Olympus lag weitab der Hauptverkehrswege. Der Planet war bei der Erforschung durch die Erde sogar schon ziemlich früh entdeckt worden und hätte als grandioses Umgestaltungs-Experiment enden können, nur ermöglichte derselbe Raumantrieb, der es dem Menschen erlaubte, den Planeten zu erreichen, auch die beinahe gleichzeitige Entdeckung einer Anzahl attraktiverer und weniger kostspieliger Planeten praktisch unmittelbar hintereinander.
Der Planet besaß einen Äquatorumfang von ungefähr 32000 km, ein wenig kleiner als die alte Erde, und von der Sonne weiter abgelegen, also kälter. Die normale Lufttemperatur betrug demnach an einem Sommertag etwa 3° C, im Winter minus 18°. Geologisch gesehen, war Olympus sehr aktiv. Vulkane, größer als alles, was man auf der alten Erde je gesehen hatte, spien heiße Gase und geschmolzenes Magma in die Runde; fast auf der ganzen Welt waren Erdbeben etwas Alltägliches, obschon schwere selten vorkamen. Zu alledem war die Atmosphäre mit Sauerstoff und vielen anderen Gasen überladen. Die Luft roch ähnlich wie in der Umgebung einer großen chemischen Fabrik, gleichgültig, wo man sich aufhalten mochte, und obwohl es häufig regnete, stellte der chemische Gehalt des Regens ein Gemisch von schwachen Säuren dar, bei weitem stärker als jeder Niederschlag in und um Industriegebiete auf erdähnlicheren Welten. Die gewohnten Materialien verschlissen hier rasch; die Regenfälle sengten und reizten entblößte Menschenhaut, und die Zusatzstoffe in der Luft waren stark genug vertreten, um eine künstliche Atemzufuhr zu erfordern. Die Welt hatte ein gut angepaßtes, üppiges Pflanzenleben ebenso entwickelt wie kleinere Insekten und Meeresgeschöpfe, aber nichts besonders Kompliziertes. Die Umwelt war immer noch zu feindselig dafür.
Die Ersten Mütter, von Rätin Alaina finanziert, hatten Olympus billig erworben. Ben Yulin hatte sich zwar idealisierte Liebessklaven gewünscht, sie jedoch zu Superfrauen gemacht, die ungeheure Extreme zu ertragen vermochten. Der Techniker war Obie gewesen, und er hatte gute Arbeit geleistet. Die Ersten Mütter stellten fest, daß sie auf Olympus mühelos leben konnten; ihr Metabolismus gestattete ihnen, praktisch alles Organische zu sich zu nehmen.
Ursprünglich waren die Lebensbedingungen auf Olympus primitiv gewesen; Häuser, mit Laserstrahlern aus dem Fels herausgehauen, waren die ersten Unterkünfte, und eine Generation lang bestand die ganze Bevölkerung aus einem kleinen Stamm von Wilden, die als nackte Jäger-Sammler in einer Kultur von beinahe steinzeitartigem Zuschnitt lebten. Sie besaßen aber zwei Vorteile: ein großes, Zinsen tragendes Konto bei der Kom-Bank und ständige Verbindung mit dem Kom-Bund und seinen Hilfsmitteln.
Nach einigen Monaten entdeckten alle Kom-Mütter, daß sie schwanger waren. Bis auf zwei waren alle Kinder, die zur Welt kamen, weiblich. Erst dann wurde ihnen klar, daß sie in der Tat eine neue Rasse gründen konnten.
Man bediente sich der Klon-Technik auf anderen Welten, um für eine große und ständige Zufuhr von Frauen zu sorgen, die zur Reifezeit ungefähr im selben Alter sein würden wie die beiden Männer.
Die Mädchen wurden in dem Glauben aufgezogen, es sei ihre Pflicht, Kinder zu bekommen, solange und sooft sie dazu imstande seien, und die Bevölkerung vermehrte sich sehr rasch. Die Olympierinnen konnten schließlich sogar auf das Kloning verzichten und so die von außen kommenden Interessen abweisen, die zu beanspruchen dabei nötig gewesen war. Nun, über siebenhundert Jahre später, betrug die Bevölkerung von Olympus weit über dreißig Millionen und wuchs immer noch, obschon die Geburtenrate Jahrhunderte vorher eingeschränkt worden war.
Und alle Frauen sahen bis auf Haar- und Augenfarbe gleich aus, mit einem zusätzlichen Unterschied. Von den Ersten Müttern hatte Yulin zwei geschaffen, bevor er den dekorativen Pferdeschweif hinzufügte. Nach sieben Jahrhunderten entbehrten zehn Prozent der Bevölkerung den Schweif. Sie waren die Athenen. Die geschweifte Mehrheit hieß die Aphroditen (gesprochen ›Afrodeits‹). Sie nannten ihre Rasse die Pallas, obwohl jedermann außerhalb ihrer Kultur sie nach ihrem Planeten als Olympier bezeichnete.
Mavra Tschang näherte sich, als eine Pallas getarnt, zusammen mit Yua, die durch Obie zu ihrer Dienerin gemacht worden war, in einem olympischen Schiff dem Planeten, nachdem sie von einem konventionellen Frachter umgestiegen waren. Da die Ersten Mütter die Naivität und Verwundbarkeit ihres Frühzustandes erkannt hatten, war von ihnen der Zugang zu Olympus streng beschränkt worden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte man die Regeln in Stein gemeißelt und immer strenger ausgelegt. Nur Olympier durften auf den Planeten. Selbst die Raumfrachter mußten Olympiern gehören und von solchen betrieben werden.
