Mavra Tschang ging im großen Empfangsraum, wo sie fast den ganzen Nachmittag und einen großen Teil des Abends verbracht hatte, mit grimmiger, unglücklicher Miene hin und her.
Marquoz watschelte um die Ecke, blieb stehen, gähnte und starrte sie einige Augenblicke an.
»Wissen Sie, Sie sollten sich wirklich ausruhen und einen Bissen essen. Sie dürfen nicht mehr essen wie ein Vogel. Sie sind jetzt eine Rhone und brauchen sehr viel Energie.«
Mavra blieb stehen und sah ihn kurz an. Sie war müde und bleich; ihr Gesicht wirkte angespannt. Sie schien in den letzten Tagen zehn Jahre gealtert zu sein.
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie heiser. »Ich weiß nicht — das liegt wohl an all den Vorkommnissen. Alles hat sich verändert. Obie ist fort, obwohl wir hier noch bequem auf ihm sitzen; das Universum geht zugrunde — haben Sie sich wirklich überlegt, daß wir mit dem, was wir tun wollen, alles zerstören, was wir kennen? Und ich, nun, ich sitze fest in einer Nachbildung des alten Schacht-Körpers meiner Vorfahrin, aber ich empfinde nicht wie eine Rhone. Wissen Sie, wie das ist, wenn man sich nach einem Roastbeef oder dergleichen sehnt und erkennt, daß man nur Laub und Gras verdauen kann?«
»Sie tun sich nur selbst leid«, erwiderte der kleine Drache. »Ich weiß, wie das ist — aber nach allem, was ich weiß, paßt das nicht zu Ihnen. Ich habe gehört, daß Sie auf der Schacht-Welt in einen Krüppel ohne Hände verwandelt worden sind, und trotzdem haben Sie das überwunden und Ortega und alle anderen bei ihrem eigenen Spiel geschlagen. Was hat Sie so verändert?«
Sie dachte nach.
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht werde ich alt. Vielleicht bin ich in den Jahren mit Obie einfach dick und behäbig geworden.«
Zigeuner räusperte sich, und sie drehten sich um.
»Sie wissen, woran es liegt, wenn Sie es sich nur eingestehen«, sagte er.
Mavra sah ihn nur fragend an.
»Sie sind diesmal nicht der Chef«, sagte Zigeuner. »Sie führen nicht das Kommando, haben nicht einmal etwas zu sagen. Eine Rhone zu sein, hat Sie bei dem Entführungsversuch nicht gestört, weil Sie da zu befehlen hatten. Aber das ist nicht mehr der Fall. Sie sind nicht einmal ein vollberechtigter Partner. Bei Obie waren sie es nur, wann und weil er es ihnen erlaubte. Jetzt liegt alles in den Händen eines kleinen Mannes, den Sie nicht einmal kennen. Selbst auf der Schacht-Welt hat man Sie allein gelassen; Sie waren Herrin Ihres eigenen Schicksals. Jetzt sind Sie es nicht mehr. Das nagt an Ihnen. Sie müssen immer der General sein oder sich das wenigstens einbilden können.«
Sie ärgerte sich, weil sie im Inneren wußte, daß er recht hatte.
»Wer sind Sie, Zigeuner?«fragte sie. »Woher kommen Sie?«
Er lächelte.
»Ich könnte Ihnen einen langen Lebenslauf erzählen, aber auch dann wüßten Sie nicht, ob ich die Wahrheit sage. Was spielt das für eine Rolle? Keiner von uns kennt die anderen wirklich. Nehmen Sie Marquoz. Weshalb verläßt ein Mann sein Volk, lebt und arbeitet völlig abgeschnitten von der Umwelt und der Kultur, in die er hineingeboren wurde? Ich bin der Mann, der an jedem schäbigen Raumflughafen die Leute ausnahm, nie einen übers Ohr haute, der das nicht insgeheim wollte, aber alle, die es darauf anlegten. Ich bin derjenige, der nicht paßt, der Außenseiter, der einen Weg zum Überleben gefunden hat und das genießt. Frachterkapitäne sind ähnlich, glaube ich, ebenso Diebe und Geheimagenten und derlei Leute. Bei Marquoz bin ich mir nicht sicher, aber er ist ganz entschieden auch ein Außenseiter. Sie sind es. Die Besatzung hier — mehr oder weniger sind es alle. Deshalb sind wir hier und die da draußen.«Sein Ton wurde grimmig. »Deshalb überleben wir — und die nicht.«
Es blieb lange still.
