußt. Aber es ist wohl das beste, wenn wir ihn vorerst nicht erwähnen. Es könnte mehr im Gange sein, als wir wissen.«

»Richtig«, sagte Mavra. »Aber mir gefällt das nicht.«

Marquoz zeigte plötzlich nach vorn.

Ein riesiges Wesen kam auf sie zu. Es besaß einen dunkelbraunen, menschenähnlichen Rumpf, aber gepanzert. Sechs Arme ragten aus den Rumpfseiten, vier davon an Kugelgelenken, aber alle mit Händen, die Finger besaßen. Alle sechs Arme wirkten hart und muskulös. Der Kopf war eiförmig und besaß keine Ohren. Tiefschwarze Menschenaugen standen neben einer Plattnase, unter der ein mächtiger, weißer Schnurrbart sproß. Der Rumpf ging in lange Schlangenwindungen über.

Das Wesen kam furchtlos heran — ganz natürlich, da es hier offenbar Herr war. Er klatschte laut an die Wand, als er auf einige Meter herangefahren war, und das Fließband stand still. Buschige, weiße Brauen stiegen hoch.

»Ein Mensch, gewissermaßen, eine Dillianerin und ein Ghlomonese? Was hat das zu bedeuten? Versteht ihr, was ich sage?«

Mavra nickte.

»Vollkommen«, sagte sie. »Wir sind vom Kom-Bund.«

Das Wesen sah sie entgeistert an.

»Vom Kom! Und keiner von euch ein echter Mensch! Du meine Güte! Wie muß sich alles verändert haben, seidem ich das letztemal dort war!«

Yua hielt den Atem an.

»Sie sind einmal im Kom gewesen?«

Er lächelte sehr menschlich unter dem buschigen Schnurrbart.

»Gewiß. Ich war auch einmal ein Mensch, nur ohne Schweif, und ein Mann.«

»Im Kom gibt es jetzt viele Rassen«, sagte Mavra. »Und alle leben friedlich zusammen. Miteinander, heißt das. Gemeinsam haben wir gerade einen Krieg mit einer kompromißlosen nicht-menschlichen Rasse ausgetragen.«

»Multirassische Zusammenarbeit im Kom!«sagte das Wesen staunend. »Wer hätte das gedacht! Einen Krieg hat es gegeben, sagen Sie? Seid ihr deshalb hier?«

»Ich weiß nicht, warum wir hier sind«, sagte Mavra schnell. »Ich weiß nicht einmal genau, was ›hier‹ ist. Nein, es war nicht der Krieg. Den haben wir gewonnen, dabei aber einen Riß im Raum-Zeit-Kontinuum hervorgerufen. Er beginnt, den Kom-Bereich zu verschlingen. Man könnte sagen, daß wir Flüchtlinge sind, obwohl ich nicht weiß, wieso wir hier landen. Wir sind auf einer alten Welt gelandet, um darüber abzustimmen, wohin wir gehen sollen, und auf einmal erlosch das Licht. Aufgewacht sind wir hier.«

Das Wesen nickte. Das entsprach ungefähr seinen Erwartungen — und aus diesem Grund hatte man diese Geschichte erfunden.

Das Wesen glitt zurück, um auf dem Fließband Platz zu machen.

»Ihr könnt die Raumanzüge übrigens ausziehen. Der Schacht sorgt für Druckausgleich. Oder behaltet sie an, bis wir in meinem Büro sind, wie ihr wollt.«

Er schlug mit der untersten linken Hand an die Wand, und das Band begann zu laufen.

»Ich bin Tourifreet, eine Rhone«, sagte Mavra. »Der Mensch ist Yua, eine Olympierin, und der Chugach heißt Marquoz.«

»Freut mich«, sagte das Wesen liebenswürdig. »Es ist lange her, seit jemand aus meinen alten Revieren vorbeigekommen ist. Leute fallen die ganze Zeit in diese Löcher, wie auch ich, aber in den letzten ein—, zweihundert Jahren waren keine Menschen dabei. Ich bin übrigens Serge Ortega.«

Mavras Kopf zuckte hoch, und in ihren Augen begann es seltsam zu funkeln. Ortega, der ihr den Rücken zudrehte, sah nichts davon.