Obwohl der Planet jetzt modern und zivilisiert war, brachte er wenig Verkäufliches hervor. Die alten Bankguthaben waren jedoch in den Frachtbetrieb gesteckt worden, der auch für Kom-Welten tätig wurde. Es war zwar nur wenig bekannt, aber tüchtige Olympierinnen konnten als Kuriere, als Wachen, als private Schiffskapitäne gemietet werden. Sie waren ihren Arbeitgebern absolut treu, völlig unbestechlich, und als Superfrauen keine leichten Gegnerinnen. Auch der Tempel investierte in großem Umfang in Kom-Unternehmen; das kürzliche Wachstum hatte ihm immensen Reichtum eingebracht.
All dies entnahm Obie aus Yuas Gehirn, ebenso die linguistischen Unterschiede, kulturellen Erscheinungen und Haltungen. Mavra würde keine auffälligen Fehler begehen. Yua war jedoch keine besonders große Hilfe. Sie hatte von Anfang an Priesterin werden sollen, so daß sie wenig Berührung mit der eigentlichen Gesellschaft ihres Heimatplaneten gehabt hatte.
Beispielsweise hatte sie nie einen männlichen Olympier gesehen. Sie wußte natürlich, daß es sie gab; sexuell war sie nicht unwissend, obschon man ihre Triebe in dieser Richtung auf irgendeine Weise beschnitten hatte. Sie war zwar noch keinem von diesen Männern begegnet, vertrat aber eine sehr niedrige Meinung von dem Geschlecht im allgemeinen, die nach ihrer Ansicht wenig mehr waren als kluge Tiere, Sex-Maschinen, die für wenig anderes taugten.
Mavra und Obie fanden diese Einstellung sonderbar, behielten sich ein endgültiges Urteil aber vor. Es gab gar keinen Grund, weshalb die Männer so sein sollten. In die Biologie der olympischen Männer hatte Obie ganz gewiß keine intellektuelle Unterlegenheit einprogrammiert.
Es gab in dem kleinen, spartanischen Raumflughafen keine Zoll- oder Einwanderungs-Formalitäten; wenn man kein Olympier war, tauchte man dort erst gar nicht auf. Es gab auch keine Kaschemmen, Bars oder andere Hafeneinrichtungen — nur Landedocks für Raumfähren, Lastkahn-Docks und einen kleinen Aufenthaltsraum. Alles war modern und zweckbestimmt.
Sparta, die Hauptstadt, machte ihrem Namen Ehre — kein Schmuck, nur Funktion. Sie lag in einem großen, schüsselförmigen Tal, auf drei Seiten von schneebedeckten Berggipfeln, auf der vierten von einem seltsam beunruhigenden, dunkelroten Ozean umgeben, und man mußte es als Schande empfinden, daß sie nicht so schön war wie ihre Lage. Kantige, gedrungene Gebäude, breite Straßen mit Betonpfeilern, alles stumpfes Grau und Braun. Straßenbahnen beförderten die Bewohner ruhig und lautlos fast überallhin; die Hangbereiche wurden von Gondelliften bedient. Private Fahrzeuge schien es nicht zu geben, auch wenn auf ihren eigenen Fahrspuren viele Lastwagen hin- und herschnurrten.
Die Leute gingen auch viel zu Fuß, in jedem Stadium des Bekleidet- oder Unbekleidetseins, oft mit viel Schminke, Schmuck und allen möglichen Haar- und Schweif-Frisuren und Tätowierungen. Manche sahen aus wie alte Zirkus-Schaustücke.
Mavra verstand die überflüssige Ausschmückung sofort. Alle Olympier sahen ab dem fünfzehnten Lebensjahr gleich aus und blieben so. Sie alterten innerlich, aber nicht äußerlich, bis sie starben, gewöhnlich im Alter von rund zweihundert Jahren. Sie waren alle gleich groß, hatten genau die gleiche Stimme, alles gleich, ausgenommen Haar- und Augenfarbe, was man mit Farbstoffen oder Kontaktlinsen ändern konnte.
Sich zu einem jederzeit erkennbaren individuellen Wesen zu machen, war für diese Frauen deshalb eine Passion — und das war alles, was Mavra sah. Hunderte und Tausende gleich aussehender Frauen überall in der Stadt. Keinen einzigen Mann.
Die meist eintönige Arbeit, einschließlich jener, das Gepäck der Neuankömmlinge zu befördern, wurde von Robotern geleistet, so konstruiert, daß sie der korrodierenden Atmosphäre widerstanden. Es gab kluge und dumme Olympier, weil es kluge und dumme Erste Mütter gegeben hatte und natürlich auch andere Umweltfaktoren einwirkten, aber niemand brauchte Handarbeit zu leisten, und niemand tat es — dafür gab es Maschinen.
»Hotel Central«, sagte Yua zu der Maschine, die Mavra wie ein besserer und belebter Handkarren vorkam.
»Ja, Ma’am«, erwiderte eine mechanische Stimme, und die Maschine rollte eilig davon, um das Gepäck zu holen und durch unterirdische Handelsstraßen zu befördern.
Taxis gab es keine; von einer Olympierin wurde erwartet, daß sie sich auskannte und wußte, welche Straßenbahn sie nehmen mußte. Yua suchte sich eine aus, und sie sprangen auf, als sie losfuhr. Die Neuankömmlinge gesellten sich zu den vielen stehenden Insassen gleichen Aussehens. In Sparta saß offenbar niemand, dachte Mavra düster.
Die Fahrt nahm ungefähr zehn Minuten in Anspruch, wobei die Tram niemals hielt. Sie kroch nur langsam dahin, während die Leute auf- und absprangen. Niemand versuchte, Fahrgeld zu erheben.
Das Hotel Central war ein quadratischer Klotz in der Nähe der Stadtmitte; wie alle spartanischen Gebäude war es niedrig, vier Stockwerke: auf einem Planeten, der nur aus einer Erdbebenzone bestand, für eben diese Zone gebaut. Mavra studierte das Haus, bevor sie Yua hineinfolgte. Vermutlich vermieten sie Wandschränke, wo man an einer Betonmauer im Stehen schlafen kann, mutmaßte sie. Sie war von dem, was die Nachkommen ihrer Großeltern geschaffen hatten, nicht beeindruckt.