»Ich glaube, ich gehe hinaus und fresse den Rasen ab oder sonst etwas«, sagte Mavra schließlich. »Es wird langsam Zeit, daß wir an die Arbeit gehen.«
Als sie in die große Halle zurückkam, stieß sie auf Nathan Brazil. Die Schneiderwerkstatt hatte ein schwarzes Pulloverhemd und Shorts gefunden, die ihm paßten, und ein Paar Plastiksandalen dazu. Seine Haare waren kurzgeschoren, und er war glattrasiert, nicht groß, höchstens 1,70 m, zierlich und mager, trotz kräftiger Schultern und starker, sehniger Arme.
Er sah sie an, nickte und lächelte schwach.
»Wie geht es, Urenkelin?«grüßte er leichthin.
»Ich lebe noch«, erwiderte sie kalt. Obie hatte in dieser Beziehung recht gehabt; sie waren einander zu ähnlich, um sich wohl zu fühlen, wenn sie beieinander waren.
»Überleben ist alles, wozu wir imstande sind«, gab er zurück. »Ich habe eine kleine Sitzung anberaumt, die anderen werden gleich kommen. Der Mangel an Material behindert mich sehr. Alles steckte in Obie. Wann sind Sie auf der Schacht-Welt gewesen?«
»Vor über siebenhundert Jahren«, erwiderte sie. »Wir haben dort gelegentlich ein wenig Ausschau gehalten, aber das war vor allem Obies Sache. Es ging ganz leicht. Zumeist hörten wir nur Sendungen ab. Ortega und Doktor Zinder hatten beide Sender, die uns erreichen konnten, aber Obie benützte sie nie. Wir waren von der Kom-Polizei angeblich zerstört worden. Obie fand, es sei für alle besser, wenn man ihn für tot hielt. Ich mag die Welt nicht, kannte Zinder kaum und bin Ortega nie begegnet — obwohl ich weniger Grund hatte, ihn zu mögen, als jeder andere.«
Brazil lächelte.
»Noch immer böse auf den alten Halunken? Ich dachte, Sie wären sich inzwischen klar darüber, daß Sie an seiner Stelle genau so mit ihm verfahren wären, wie er mit Ihnen. Ich würde dem alten Knaben aber nie unterstellen, daß er ein Gewissen besitzt.«
»Sie kennen Ortega?«fragte sie erstaunt.
Er nickte.