»Ruhig, Mädchen«, flüsterte Marquoz.

Ortega! dachte sie. Nach all der Zeit! Nach all der… Ortega, immer noch am Leben, immer noch am Drücker. Der einzige Mann, den sie mit brennendem Haß verfolgte.

Sie verließen die große Kammer und fuhren durch einen ovalen Tunnel, einen großen Korridor aus schwerem, körnigem Gestein, das stumpfgelb gestrichen worden war.

Sie kamen in dem gewundenen Tunnel an anderen Kammern vorbei; es handelte sich nicht um einen einzelnen Korridor, sondern um ein Labyrinth. Jede Kammer barg nach Ortegas Worten eine Mini-Biosphäre für eine der fünfzehnhundertsechzig Rassen der Schacht-Welt. Hier in diesem Bereich befanden sich die Botschaften der siebenhundertachtzig südlichen Sechsecke.

Als sie sein Büro erreichten und sich ausruhten, ließ Ortega Essen und Trinken kommen. Er erzählte ihnen, was sie schon wußten, von der Schacht-Welt und ihrer Gründung, von den Sechsecken, Zone-Bereichen und Toren. Interessant für sie war Ortegas politische Karte der Schacht-Welt. Sie sahen zum erstenmal ihre riesigen Ozeane und die Topographie der Landschaft. Mavra fand die Gebiete, wo sie gewesen war, und entdeckte Glathriel, wo, wie Ortega überflüssigerweise erklärte, jetzt die menschliche Rasse in primitiven Stämmen zusammen lebte.

Daneben lag Ambreza, die ursprüngliche Heimat der Menschheit und jene Stelle, wo Nathan Brazil auftauchen mußte. Das war ihr erstes Ziel.

»Genug von der Politik«, sagte Ortega und legte die Karte weg. »Wenn ihr in euren Heimat-Sechsecken seid, habt ihr Gelegenheit, euch ausführlich damit zu befassen.«

»Was — was meinen Sie mit unseren Heimat-Sechsecken?«fragte Yua nervös.

Ortega lächelte.

»Von hier aus werdet ihr zu einem anderen Tor, dem Schacht-Tor, gebracht. Es entfernt euch aus dem Universum, das ihr immer gekannt habt, und macht euch zum Bestandteil des Schachtes. Im Inneren analysiert euch der Schacht nach Kriterien, die wir nach wie vor nicht begreifen, und wählt eine Lebensform für euch aus. Ihr werdet als Mitglied einer der siebenhundertachtzig südlichen Rassen wie aus einem Schlaf erwachen — genau wie ich vor so langer Zeit. Der Schacht hilft insoweit mit, als er euch mit eurer neuen Erscheinungsform und den Bedingungen vertraut macht, so daß ihr euch nicht völlig fremd vorkommt — ihr werdet nach wie vor ihr selbst sein und euch an alles erinnern, was gewesen ist. Von da an seid ihr auf euch selbst gestellt. Kämpft nicht dagegen an. Gleichgültig, als was ihr aufwacht, ihr werdet das für den Rest eures Lebens sein.«

Ortega forschte sie über die Verhältnisse im Kom-Bund aus, und sie berichteten einigermaßen ehrlich, ohne aber Obie oder Nathan Brazil zu erwähnen. Es war Ortega selbst, der den letzteren zur Sprache brachte.

»Ich würde mir keine Sorgen machen«, tröstete er. »Der Schacht wird den Riß beheben. Wenn nicht, dann gibt es einen Markovier, der noch lebt und die Reparaturen vornehmen kann. Wenn es nötig wäre, hätte er sich schon eingefunden.«

»Woher wissen Sie, daß er nicht hier war?«fragte Marquoz.