Die Halle war trist und bedrückend, was den Erwartungen entsprach; aber es fiel ihnen nicht schwer, ein Zimmer zu bekommen. Auch hier verlangte man weder Geld noch Ausweis. Die Gesellschaft war kommunal gesinnt bis zum nten Grad, und man ging einfach davon aus, daß derjenige, der ein Hotelzimmer brauchte, auch einen guten Grund dafür vorweisen konnte. Anmelden mußte man sich indessen; Mavra vermutete, daß irgendwo irgend jemand die Hotelregister überprüfte, um festzustellen, wer was mit wem trieb.
Sie trug sich als Mavra A 332-6 ein; Mavra war auf Olympus offenbar ein gebräuchlicher Name — was ihr gefiel. Nikki Zinder, auch eine der Ersten Mütter, hatte von Renard, dem belesenen Agitar-Satyr, als er noch in Menschengestalt gewesen war, eine Tochter zur Welt gebracht — eine der Gründerinnen — und das Kind nach Mavra Tschang benannt.
Mavra benützte Yuas Codenummer, was der Angestellten verriet, daß sie ein ›gebundenes‹ Paar waren. Solche Verbindungen waren auf Olympus häufig; irgendwann entschloß sich fast jede Bewohnerin, ein Kind zu bekommen, und es gab ein eingewurzeltes Beharren auf der Familienstruktur mit zwei Eltern. Ein ›gebundenes‹ Paar, das in einem Hotel abstieg, bedeutete für die Einheimischen nur eines: Die beiden waren in Sparta, um einen Geburtstempel aufzusuchen und sich befruchten zu lassen.
Sie sahen sich rasch als Neuvermählte behandelt. Mavra war das unangenehm, aber das war Obies Einfall gewesen. Damit ließ sich mühelos erklären, warum die beiden alles gemeinsam taten, und Yuas hingebungsvolle Anbetung Mavras mochte als Verhalten einer Liebenden abgetan werden.
Ihr Zimmer war eine freudige Überraschung; es enthielt ein riesiges, weiches Bett, eine Unterhaltungskonsole, eine vielseitige Trag-Bar und eine Wähl-die-Mahlzeit-Speiseanlage. Im vierten Stock gelegen, besaß das Zimmer ein Fenster mit Vorhängen, durch das man einen Teil der Stadt sehen konnte.
Yua zeigte Mavra begeistert einige Sehenswürdigkeiten.
»Da oben, bei den Bergen, befanden sich die ursprünglichen Häuser der Ersten Mütter, jetzt ein Nationalheiligtum. Am Fuß des Berges steht der Muttertempel, Sitz der jetzt interplanetarischen Religionsgemeinschaft und der Theokratie von Olympus, während drüben rechts das große, kubische Gebäude steht, wo ich aufgewachsen bin.«
Am nächsten Morgen wollten sie die Stadt besichtigen und dann den Muttertempel selbst besuchen. Mavra wußte selbst noch nicht genau, was sie tun wollte, wenn sie dort ankam, beschloß aber, das Problem zu überschlafen.
Yua wählte Speisen und Getränke für sie, während die Sonne, von geisterhafter, rot-oranger Farbe, hinter den Bergen verschwand. Dann legten sie sich auf das Bett, das trotz ihrer Schweife breit genug war, und das Bequemste, was Mavra während der ganzen Reise gesehen hatte. Sie spürte plötzlich, daß sie starke erotische Gefühle beschlichen. Irgendeine Zutat im Essen oder Trinken, vermutlich. Sie wehrte Yuas Avancen mühsam ab und schlief.
Sie wurden von einem Summton geweckt. Er war laut und beharrlich, wie man sich das von Weckern wünscht, wenn das Aufstehen unumgänglich wird. Yua stöhnte, schaute zu Mavra hinüber, lächelte strahlend und stand auf.
»Die Tür. Ich mach’ das schon«, sagte sie.
Mavra hatte Probleme. Der Sexualtrieb war eher noch stärker geworden; wenn das nicht nachließ, würde er nicht zu unterdrücken sein. Andererseits — wer konnte wissen, daß sie hier waren — und warum wurden sie von jemandem geweckt?
Dieser Jemand erwies sich als ein Zimmerservice-Roboter, beladen mit einer Reihe seltsam aussehender, aber enorm appetitanregender Frühstückszutaten nebst eine Flasche dessen, was auf Olympus als Champagner galt.
Mavra stand auf.
»Was?«fragte sie. »Das haben wir nicht bestellt.«
»Mit einer Empfehlung des Hotels«, tönte der Roboterkellner. »Alles frisch, keine synthetischen Stoffe. Wir haben uns auch erlaubt, Sie im Geburtstempel anzumelden. Ein zusätzlicher Service des Hotels«, fügte er hinzu, und seine Stimme klang beinahe stolz. »Es ist jetzt nullachtnull Uhr; Ihr Termin ist auf nullzehnnull Uhr bestimmt. Holen Sie die Karte beim Empfang ab und nehmen Sie Tram einssiebenundachtzig. Vielen Dank.«Er löste sich vom Serviertisch und rollte hinaus.
Die Tür schloß sich automatisch hinter ihm.
»Die unterstellen aber allerhand, wie?«sagte Mavra verstört.
»Was wollt Ihr tun?«fragte Yua. »Man wird sehr argwöhnisch werden, wenn wir den Termin nicht einhalten.«
Mavra nickte. Verdammt, bin ich wild! dachte sie. Sie freute sich beinahe darauf! Aber Yua hatte natürlich recht. Nicht hinzugehen, mochte Argwohn erregen und ihre Aufgabe erschweren. Die Prozedur würde ohnehin ziemlich sachlich ablaufen und schnell vorbei sein; anschließend konnten sie den Muttertempel aufsuchen.