»Gewiß. Hab’ schon allerhand mit ihm erlebt. Er war das letztemal auf der Schacht-Welt, als ich mich dort aufhielt — zuerst mein Empfangskomitee, später dann mein Gegenspieler. Da hätte er schon tot sein sollen, aber auf irgendeine Weise muß er überlebt haben.«
»Irgendein magischer Zauber, wie ich hörte. Aber er ist Gefangener in Zone, obwohl er dort das Kommando führt.«
»Dann ist er sicher noch dort und hat noch mehr zu sagen«, stellte Brazil fest. »Das kann gut sein, oder es ist eine Katastrophe, und ich kann vorher nicht wissen, was. Verdammt! Das Schlimmste am Verlust von Obie ist, daß wir da völlig blind hineinfliegen. Ich werde von den Bedingungen auf der Schacht-Welt nichts wissen, bis ich dort bin. Ein echtes Kriegsspiel. Das habe ich nie gemocht.«
»Kriegsspiel?«
»Schach. Kennen Sie das Spiel? Nur sitzen die Gegenspieler Rücken an Rücken am Brett, und ein Schiedsrichter sagt einem, daß der Gegner einen zulässigen Zug getan hat. Aus den unzulässigen muß man entnehmen, wo die Figuren des Gegners stehen. Und wir haben hier keinen Unparteiischen.«
»Das klingt ganz so, als müßten wir auf der Schacht-Welt wieder einen Krieg ausfechten«, sagte sie ein wenig verwirrt. »Ich bin nicht sicher, daß ich mich hier schon auskenne.«
»Vermutlich wird es so sein«, sagte er und hob den Kopf. »Da kommen die anderen drei. Wenn alle es sich bequem machen, will ich erklären, worum es geht.«
»Zuerst wollen wir unsere eigene Lage genau festlegen«, begann Brazil. »Erstens muß ich von einem Sechseck im Süden der südlichen Halbkugel zu einer Avenue, einem Zugang zum Schacht der Seelen am Äquator. Der kürzeste Weg beträgt über viertausendneunhundert.«
»Aber warum so weit, wenn Sie entschuldigen?«unterbrach ihn Marquoz.
»Verständliche Frage. Ich vergesse immer wieder, daß Sie davon nichts wissen können. Nur Mavra und ich sind je dort gewesen, also muß ich aufs Wesentliche zurück. Die Schacht-Welt ist eine Konstruktion. Sie wurde vor knapp über zehn Milliarden Jahren geschaffen, von einer Rasse, die Sie als die Markovier kennen. Die Geschichte ist Ihnen bekannt — wir stoßen bei unserer Ausdehnung immer wieder auf die Überreste ihrer toten Planeten. Städte, ja, aber keinerlei künstlich angefertigte Gegenstände. Keine Maschinen, keine verdorbene Nahrung, keine Kunstwerke, nicht einmal Töpfereiwaren. Nichts. Der Grund ist ganz einfach. Die Markovier waren die erste Rasse, die sich aus dem Urknall, dem Beginn des Universums, entwickelte. Sie entwickelten sich in normalem Tempo, oder infolge der örtlichen Bedingungen vielleicht ein wenig schneller, und durchliefen die meisten Stadien, die unsere Völker durchgemacht haben. Bis das Universum knapp zweieinhalb Milliarden Jahre alt war — ich weiß, das hört sich nach einer langen Zeitspanne an, aber im kosmischen Maßstab ist das nicht der Fall —, hatten sie sich ausgebreitet und praktisch jeden Winkel ihrer Ecke des Alls erforscht. Da sie das Ende der Ausbreitung erreicht hatten, wandten sie sich nach innen und entwickelten schließlich einen Computer, dem sie alle geistig angeschlossen waren. Sie entfernten die Kruste von jedem ihrer Planeten und ersetzten sie durch eine gegossene, quasi organische Substanz mit einer Dicke von zwei Kilometern — dem Computer —, dann programmierten sie ihn mit praktisch allem, was sie wußten. Sie schlossen sich mit ihren Gehirnen an und — peng! Eine Zivilisation ohne Bedürfnis für irgend etwas Physisches. Sie brachten die alte Kruste über dem Computer natürlich wieder an und bauten Städte, mehr, um den körperlichen Raum, den Besitz jeder einzelnen Person zu umreißen, als zu irgendwelchen nützlichen Zwecken. Dann lehnten sie sich zurück und erträumten sich ihre Häuser — und der Computer schuf sie durch eine Umwandlung von Energie in Materie. Hunger? Stell dir einfach vor, was du möchtest, und der Computer serviert es dir. Kunst? Erschaffe in deinem Geist, was du willst, und der Computer macht es für dich wahr. Keine Bedürfnisse, keine Erfordernisse, das vollkommene materialistische Utopia.«
»Hört sich für mich sehr schön an, wenn auch ein wenig wie Zauberei«, warf Yua ein.