»Ich kenne ihn«, sagte Ortega lächelnd. »Er ist ein Mensch — sieht aus wie ein Halbzwerg und heißt Nathan Brazil. Wenn er hier durchgekommen wäre, hätte ich das erfahren.«Er kratzte sich mit dem obersten rechten Arm am Kinn und starrte sie an. »Komisch, eigentlich. Ich sehe euch Frauen und habe das Gefühl, daß ich euch kenne oder kennen sollte. Seltsam, nicht? Das kann natürlich nicht sein.«

Mavra hüstelte.

»Nein, wirklich nicht.«

»Na gut. Seid ihr bereit für den Schacht?«

»Nein«, sagte Marquoz. »Aber was bleibt mir anderes übrig?«Ortega lachte.

»Na schön. Kommen Sie mit.«Die Tür ging auf, und er glitt hinaus. Sie folgten ihm nah hintereinander.

Sie betraten einen normalen Raum, ein Rechteck, abgesehen von den abgerundeten Ecken, völlig leer. Die Tür schloß sich hinter ihnen.

Wände, Boden und Decke bestanden aus demselben körnigen, gelben Material wie die Korridore, mit Ausnahme der Wand gegenüber, wo wieder totale Schwärze herrschte.

»Das Schacht-Tor«, sagte er. »Jetzt habt ihr überhaupt keine Wahl mehr. Die Tür hinter mir läßt sich von innen nicht öffnen. Man kann nur durch das Tor — und den Schacht — hinaus.«

Das war eine Lüge, wie Mavra wußte. Sie konnte aber verstehen, daß das bei seiner Tätigkeit von Nutzen sein mußte.

Sie hatten ihre Raumanzüge in Ortegas Büro ausgezogen und waren jetzt alle nackt. Marquoz hatte sein Zigarrenetui gerettet, und er und Mavra pafften die letzten Exemplare. Beide fragten sich beiläufig, ob sie das jemals wieder tun würden.

Mavra sah sich Ortega an. Sie haßte ihn immer noch, aber er wirkte durchaus nicht wie ein Ungeheuer.

»Wer zuerst?«fragte sie die anderen, wie vorher auf der toten Markovier-Welt, als Zigeuner vorgetreten und verschwunden war — ganz und gar, wie es den Anschein hatte.

»Ach, zum Teufel damit«, murmelte Marquoz und zertrat den Zigarrenstummel. »Ich habe ohnehin keine Zigarren mehr.«Er ging zur schwarzen Wand und hindurch. Sie verschluckte ihn.

Yua sah Mavra furchtsam an. Nicht zum erstenmal fragte sich Mavra, warum Obie gerade sie ausgesucht hatte. Das wußte nur Obie, und er war weit, weit weg.

»Wir sehen uns wieder«, sagte die Olympierin leise zu ihr und drückte ihre Hand. Dann drehte sie sich um und trat ohne Zögern in die alles verschlingende Dunkelheit.

»Da war es nur noch eins«, sagte Serge Ortega hinter ihr.

Sie lächelte vor sich hin. Er war seiner Sache so sicher. Sie trat einen Schritt auf die Dunkelheit zu, dann blieb sie plötzlich stehen und traf instinktiv die Wahl, die Brazil ihr offengelassen hatte.

»Augenblick, Ortega«, sagte sie kühl und drehte sich nach ihm um. »Ich werde Ihre Hilfe brauchen.«

»Wie?«sagte er entgeistert.

»Die beiden anderen — sie bedeuten Ihnen oder allen anderen nichts. Aufmachung. Ich nicht. Ich stehe herum und debattiere mit mir, seitdem ich angekommen bin, und ich wollte beinahe nichts sagen, aber ich glaube, das Risiko ist vertretbar.«

Er rollte seinen Schlangenkörper fest zusammen, verschränkte alle sechs Arme und schwankte mit dem Oberkörper vor und zurück.