Yua schien die Aussicht zu erregen. Mavra seufzte und setzte sich an den Tisch. Das Essen war mit Aphrodisiaka stark versetzt, aber was macht das schon, dachte sie. Heute erfahre ich wenigstens, wo die Männer sind.
Wenn eine Rasse bis zum nten Grad körperlich identisch ist, fällt es ausgebildeten Biochemikern leicht, beliebige physiologische Merkmale, die gewünscht werden, massenweise hervorzubringen. Die Tatsache, daß an der Bevölkerung von Olympus so wenige Modifikationen vorgenommen worden waren, mußte man ihrer Führung gutschreiben, wenn es eine solche gab. Bei der Fortpflanzung überließ man dem Zufall jedoch nur wenig. Eine Kombination von Anregungsmitteln, abgestimmt auf den olympischen Körper, hatte Mavra und Yua genau in den erwünschten körperlichen und gefühlsmäßigen Zustand versetzt. Bis sie den Geburtstempel erreichten, war den beiden Frauen kaum ein nicht-sexueller Gedanke möglich, und der innere körperliche und geistige Druck war schier unerträglich.
Man hatte sie offensichtlich erwartet, und sachliche Techniker führten sie ohne lange Umschweife hinein. Sie wurden zu getrennten Liften geführt, deren Kabinen jeweils nur eine Person aufnehmen zu können schienen. Die Tür schloß sich hinter beiden, und sie sanken, wenn auch langsam, hinunter. Mavra kam sich vor, als nähme man eine ungeheure Last von Körper und Geist.
»Tut mir leid, Mavra«, drang Obies Stimme zu ihr. »Ich möchte Sie nicht gegen Ihren Willen dazu drängen.«
Obie! dachte sie erbost. Was, zum Teufel…
»Ich bin an Ihr Gehirn und das zentrale Nervensystem angeschlossen, versteht sich«, erwiderte der Computer. »Es tut mir leid. Sie müssen verstehen, das sind meine Kindeskinder. Ich habe sie geschaffen — muß Bescheid wissen.«
Die ganze Sache mit der Geburt — das hast du veranlaßt! Du hast es auf irgendeine Weise arrangiert!
»Damit geht nicht viel Zeit verloren«, entschuldigte sich Obie. »Ich muß sehen, wie die Männer sind. Ich habe nichts einprogrammiert, um sie anders zu machen.«
Nun, wenn sie nicht künstlich befruchten, was ich nicht glaube, werde ich binnen Sekunden einem wildgeilen Mann gegenüberstehen, und das verdanke ich dir. Hol mich hier heraus!
»Ich bin überzeugt davon, daß Sie damit fertig werden.«
Obie — mach so etwas ohne mein Wissen oder meine Erlaubnis ja nicht wieder, hörst du? Sie war von kalter Wut erfüllt.
Es gab eine Pause, dann erwiderte die ferne Maschine ein wenig zerknirscht: »Gut, Mavra.«
Sie hatte solche Gedankenverbindungen schon oft erlebt, aber nie unter vergleichbaren Umständen, und nicht, wenn sie nicht vollständige Kontrolle über sich hatte.
Die Tür öffnete sich auf ein Schlafzimmer; der ganze Boden war das Bett. Schön eingerichtet, mit sanfter, indirekter Beleuchtung ausgestattet, leise Musik, süßer Duft, und überall Kissen. Auf der anderen Seite lag ein olympischer Mann.
Er sah aus, wie sie und Obie erwartet hatten — die Verkörperung der Männlichkeit, unglaublich gutaussehend und dazu noch muskulös, genau so, wie Obie vor so vielen Jahrhunderten nach Ben Yulins Anweisungen den Entwurf ausgeführt hatte.
Sie ging wachsam auf den Mann zu und versuchte, einen Weg zu finden, der die Situation bereinigte.
»Hallo«, grüßte er sanft und mit sinnlicher Stimme. »Bitte, komm her und leg dich zu mir.«
»Ihr Hypnomittel wirkt bei Olympiern«, versicherte ihr Obie.
Sie waren dank Obie gegen fast jedes Gift immun, aber da er sie geschaffen hatte, wußte er natürlich, wie seine eigenen Maßnahmen zu umgehen waren.
Sie bewegte kleine Muskeln in den Fingerspitzen und spürte, wie das Toxin aus winzigen Drüsen in die nadelartigen Röhrchen quoll, die Obie unter ihre Fingernägel praktiziert hatte. Das gab ihr Sicherheit; sie konnte wieder Herrin der Lage sein.
Nervös, als stünde sie immer noch unter dem Einfluß der Aphrodisiaka, ging sie zu ihm, legte sich hin und umschlang ihn mit den Armen, wie er es erwartete. Sie schob kleine Nadelspitzen in seinen Rücken, ohne daß er es auch nur bemerkte. Innerhalb von Sekunden war er in Trance. Sie ließ ihn los, setzte sich auf und befahl ihm, dasselbe zu tun. Er gehorchte.
»Wie heißt du?«
»Doney«, erwiderte er langsam, die Augen geschlossen.
Mavra nickte zufrieden.
»Wie lange bist du schon hier, Doney?«Sie versuchte, ihre eigene Neugier ebenso zu befriedigen wie die von Obie.
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Lange Zeit.«
»Wie alt bist du?«
Er wußte es nicht.
»Tust du außer dieser Sache noch etwas anderes?«
Er war trotz der Hypnosedroge überrascht.