Brazil lachte leise.
»Zauberei? Zauberei ist, etwas zu tun, was der andere nicht kann. Wir können es noch nicht, also ist es Zauberei. Wenn wir lernen, wie es geht, und es begreifen, wird es Wissenschaft. Obie konnte es natürlich. Das entdeckte Gilgram Zinder, sein Erbauer — dieselben Grundlagen, nach denen die markovischen Computer arbeiteten. Obie war selbstverständlich nur ein winziger, primitiver Prototyp, verglichen mit den markovischen Anlagen, aber innerhalb seiner Grenzen konnte er dasselbe leisten. Zinder war nicht der erste, der auf die markovische Geschichte stieß, nur der erste, der in der Lage war, eine Maschine zu bauen, welche die Umwandlungen bewerkstelligen konnte.«
»Aber die Markovier sind alle tot«, sagte Zigeuner.
»Ja, alle tot«, sagte Brazil. »Sie wurden langweilig, fett, faul und stagnierten. Meine neueste Theorie ist die, daß sie zuviel Zeit angeschlossen an ihre Computer verbrachten und dazu neigten, mit einem Teil ihrer Anlagen zu verschmelzen. Dies zwang sie, sich der Tatsache zu stellen, daß sie das Ende des Weges erreicht hatten, alles getan hatten, wozu sie imstande waren, an dem Punkt angelangt waren, zu dem alle Rassen streben — und daß dort nichts war. Keine Herausforderung. Nichts, worauf man sich freuen konnte. Da dieser Gedanke sich bei den Markoviern im ganzen Universum verbreitet und Wurzeln geschlagen zu haben scheint, und zwar innerhalb relativ kurzer Zeit, wird diese Computervorstellung zur logischen. Sie verbrachten sehr wenig Zeit damit, Gott zu spielen, so hat es den Anschein. Ein paar Generationen, nicht mehr. Und dann beschlossen sie gemeinsam, alles hinzuwerfen und von vorne anzufangen.«
»Klingt logisch«, sagte Mavra. »Aber warum Theorien aufstellen? Sind Sie denn nicht dabeigewesen?«
Brazil hüstelte.
»Hm, äh, ja. Aber es — nun, es ist so lange her, daß meine Erinnerungen an diese Zeit praktisch nicht mehr vorhanden sind. Vieles beruht auf Neuentdeckungen. Haben Sie Geduld. Ich lebe schon schrecklich lange. Jedenfalls entschieden die Markovier, daß sie irgendwo einen falschen Weg beschritten hatten. Sie konnten sich nicht damit abfinden, daß das, was sie besaßen, alles war und für alles ein Ende bedeutete, weil es alles Bemühen, allen Fortschritt in ihren Augen witzlos erscheinen ließ. Das konnten sie nicht ertragen. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie es verpatzt hatten — und von neuem anfangen mußten. Das dazu gewählte Mittel war eigenartig«, fuhr Brazil fort. »Sie konnten nicht das ganze Universum auslöschen, ohne sich mit zu beseitigen. So schufen sie einen Computergiganten, groß wie ein Planet, einen, der von Hand gesteuert werden mußte. Sie waren große Wesen, die für uns echten Ungeheuern gleichen würden — wie riesengroße, pulsierende, ledrige Menschenherzen, auf sechs langen Tentakeln mit Saugnäpfen stehend. Sie waren jedoch insoweit unsere Vettern, als sie eine auf Kohlenstoff basierende Lebensform darstellten, deren Atmosphäre, wenngleich von der unseren verschieden, dieser so nahekam, daß wir sie atmen könnten. Sie gossen nun eine Kruste über diesen planetengroßen Computer, dieses Großgehirn, und teilten sie in fünfzehnhundertsechzig sechseckige Biosphären auf. Da man eine Kugel nicht mit Sechsecken bedecken kann, teilten sie an den Polen große Gebiete in Mini-Biosphären auf. Das sind Zone Nord und Zone Süd, die beiden Bereiche, wo die Wesen, die sie erfinden wollten, sich bequem versammeln und sich unterhalten, Handel treiben oder sonstwas tun konnten.«
»Wie kamen sie hinein und hinaus?«fragte Marquoz.