»Nur zu, ich höre«, sagte er neugierig.

»Der Schacht ist defekt. Er hat einen Kurzschluß erlitten«, sagte sie. »Das ganze verdammte Universum wird nach kosmischen Maßstäben langsam, in Wahrheit aber ziemlich schnell ausgelöscht. Der Riß wird nach einiger Zeit so groß werden, daß er den Schacht stark beschädigt und er nicht mehr repariert werden kann. In Bälde werden sie von Flüchtlingen, zumeist Olympierinnen, überflutet werden, die sich aus dem zugrundegehenden Kom-Gebiet absetzen.«

»Weiter«, sagte er ausdruckslos. »Ich höre.«

»Sie sollen der Keim für neue Rassen werden«, fuhr sie fort. »Sie sind diejenigen, welche die Seelen, oder was auch immer, liefern werden, sobald der Schacht repariert ist.«

»Aber wenn der Schacht repariert ist, wird alles sein wie vorher«, betonte er.

»Nein, zuerst muß er abgeschaltet werden. Das ganze Experiment der Markovier ist vorbei, und es ist gescheitert. Es ist Zeit, auf den Wiedergabeknopf zu drücken und neu anzufangen. Sie müssen helfen. Den Leuten muß ermöglicht werden, zu tun, was wir tun: durch den Schacht zu gehen, als etwas anderes herauszukommen. Sie kennen die Reaktion, die der Durchgang vieler Personen hervorrufen wird, besser als ich. Wir brauchen Ihre Hilfe.«

Ortega schwieg eine ganze Minute lang, dann sagte er:»Was Sie damit sagen, ist nichts anderes, als daß nicht nur Nathan Brazil zurückkommt, sondern daß er diesmal wirklich etwas Tiefgreifendes tun wird.«

Sie nickte angstvoll.

»Und woher wissen Sie das alles?«

Sie überlegte.

»Weil dieser Zentaurkörper nicht mein eigener ist. Weil er von Obie gemacht wurde«, sagte sie. »Weil ich Mavra Tschang bin.«

Serge Ortega fiel beinahe hin. Dann kicherte er, schließlich lachte er und konnte nicht mehr aufhören. Endlich sagte er:»Wie ist so etwas möglich? Obie wurde zerstört. Mavra Tschang befand sich noch in ihm, also ist sie mit dem Computer zugrunde gegangen. Wir hatten Zeugen dafür.«

»Wir haben das vorgetäuscht«, erwiderte Mavra. »Das mußten wir tun, sonst wäre Obie, der nur noch sich selbst verantwortlich war — ein Miniatur-Schacht der Seelen —, gehaßt, gefürchtet, vielleicht trotz seiner Kräfte irgendwann wirklich zerstört worden. Und ich wollte nicht als Mißgeburt zur Menschheit zurück, wie Sie wissen. Ich wollte bei Obie bleiben und mit ihm sterben. Das war nicht der Fall. Wir flogen zu einer fernen Galaxis und hatten viel Spaß.«

Er schwankte ein wenig hin und her, aber Mavra konnte nicht erkennen, was er dachte.

»Und wo ist Obie jetzt?«

Sie seufzte.

»Tot — oder so gut wie tot.«Sie berichtete kurz und wahrheitsgemäß.

»Und Brazil? Wann kommt er hier an?«fragte der Schlangenmann.

»Das weiß ich nicht. Niemand außer ihm weiß es — und ich bin nicht sicher, ob er nicht einfach auf den richtigen Augenblick wartet.«

»Und er hat Sie aufgefordert, mir das alles zu sagen?«fragte Ortega skeptisch.

Sie lächelte.

»Die Entscheidung hat er mir überlassen. Er sagte, als Verbündeter wären Sie unentbehrlich, aber wenn Sie keiner werden wollten, sollte ich Sie daran erinnern, daß er Sie einmal geschlagen hat, als er nicht wußte, wen er gegen sich hatte, und mit offenen Augen würde ihm das notfalls wieder gelingen.«

Ortega lachte wieder.