»Was tun Männer sonst? Dafür kommen wir auf die Welt.«
Der Rest des Verhörs legte das Verhaltensschema für die olympischen Männer ziemlich klar. Sie wurden vom Tempel aufgezogen, nur zu einem einzigen Zweck. Von der Außenwelt wußten sie überhaupt nichts, ja, nicht einmal, daß es eine solche gab. Sie hatten eine sorgenfreie, wenn auch abgeschiedene Kindheit, voller Spielsachen, Spiele, Sport und wenig anderem. Man brachte ihnen Lesen und Schreiben nicht bei, nicht einmal die einfachsten Rechenarten. In der Pubertät lehrte man sie die für ihre Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse. Ansonsten blieben sie Kinder, trieben Sport und Spiel in einem großen Spielplatz mit Turnanlagen. Selbst ihr Wortschatz wurde sorgfältig kleingehalten; jeder ihrer wachen Augenblicke war vom Tempel programmiert. Sie stellten nichts in Frage, machten sich nie über irgend etwas Gedanken. Die Überlegenheit der Frauen in allen Beziehungen wurde nie in Zweifel gezogen; Männer existierten zum Dienen und Bedienen, zu nichts anderem.
Mavra fand das abstoßend. Obie versuchte, die Situation zu analysieren.
»Vergessen Sie nicht, daß Ihr Großvater eine Frau war, die Frauen schätzte, um durch Nathan Brazil dann zu einem Mann und vom Schacht wiederum zu einer Yaxa gemacht zu werden — zum Mitglied einer Schmetterlingsrasse, die ausschließlich weiblich war und Männer nur als hirnlose Sexmaschinen kannte. Die Frühkultur hier war ausnahmslos weiblich, die dominierenden Persönlichkeiten sind dank der Schacht-Welt extrem weiblich orientiert gewesen. Und die beiden männlichen Kinder waren natürlich wichtig; sie mußten geschützt werden. Leicht zu sehen, wie so ein System entstehen konnte.«
Ich finde das abscheulich, gab Mavra zurück. Das ist nicht anders als in den Prostitutions-Häusern der Partei, in denen Frauen als Huren großgezogen wurden.
»O gewiß«, bestätigte Obie. »Ich habe das nicht gebilligt, sondern nur festgestellt, wie ein derartiges System sich unter den Umständen der Gründung dieses Planeten logisch entwickeln konnte. Aber faszinierend ist das doch.«
Wir sollten etwas dagegen tun! dachte Mavra entrüstet.
»Wir könnten nicht viel tun, wenn ich nicht hergehen und den ganzen Planeten ummodeln soll«, antwortete der Computer. »Außerdem befassen wir uns jetzt mit der praktischen Vernichtung des ganzen Kom-Bundes und vielleicht der gesamten Wirklichkeit. Lassen Sie Olympus und seine Gesellschaft sein; was spielt das für eine Rolle?«
Darauf gab es nun wirklich keine Antwort, und Mavra ließ das Thema auf sich beruhen.
Wie lange soll ich hierbleiben? fragte sie mehr sich selbst als Obie.
Der Computer antwortete trotzdem.
»Ungefähr eine Stunde — geben Sie dem Burschen die Erinnerung an ein glückliches Zusammensein, und versetzen Sie ihn in Schlaf! Ich gebe Ihnen Bescheid, wann es Zeit ist, zu gehen.«
Sie tat es und war bei den hypnotischen Erinnerungen, die sie einprägte, besonders einfallsreich. Bald schlief er glücklich, ein Kissen wie einen Teddybär umarmend, und lächelte.
Sie verbrachte die restliche Zeit mit der Planung neuer Schritte zusammen mit Obie.
»Gehen Sie zum Muttertempel«, schlug er vor. »Wir müssen mit der obersten Sprosse der politischen Leiter sprechen, wer immer das sein mag. Es deutet manches daraufhin, daß eine bestimmte Person alles entscheidet. Stellen Sie fest, wer das ist. Ich komme auf jeden Fall mit.«
Die Stunde verging langsam.
Yua strahlte; sie schien geraume Zeit, nachdem sie den Geburtstempel verlassen hatten, wie betäubt zu sein. Sie fuhren mit einer Tram zum Muttertempel, dessen Türme in der Ferne zu sehen waren.
»Wem erstatten Sie Bericht?«fragte Mavra.
»Der Oberin«, antwortete Yua. »Sie ist eine Athene«, fügte sie ein wenig angewidert hinzu.
»Aber wer erhält ihren Bericht? Ich meine, wer hat hier das Sagen?«
»Zuletzt wohl die Heilige Mutter«, gab Yua zurück. »Ich habe sie nie gesehen.«
»Aber sie ist im Muttertempel?«
»So heißt es.«
Der Muttertempel war eindrucksvoll; obwohl nicht höher als die anderen Gebäude, war er erbaut wie eine mittelalterliche Burg aus schimmerndem Metall mit einer Vielzahl an Türmen und Zinnen. Nachts wurde er von bunten Scheinwerfern angestrahlt, aber selbst mittags wirkte er imposant.
Man stieg eine unendlich lange Steintreppe hinauf; das Gebäude selbst war verankert und ruhte am Urgestein der Berge rings um die Stadt.
Auf der rechten Seite konnten Mavra und Yua den Pilgerpfad sehen, der zur Stätte der ersten Siedlung führte. Der Weg schien nicht allzuweit zu sein, und Mavra schlug vor, den Besuch zu unternehmen, bevor sie den eigentlichen Tempel betraten. Die Olympier mochten Obies Kinder sein, aber die dominierenden Ersten Mütter waren Mavra Tschangs Großeltern gewesen.
Der gut instand gehaltene Steig war gesäumt von Schildern, Schaustücken und bildlichen Darstellungen, welche die Gründungsgeschichte von Olympus erzählten.
Die frühen Hütten waren in der Tat primitiv; Mavra vermutete, daß sie nicht so einfach hätten sein müssen. Die Schlichtheit war offenbar ein bewußt unternommener Versuch gewesen, den Aufbau einer neuen Rasse und Kultur von Grund auf durchzusetzen, mit möglichst wenig Versuchung durch die Kom-Welten. Die Ersten Mütter hatten sofort erkannt, daß sie nur die Gestalt wunderschöner, menschlicher Frauen trugen, daß sie innerlich, biologisch und in anderer Hinsicht, eine fremde Rasse waren und in der damals völlig menschlichen Kom-Umwelt als Mißgeburten betrachtet werden würden. Aber in einer Hinsicht hatten sie sich getäuscht; geistig waren sie über die Menschheit hinausgewachsen, und das trugen sie mit sich.