»Zone-Tore«, sagte Brazil. »Mitten in jedem Sechseck befindet sich ein Tor — es sieht aus wie ein großes, schwarzes Loch in Rechteckform. Es führt jeden aus dem Sechseck zu der Zone, die dazu gehört. In Zone gibt es viele kleine Tore, die eine Person nach Hause bringen. Aber während man sie in demselben Sinn, in dem Obie seine ganze Welt augenblicklich von einem Punkt zum anderen befördern konnte, als Materiesender betrachten kann, führen sie einen nur von der Heimat zu Zone und wieder zurück. Für allgemeine Beförderung sind sie nicht geeignet, obwohl sie unbelebte Gegenstände befördern können und damit für den Handel taugen.«
»Und sind die Sechsecke abgedichtet?«fragte Yua fasziniert.
»Nein, nein«, sagte Brazil. »Die Barrieren sind aus reiner Energie. Aber davon wissen Sie schon einiges. Ich habe jedenfalls einen Fußmarsch von fast fünftausend Kilometern vor mir, um den Äquator zu erreichen, der Nord und Süd trennt, damit ich zum Schacht der Seelen gelangen kann.«
»Der Schacht der Seelen«, wiederholte Marquoz. »Ein seltsamer Name.«
»Woher ›Schacht‹, weiß ich nicht«, sagte Brazil achselzuckend. »Das mit den ›Seelen‹ stimmt. In allem intelligenten Leben ist tief im Inneren irgend etwas, das man nicht quantifizieren kann, aber es führt einen halben Schritt über die Tiere hinaus. Wir nennen es Seele; darauf begründen sich Religionen, und ich habe Beweise dafür, daß es die Seele gibt.«Er schwieg kurze Zeit.
»Mir ist auf der Schacht-Welt aufgefallen, daß viele Rassen auf der südlichen Halbkugel zumindest von fern vertraut waren«, meinte Mavra schließlich. »Einige, natürlich nicht alle. Es gab große, biberähnliche Wesen, die es meinem damaligen Freund Renard zufolge in der menschlichen Mythologie gegeben hat. Zentauren seien da vorgekommen, sagte er, und geflügelte Pferde, sogar Agitar — ziegenbockähnliche, gottartige Wesen. Ich bin mir nie klargeworden, wieso.«
»Bis Sie hinkamen und man beim letzten der Rasse war, hatte man auch das Ende der Phantasie erreicht«, sagte Brazil. »Deshalb stahl man Ideen von den Tieren und Pflanzen anderer Sechsecke. Es gibt eben viele Ähnlichkeiten. Der Schacht sorgte schon dafür, daß sie sich einigermaßen unterschieden und außerhalb ihrer eigenen Sechsecke nicht fortpflanzen konnten. Das gilt übrigens auch für die meisten Mikroorganismen, so daß es auch keine weitverbreiteten Seuchen gibt.«Wieder blickte er versonnen vor sich hin.