»Ja, ja! Typisch Brazil! Ach, ist das großartig!«Dann schien alle Fröhlichkeit von ihm abzufallen. Er wirkte plötzlich uralt, so alt, wie er wirklich war, dann wurde sein Blick weicher.

»Sie sind wirklich Mavra Tschang?«

Sie nickte.

»Na, hol mich der Henker. Gott ist sogar zu den Sündern gut«, murmelte er vor sich hin. Dann sah er sie an. »Wissen Sie, ich habe in meinem langen Leben viele Leute umgebracht, die alle entweder mich umbringen wollten oder den Tod doch sehr verdient hatten. Ich habe viele Leute hereingelegt, die es verdienten, und wissen Sie, wenn ich alles noch einmal vor mir hätte, würde ich es genauso machen. Mein Gewissen wird nur von einer einzigen Person belastet, und ich bin das nie losgeworden, obwohl ich keine andere Wahl hatte, was noch ärgerlicher ist. Sie sagen praktisch, daß mir Absolution erteilt worden ist. Diese eine Person lebt und hat ein volles Leben gehabt, länger gelebt als jeder andere — Brazil und mich vielleicht ausgenommen. Sie sagen mir, daß ich das Richtige getan habe, daß mir jetzt verziehen worden ist.«

Sie sah ihn an, ein wenig verwirrt über seine Reaktion. Das hatte sie von dem Mann ganz und gar nicht erwartet. Sie hätte beinahe schwören mögen, daß Tränen in seinen Augen standen.

»Ich habe Ihnen nicht verziehen, Ortega«, sagte sie ruhig. »Sie sind der einzige, den ich jederzeit mit Vergnügen umbringen könnte — wenn ich Sie nicht brauchte.«

Er lachte leise.

»Sie sind wirklich Mavra Tschang?«Er schien die Bestätigung zu brauchen, so, als könne er die Wahrheit nicht akzeptieren. »Hol mich der Henker!«Plötzlich wurde seine Miene hart. »Hören Sie, wenn Sie wirklich Mavra Tschang sind, schulden Sie mir etwas.«

Sie riß entgeistert die Augen auf.

»Ich Ihnen

Er nickte.

»Wenn ich damals nicht getan hätte, was ich tat, lägen Sie da draußen jetzt irgendwo herum, seit siebenhundert Jahren tot, tot und begraben. Tot, ohne je wieder von dieser scheußlichen Welt fortgekommen zu sein, ohne die Sterne je wiedergesehen zu haben. Ich habe Sie gerettet, und dafür sind Sie mir etwas schuldig. Ich habe Sie gerettet, und das bedeutet mir alles.«Seine Augen glühten. »Wie ich Sie beneide. Siebenhundert Jahre dort draußen. Seit langer Zeit vor Ihrer Geburt bin ich aus diesem verdammten Loch nicht mehr herausgekommen. Wissen Sie, was das bedeutet? Ich bin auch Kapitän gewesen, wissen Sie.«

Sie wußte, was es bedeutete, obwohl es an den Nerven zerrte, das auch bei Ortega noch vorzufinden. Sie versuchte, es sich vorzustellen.

Er nickte und lächelte schwach.