Über ihnen, in Stein gehauen und vergoldet, standen die Namen der elf Ersten Mütter. Die meisten waren Mavra nicht vertraut, weil sie Flüchtlinge von Neu Pompeii gewesen waren, aber da standen auch Kally ›Wuju‹ Tonge und Vistaru, ihre Großeltern, neben Dr. Zinders Tochter Nikki und Nikkis Tochter Mavra. Und nach den elf Namen kam noch ein weiterer, abgesetzt und dick mit Gold umrandet.
MAVRA TSCHANG TONGE stand da.
»Na, hol mich der Teufel«, sagte Mavra halblaut. »Hol mich der Teufel, wenn mir nicht ganz seltsam zumute wird.«
Yua sah sie erstaunt an.
»Aber das seid Ihr, nicht wahr?«ächzte sie. »Darauf bin ich einfach nicht gekommen!«
»Bringen wir das hinter uns«, sagte Mavra knapp. Sie ging den Weg hinunter, und Yua folgte ihr. Äußerlich wirkte Mavra wieder völlig sachlich.
Obie? Wo bist du jetzt?
»In diesem System gibt es viel Raumschutt«, antwortete der Computer sofort. »Ich bin gut getarnt, aber in Reichweite.«
Hast du mich geortet? Sie stieg die lange Treppe zu den Türen des Muttertempels hinauf. »Ich bin eingepeilt«, versicherte Obie. »Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.«
Olympierinnen stiegen die Treppe hinauf und hinab und gingen bei den großen Toren hinaus und hinein. Die meisten waren geschweifte Aphrodites, eine oder zwei aber schweiflose Athenen, in Tempelgewänder gekleidet.
Das Innere des Muttertempels hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Aufenthaltsraum eines Raumflughafens als mit einem religiösen Zentrum; von der Decke eines großen Saales hing in der Mitte ein kompliziertes Modell der Schacht-Welt, und auf den Mosaikfliesen an Boden und Wänden waren zahllose, fremde Wesen dargestellt. Viele Eingänge und Korridore führten vom Saal hinaus, vor jedem stand ein Empfangstisch, besetzt mit einer Priesterin.
Yua ging fast durch den ganzen Saal, bevor sie an einen der Tische trat, sich mit gekreuzten Armen verbeugte und die dort sitzende Aphrodite begrüßte.
»Yua von Mendat zu Ihrer Heiligkeit«, sagte sie.
Die Empfangspriesterin nickte kurz und blickte auf eine Liste.
»Sie sind früh zurück, Hohepriesterin. Wir haben nichts von Ihrer Rückkehr erfahren.«
»Ich erstatte nur Ihrer Heiligkeit Bericht über Besprechungen mit der Kom-Regierung«, sagte Yua ein wenig eisig. »Sie wird mich empfangen.«
Die Priesterin zog ein wenig die Schultern hoch.
»Ich sage Ihrer Heiligkeit, daß Sie hier sind.«Sie sah Mavra an. »Ja?«
»Die Schwester gehört zu mir«, sagte Yua schnell, »und hat mit dem Bericht zu tun. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
Die Priesterin zog die Brauen ein wenig hoch und tastete Yuas Code ein. Nach wenigen Sekunden leuchtete ein grünes Licht auf.
»Ihr könnt eintreten«, sagte sie. »Empfangsraum Drei rechts.«
Als sie sich dem betreffenden Raum näherten, glitt die Tür automatisch zur Seite. Im Inneren gab es zwei Steinbänke ohne Rückenlehnen fast in der Mitte des Raumes, und einen kleinen Stuhl aus Kunststoff für die menschliche Gestalt, ein wenig erhöht, den Bänken gegenüber. Außer diesen Möbelstücken gab es nur einen kleinen Tisch neben dem Stuhl.
Mavra und Yua saßen kaum, als hinter ihnen die Tür aufging. Sie standen auf und drehten sich um, als eine Olympierin in einem scharlachroten, bodenlangen Gewand zum Stuhl ging und sich darauf niederließ, damit beweisend, daß sie keinen Schweif besaß. Unter dem Arm trug sie Akten, die sie auf den Tisch legte.
»Hallo, Yua«, sagte sie. »Und wer ist das?«
»Ich bin eine Spionin«, sagte Mavra, bevor Yua antworten konnte. »Ich bin Mavra Tschang.«
Die Athene wirkte ein wenig verblüfft.
»Was soll das heißen?«fauchte sie. »Sind Sie verrückt?«
Obie? Hast du sie?
»Kein Problem, Mavra.«
Ein violettes Leuchten umgab die Athene. Sie schien aufzufunkeln, dann erlosch das Licht plötzlich.
Die Athene stand auf, lächelte die beiden an, verbeugte sich mit auf der Brust gekreuzten Armen und fragte leise:»Wie kann ich zu Diensten sein?«
Yua war starr vor Staunen. Da sie von Mavras Verbindung mit Obie nichts wußte, nahm sie das als weiteren Beweis dafür, einer Göttin gegenüberzustehen.
»Wer führt das Kommando über Olympus?«fragte Mavra.
»Natürlich die Heilige Mutter«, erwiderte die Athene.
»Sie hat hier die eigentliche, absolute Macht?«
»Gewiß. Wir gehorchen alle der Heiligen Mutter.«
»Ist sie hier im Tempel?«
»Immer.«
»Ich wünsche so rasch wie möglich eine Audienz. Können Sie dafür sorgen?«
»O ja, gewiß, obwohl das keineswegs angemessen ist. Aber ich brauche einen Grund, den ich ihr nennen kann.«
Daran hatte sie bereits gedacht.
»Sagen Sie ihr, daß Mavra Tschang Tonge von den Toten zurückgekehrt ist, um Nathan Brazil zu finden!«
Die Athene kam bald zurück.