»Der Schacht erkennt Sie«, sagte Mavra nach einiger Zeit. »Warum lassen Sie sich von ihm nicht einfach holen? Warum der lange Weg?«
»Vor allem deshalb, weil ich nicht mit ihm reden kann, bis ich darin stehe. Er hält mich für einen Techniker, also schickt er mich dorthin, wo ich hingehöre — in das menschliche Sechseck. Von da aus muß ich anfangen. Schlimmer noch, die Mächtigen auf der Schacht-Welt, vor allem jene, die Zugang zu ausführlichen Unterlagen haben, wissen das. Sie werden versuchen, mich daran zu hindern, daß ich den Schacht erreiche — und sie wissen, in welchem Sechseck ich bin. Das ist ein Nachteil für mich.«
»Weshalb sollten sie Sie aufhalten wollen?«fragte Yua. »Obie hat gesagt, daß die Schacht-Welt Ihr Eingreifen überstehen wird.«
»Das wird sie, vor allem deshalb, weil sie von einem eigenen Computer aufrechterhalten wird. Aber mein Eingreifen wird eben das ganze zivilisierte Universum auslöschen. Eine oder zwei — vielleicht auch mehrere — Rassen werden überleben, jene, die sich auf natürliche Weise entwickelt haben, statt durch den Schacht. Aber alle übrigen — dahin. Das Universum wird ein ganz schön abgestorbener Ort sein. Ich ziehe also den Stöpsel heraus. Ich repariere die große Maschine — oder vielmehr, ich lasse zu, daß sie sich selbst repariert, und helfe, wo ich kann.«Er sah die anderen an. »Also, wen nehme ich, um dieses Universum neu zum Keimen zu bringen?«
Sie schwiegen. Langsam begriffen alle, einer nach dem anderen, bis auf Yua, die etwas verwirrt wirkte.
»Sie brauchen die Schacht-Welt, um neue Keime auszubringen«, flüsterte Mavra.
Er nickte.
»Das wissen sie auch. Besser als wir. Für sie geht es um die Wahl: eigenes Überleben oder das der anderen. Sie unterscheiden sich nicht von allen anderen. Sie werden lieber überleben und das Universum hängen lassen wollen. Aber selbst wenn wir dafür einen Ausweg finden — und es gibt einen, aber keinen sicheren —, bleibt die eigentliche Furcht bestehen. Sobald ich im Inneren des Schachtes bin, wissen sie, daß ich jede Veränderung vornehmen kann, die ich will, Veränderungen nicht nur im Universum, sondern auch an der Schacht-Welt selbst. Sie werden nervös sein. Auch wenn ich das letztemal nichts gemacht habe, wissen sie nicht, ob ich diesmal nicht anders handele. Stellen Sie die Dinge einander gegenüber. Sie sind eine praktisch und logisch denkende Führerin. Würden Sie zulassen, daß ich in den Schacht gehe, wenn Sie, sobald Sie mich daran hindern, dafür sorgen können, daß alles beim alten bleibt? Ich glaube nicht.«
»Aber Sie sind unsterblich«, stellte Mavra fest. »Das müßten sie wissen. Sie können Sie nicht ewig festhalten.«
»Das brauchen sie auch gar nicht, aber sie wären bereit dazu«, erwiderte er. »Denken Sie an das, was man mit Ihnen gemacht hat. Das könnte man mit mir auch tun. Mich in ein Tier oder in irgendeine Pflanze verwandeln. Mich drogenbetäubt in einer Zelle festhalten, aus der ich nicht heraus kann. Gewiß, irgendwann könnte ich vielleicht ausbrechen, aber das würde Jahre dauern — Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren. Zu spät, als daß es unserem Vorhaben noch nützen würde. Nein, es gab schon das letztemal Schuftigkeit genug, als sie nicht wußten, wer ich war, sondern nur, daß wir in den Schacht gehen würden. Diesmal wird es die Hölle werden.«
»Sie meinen, es wird niemanden geben, der uns hilft?«sagte Yua gepreßt. »Alle werden gegen uns sein?«
Er schüttelte den Kopf.
»Manche werden helfen, entweder, weil sie das Problem begreifen, oder weil sie uns vertrauen. Andere werden heftigen Widerstand leisten. Der Rest wird zuschauen, sich aber den Gegnern dann anschließen, wenn sich unser Erfolg abzeichnet. Die Durchschnittsgeschöpfe werden natürlich besonders verängstigt sein. Damit wird der Weg zur Avenue also noch länger, weil ich kaum geradeaus gehen kann — und außerdem werde ich viel Unterstützung brauchen, um durchzukommen.«
Selbst Yua begriff, was er meinte.