»Ich sehe, Sie verstehen mich. Ich bin ein Gefangener, schlimmer, als Sie das jemals gewesen sind. Alle diese Macht hier ist bedeutungslos. Ablenkung für einen alten Mann in einer künstlich beleuchteten Gefängniszelle, der seit fast tausend Jahren außer in Büchern keinen Stern oder Grashalm mehr gesehen hat.«Er seufzte. »Wissen Sie, hier und dort tauchen alte Erinnerungen auf. Ich erinnere mich daran, als Nate das letztemal hier war. Er sagte, das einzige, was er wolle, sei der Tod — er habe das Leben satt. Er habe alles getan, sei alles gewesen, hätte zu lange gelebt. Ich hielt ihn für verrückt. Der einzige Unterschied zwischen dem damaligen Brazil und mir heute ist der, daß er länger gebraucht hat dazu. Ihnen wird es nicht anders ergehen, auch wenn Sie vielleicht nicht so lange leben. Sie haben wohl schon die ersten Anfänge der Langeweile verspürt, glaube ich. Sie haben es länger ausgehalten als ich, weil Sie unterwegs sein konnten, weil Sie die Sterne, die Bäume, helle Wüstenfarben und blauen Himmel sehen konnten. Selbst in Glathriel hatten Sie das. Stellen Sie sich vor, die letzten siebenhundert Jahre eingesperrt gewesen zu sein.«

Sie schüttelte staunend den Kopf.

»Wenn Sie so stark empfinden, warum gehen Sie mit mir nicht durch dieses Tor? Gehen Sie nach Ulik zurück und sehen Sie die Wüsten und die Sterne.«

Er lachte kurz auf.

»Wollen Sie wissen, warum ich das nicht mache? Glauben Sie, ich hätte nicht darüber nachgedacht, immer wieder, in jeder freien Stunde? Jedesmal, wenn ich spüre, wie die Wände mich erdrücken, wenn ich meine verehrten Kollegen erfrischt und ausgeruht von Ausflügen nach Hause zurückkommen sehe? Wollen Sie es wissen? Ich habe Angst. Ich, Serge Ortega. Ich stelle mich jedem, mit Schwertern oder Schußwaffen oder was es auch sei — selbst mit dem Verstand. Ich stürme sogar die Hölle — aber auf Einladung gehe ich da nicht hin.«

Sie hörte ihm zu und entdeckte erstaunt, daß fast der ganze Haß und Ärger über ihn verschwunden waren, verdrängt von leichtem, wenn auch ganz echtem Mitleid für einen Mann, der sein eigenes Gefängnis errichtet hatte und daran leiden mußte.

»Wegen der Hölle brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Ortega«, sagte sie leise. »Das ist die Hölle. Sie haben sie geschaffen. Sie haben sie aus Ihren eigenen Ängsten und Ihrem Schuldbewußtsein aufgebaut. Sie leben ständig in ihr, für immer, um so mehr Hölle, weil Sie wissen, daß Sie gehen können. Sie tun mir leid, Ortega, wirklich.«Sie wandte sich der Dunkelheit zu. »Ich glaube, jetzt bin ich bereit, den Gang zu tun, den ich ohne Ihre Eingriffe schon vor siebenhundert Jahren hätte tun sollen. Der Kreis hat sich geschlossen, Ortega. Werden Sie uns helfen? Sie sind diesen Leuten nichts schuldig. Jetzt nicht mehr. Bitte, helfen Sie — und sei es nur um meinetwillen.«

Er lächelte.

»Ich werde tun, was ich kann. Aber was für mich interessant ist, wird für den Rest der Rassen hier die Hölle sein. Das ist Ihnen klar. Es könnte sein, daß ich nicht in der Lage bin, den Dingen Einhalt zu gebieten.«

»Dann tun Sie, was Sie können«, erwiderte sie. »Wenn Sie es nicht tun, dann haben wir beide eine Verabredung, hier in Zone, das schwöre ich Ihnen.«

»Ich hoffe jedenfalls, daß der Tag nicht kommt, an dem ich zwischen Ihnen und mir wählen muß«, murmelte er. »Ich — ich weiß nicht, was ich nehmen würde.«

»Ich komme wieder, Ortega, so oder so, verlassen Sie sich drauf!«fauchte sie und lief in die Dunkelheit des Schacht-Tores hinein.

Serge Ortega saß da und schwankte auf seinen Schlangenwindungen vor und zurück, lange Zeit in die Schwärze hineinstarrend.

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