»Bitte, folgt mir!«
Sie gingen zu einem Lift. Mavra sah an den Knöpfen, daß es zehn Stockwerke gab — vermutlich fünf über und fünf unter dem Grund. Die Athene betätigte keinen; die Tür schloß sich, und der Lift setzte sich von selbst in Bewegung. Die Etagenknöpfe flammten auf, bis sie den untersten erreichten — und sie fuhren noch an die dreißig Meter tiefer hinab.
Die Tür glitt zur Seite und gab den Blick auf eine trüb beleuchtete Kammer frei. Sie war rund, die Wände bestanden aus Kunststoff.
»Kehrt zur Oberfläche zurück und wartet auf weitere Anweisungen«, sagte Mavra zu den beiden Olympierinnen. Sie verbeugten sich und gehorchten.
Plötzlich schien im Raum Licht aufzuflammen.
»Sie beschießen Sie mit Hypnosedrogen«, ertönte plötzlich Obies Stimme. »Ich neutralisiere sie.«
Das war eigentlich naheliegend, dachte Mavra. Als Führerin mußte man Eindruck schinden.
Dann kam die Stimme, unglaublich alt, unfaßbar müde und völlig nicht-menschlich.
»Wer und was bist du?«fragte sie.
»Computerverstärkte Gedankenwellen, erste Stufe«, teilte Obie mit. »Das gehört nicht zur Darbietung. Dafür ist es zu komplex.«Er schien verwirrt zu sein, was Mavra gar nicht gefiel.
»Ich bin Mavra Tschang«, erklärte sie der Stimme.
»Mavra Tschang ist tot«, erwiderte diese. »Mavra Tschang ist seit mehr als sieben Jahrhunderten tot.«
»Mavra Tschang ist nicht gestorben«, erklärte sie der unsichtbaren Person. »Niemand kann Mavra Tschang töten.«
»Du bist wahnsinnig, mein Kind. Erlebe den Geist deiner Heiligen Mutter!«
Plötzlich spürte sie Qual, ungeheure Kopfschmerzen und ein Sengen im ganzen Nervensystem. Mavra stürzte in Agonie zu Boden. Sie konnte spüren, wie die andere, die Präsenz, langsam eindrang, ihren Geist überwältigte.
Obie, der ebenfalls überrascht worden war, reagierte nun schnell, ergriff Gegenmaßnahmen und zwang die fremdartige Präsenz hinaus. Es war kein andauernder Kampf; als Obie die Art des geistigen Überfalls analysiert hatte, konterte er auf der Stelle. Mavra war frei und blieb erschöpft am Boden liegen. Schließlich stand sie langsam auf und schaute sich um.
»Siehst du?«schrie sie. »Reden wir miteinander oder soll ich nun in deinen Geist eindringen?«Zorn war stets ein gutes Anregungsmittel. »Wer wagt es, in Mavra Tschang einzudringen?«
Obie spendete Beifall.
»Brav, Mädchen! Ganz ruhig, dann bringe ich Sie wieder in Ihre ehemalige Gestalt! Da werden die schön erschrecken!«
Sie wußte, daß Obie in sie hineingriff, daß sie von dem violetten Licht eingehüllt wurde, aber die Umstülpung ging sehr rasch vor sich und wurde ihr nicht deutlich bewußt. Sie wußte aber, daß ihre geschmeidige, schwarzgekleidete, menschliche Form von der oder den unsichtbaren anderen gesehen wurde. Wenn sie historische Unterlagen besaßen, wußten sie jetzt, wen sie vor sich hatten.
Sie konnte die Verblüffung in der fremden Stimme-Nichtstimme hören, als sie ächzte:»Sie sind wirklich Mavra Tschang!«
»Die bin ich«, sagte sie. »Und wer bist du?«
Die Stimme schwieg kurze Zeit, dann sagte sie:»Ich bin Nikki Zinder.«
Nun war Mavra selbst völlig entgeistert.
»Augenblick mal! Ich weiß, daß es mich noch gibt — aber das ist einfach nicht möglich.«Ein Computer, vermutete sie. Ein Computer, darauf programmiert, sich für Nikki zu halten. Eine Maschine, die sich für eine längst gestorbene Person hält.
Wie geht man mit einer solchen Maschine um?
»Neu Pompeii ist zerstört worden«, sagte die Stimme. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Obie wurde vernichtet. Die historischen Aufzeichnungen bestätigen das. Sie können nicht Mavra Tschang sein.«
»Obie lebt. Ich bin geblieben. Wir haben nur den Eindruck erweckt, wir wären vernichtet worden. Du kennst Obies Kräfte, du weißt, daß er das kann, daß ich also auch noch am Leben sein kann. Du hast Nikki Zinders Erinnerungen — du mußt wissen, daß es so sein kann.«
Es blieb kurze Zeit still.
»Sie reden so, als wäre ich nicht die, die ich bin«, sagte die Stimme dann. »Ich sage Ihnen, daß ich Nikki Zinder bin. Ich bin am Leben geblieben und jetzt dieser Maschine verbunden. Aber ich bin keine Maschine. Mein Geist und meine Seele leben, werden durch sie erhalten und verstärkt.«
»Aber warum? Warum Sie, Nikki?«sagte Mavra. »Warum nicht die anderen?«
»Die anderen sind wie ich alt geworden. Als feststand, daß sie sterben würden, als Touri wirklich starb, versammelten sie sich und trafen ihre Entscheidung. Sie wollten ein markovisches Tor finden, sie wollten auf die Schacht-Welt zurückgehen und wiedergeboren werden. Sie gingen alle, und soviel ich weiß, hatten sie Erfolg, meine Tochter eingeschlossen.«
»Aber nicht Sie?«
»Ich nicht. Wir hatten erst vor knapp zwei Jahrhunderten angefangen. Die Bevölkerung näherte sich gerade erst der Lebensfähigkeit. Die Pallas brauchten Führung, um die richtige Gesellschaft aufzubauen, eine Führung, die nur wir von den Ersten Müttern ihnen geben konnten. Wir besaßen die erforderliche Technologie. Ich schlug vor, daß man uns Erste Mütter am Leben erhielt, kybernetisch mit Computern verbunden, die uns unbegrenzt bewahren konnten. Die anderen weigerten sich, aber sie konnten mich nicht zwingen, sie zu begleiten. Seither bin ich geblieben; ich habe Wachstum und Entwicklung meines Volkes gesteuert und sie durch die Gründung der Gemeinde geführt. Die Größe, die Sie heute sehen, ist mein Werk.«
Obie?