»Die Gemeinde.«
Er nickte.
»Genau. Wenn wir bei jedem Schritt Verbündete und Kämpfer brauchen, müssen wir dafür sorgen, daß wir sie auch dort, wo wir sie brauchen, haben. Das wird der ›Heilige Kreuzzug‹ der Olympier sein — und ihr vier werdet helfen und, wie ich hoffe, führen. Ohne diese Verbündeten würden wir das Überraschungselement verlieren. Zone wird einen ganzen Schwarm von Leuten durch den Schacht trampeln sehen, und man wird erfahren, worum es geht. Sie können sich darauf verlassen, daß man mir auflauern wird. Wir können sie bestenfalls in Atem halten und aus dem Gleichgewicht bringen. Der Schacht neigt dazu, Neuankömmlinge gleichmäßig um jene Halbkugel zu verteilen, wo sie eintreffen. Wir kommen alle in den Süden, weil wir auf Kohlenstoff aufgebaut sind. Da gibt es also siebenhundertachtzig Sechsecke voll intelligenter Rassen — Pflanzen, diverse Tiere, Wasserwesen, Insektenwesen und Wesen, die nichts davon sind. Es gibt zwar große Unterschiede, beruhend auf der Größe der Bewohner und den Möglichkeiten des Sechsecks, aber wir können in jedem Sechseck von ungefähr einer Million Insassen ausgehen. Das sind im Süden rund siebenhundertachtzig Millionen Leute.«Er sah Yua an. »Und wie viele Olympier gibt es?«
Ihr Mund rundete sich.
»Über eine Milliarde«, stieß sie hervor.
»Eben. Und wenn wir nur die entschiedenen Anhänger der Gemeinde dazunehmen, jene, auf die wir uns verlassen können? Nichts von dem Drill-Quatsch — sie müssen es wirklich glauben, weil der Schacht alle künstlichen Hemmungen beseitigt.«
»Vielleicht noch eine Million, vielleicht mehr«, gab sie achselzuckend zurück.
»Gut. Nehmen Sie dazu noch bestimmte andere, die ich einlade und zulasse. Ich glaube, wir können eineinhalb Milliarden Leute auf die Schacht-Welt schaffen. Das ist weit mehr, als sie auf Dauer verkraften kann, aber kurzfristig sollte es keine Probleme geben. Wenn alle durchkommen, sind wir den Einheimischen zwei zu eins überlegen — und die Überlebenden werden die prototypischen Seelen für die Neuausbreitung sein. Wir bieten ihnen einen Teil des Erhofften — die Chance, sich ein eigenes Paradies zu schaffen.«
»Die Einheimischen sind sicher nicht dumm«, sagte Zigeuner unvermittelt.
»Wie?«Brazil zog die Brauen hoch.
»Nun, angenommen, Sie sind ein Potentat der Schacht-Welt, Sie hören von der Geschichte und waten plötzlich in fanatisch Bekehrten. Ich weiß nicht, was Sie tun würden, aber wenn die Leute wirklich so grimmig und ängstlich sind, wie Sie sagen, würde ich in Zone, oder wo sie sonst hereinkommen, meine eigene Armee oder sonst was aufstellen — und sie so schnell, wie sie hereinkommen, töten.«
Brazil lehnte sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und dachte darüber nach.