»Ich fürchte, es ist wahr, Mavra. Es wäre mir anders lieber. Das erklärt die abseitige Kultur. Gehirn und Seele können so erhalten werden, wie sie sagt, aber die Hirnzellen regenerieren sich nicht. Sie muß senil sein, Mavra — senil, vermutlich wahnsinnig, und trotzdem übt sie alleinige Herrschaft über ein Volk aus, das nichts ahnt. Spielen Sie lieber mit.«
Mavra wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Hören Sie, Nikki. Ihr eigenes Volk muß es Ihnen gesagt haben. Der Kom-Bund ist zum Untergang verurteilt, alles ist zum Untergang verdammt, durch dumme Leute, die die Forschungen Ihres Vaters mißbraucht haben. Wir müssen dem Einhalt gebieten, und das kann nur geschehen, wenn der Schacht der Seelen selbst repariert wird. Das kann nur Nathan Brazil tun, also arbeiten wir für eine gemeinsame Sache, Ihr und wir. Wir haben die Kom-Regierung veranlaßt, sich mit uns zusammenzutun; wir brauchen Ihr Volk für die eigentliche Arbeit. Wollen Sie mit uns zusammenwirken? Werden Sie die Zusammenarbeit befehlen?«
Nikki schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte die Stimme:»Ja, Mavra, Ihr werdet erhalten, was Ihr braucht. Die einzige Bedingung ist, daß Olympierinnen zugegen sind, wenn Nathan Brazil gefunden wird.«
»Damit können wir einverstanden sein, glaube ich«, erwiderte Mavra. »Wir halten es für möglich, daß die Sekten-Gemeinde ihn verschreckt hat, also müssen wir, wenn wir ihn finden, sehr vorsichtig sein, damit wir ihn nicht wieder verlieren. Ich gebe Ihnen aber mein Wort, daß Ihre Leute Zugang zu ihm haben werden.«
»Das genügt«, sagte die Stimme. »Gehen Sie jetzt. Der Befehl ist bereits erteilt.«
Eine Aufzugtür öffnete sich. Mavra drehte sich um und ging darauf zu, dann blieb sie stehen und blickte über die Schulter in den leeren Raum.
»Leb wohl, Nikki«, flüsterte sie und betrat den Lift. Die Tür schloß sich.
Auf der anderen Seite öffnete sich ein zweiter Aufzug, und zwei Athenen stiegen in ihren scharlachroten Priesterinnengewändern aus. Sie knieten nieder und erwarteten Befehle.
»Mit einem Computer wie Obie, den Kom-Archiven und unseren eigenen Anhängerinnen wird Nathan Brazil bald gefunden sein«, erklärte Nikki Zinder. »Aber seid vorsichtig. Habt Ihr gesehen, wie behext die Hohepriesterin Yua und die Erzpriesterin Tala sind?«
»Wir haben es gesehen, Heilige Mutter«, erwiderten sie.
»Unsere Rasse entstammt Obie, aber auf den Befehl des Bösen«, sagte Nikki. »Wir wissen nicht, was der Böse getan hat, während er Obie beherrschte, aber wir können sicher sein, daß er der letzte gewesen ist, der die Schöpfung meines Vaters beherrscht hat. Es ist also mehr denn wahrscheinlich, daß Obie immer noch den Willen des Bösen ausführt, denn als Maschine hat er keine andere Wahl. Mavra Tschang wurde beim Sturm auf den Bösen verwandelt und getötet; das weiß ich, weil ich zugegen war. Was wir gerade gesehen haben, war eine Konstruktion von Obie, und, wenn von ihm stammend, auch unter dem Bann des Bösen. Vergeßt nie, daß wir es mit dem Teufel in Menschengestalt zu tun haben; sorgt dafür, daß keine anderen unter den Bann geraten, der unsere beiden Schwestern erfaßt hat. Wir brauchen sie, um Nathan Brazil zu finden. Wir haben einen Pakt mit dem Bösen, aber der Teufel wird sein Wort nur halten, solange das seinen Bedürfnissen entspricht. Es gibt keine Ehre in ihm, kein Vertrauen, keine Güte. Überwacht das Unternehmen; tut, was verlangt wird, aber entzieht Euch der Beherrschung durch den Bösen, vertraut keinem, der ihr unterliegt, und sorgt dafür, daß, wenn Nathan Brazil gefunden ist, wir allein zu ihm gelangen. Ist das klar?«
»Ja, Heilige Mutter.«Sie standen auf und betraten den Lift.
Nikki Zinder, eingeschlossen in ihren Computer, war wieder allein. Trotzdem tönte die unheimliche Stimme weiter und lachte brüchig.
»O Böser!«sagte sie zu niemand. »Du willst Gott, den HERRN, gefangennehmen, damit du das Universum zerstören kannst! Aber das wird dir nicht gelingen. So, wie dein Ebenbild mich im männlichen Kind heimsucht und quält, so erscheinst du nun selbst, um mich zu überlisten! Das lasse ich nicht zu, niemals, niemals…«
Kurze Zeit herrschte in der Kammer Stille, dann sagte die geisterhafte Stimme im verlorenen, klagenden Ton eines ganz kleinen Mädchens:»O Papa, Papa! Ich sehn’ mich so nach dir…«