»Ich werde wohl weich. Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen. Sie haben natürlich recht. Dagegen können wir aber wenig tun. Was zu unseren Gunsten spricht, ist, daß sie einander noch weniger vertrauen als uns. Es wird eine Weile dauern, bis sie begreifen, noch länger, bis sie sich zusammentun und sich für ein logisches Vorgehen entscheiden, und außerdem brauchen sie eine Mehrheit der Zone-Rassen, um die Regeln aufzuheben und dort eine bewaffnete Streitmacht zu halten. Das wird Zeit in Anspruch nehmen. Sie werden von Neuzugängen überflutet sein, bevor sie wirksame Maßnahmen ergreifen, und dann könnte es schon zu spät sein, um uns aufzuhalten. Aber den Tatsachen müssen wir ins Gesicht sehen. Die häßlichste davon ist, daß das Vorgehen Pogrome auslösen wird. Man wird alle Neuzugänge töten, sobald sie in den jeweiligen Ländern auftauchen. Dazu bedarf es keiner Abstimmung.«Er seufzte. »Ich habe nicht behauptet, daß das Unternehmen leicht durchzuführen sei. Wir mögen durchaus scheitern. Das einzige, was ich sagen kann, ist, daß wir das Ganze entweder sofort abblasen oder es jetzt versuchen. Ihr seid der Rat für dieses Vorhaben. Auf euch wird der Großteil der Verantwortung lasten. Was sagt ihr? Yua?«
»Dafür«, sagte sie sofort.
»Zigeuner?«
»Ich sterbe lieber im Kampf, als von einem irren Riß im Weltraum ausgelöscht zu werden.«
»Marquoz?«
»Das fängt langsam an, interessant zu werden, eine echte Herausforderung«, antwortete der kleine Drache. »Ich würde um keinen Preis der Welt darauf verzichten.«
»Mavra?«
Sie seufzte. »Bringen wir es hinter uns. Wenigstens werde ich nicht als Rhone sterben müssen.«
»Also gut. Ihr vier geht als erste hinein. Obie hat angedeutet, er verfüge über eine Möglichkeit, die Auswahl des Schachtes zu beeinflussen. Ich kann also davon ausgehen, ihr vier werdet so placiert, daß ihr mir und euch am nützlichsten seid. Ich weiß nicht, ob Obie dabei hundertprozentig erfolgreich sein wird, aber ich rechne damit, daß ihr, bis ich hinkomme, eure Neuzugangs-Armeen um euch geschart habt. Nachdem ich euch Zeit genug gelassen habe, euch an eure neuen Körper und Umwelten anzupassen, schicke ich die Horden los. Das Geschrei wird von Anfang an riesengroß sein. In jedem Vorgarten wird ein neues Wesen hocken. Ihr werdet merken, wann es soweit ist. Teilt es euch richtig ein — schlagt nicht zu früh los, sonst kommen euch die Einheimischen auf die Schliche, bevor ihr stark genug seid, sie zum Teufel zu schicken. Dann, und erst dann, erhebt ihr euch, gebt euch zu erkennen und sammelt die Neuzugänge um euch. Spätere Neuzugänge werden über einen verfeinerteren Zeitplan verfügen. Dafür werde ich meine nicht-menschlichen Freunde einsetzen. Selbst wenn sie angefangen haben, alle Amazonen abzuschießen, die sie sehen, werden sie andere wohl eher passieren lassen. Sammelt euch und führt eure Truppen möglichst schnell zusammen. Zieht nach Ambreza, wo ich, wie jeder weiß, auftauchen werde.«
»Aber Ambreza ist das Sechseck der großen Biber«, wandte Mavra ein. »Soviel weiß ich noch.«
»Sie vergessen aber, daß sie einen Krieg mit den Menschen geführt haben, den die Menschen verloren, und daß sie die Sechsecke tauschten«, gab Brazil zurück. »Ich werde also als Mensch im modernen Ambreza auftauchen.«
»Klingt für meine Ohren ein bißchen merkwürdig«, meinte Zigeuner. »Durch die Richtung unseres Vorstoßes sagen wir doch jedem, wann und wo Sie erscheinen werden.«
Brazil grinste.
»Sieht so aus, nicht? Aber Sie werden gar nicht wissen, wo ich bin oder wann ich durchkomme. Wenn ich Sie brauche, melde ich mich, aber sonst wissen Sie nichts. Ich könnte früh, in der Mitte oder am Ende erscheinen. Ihr ganzes Marschieren und Kämpfen und alles Drum und Dran wird das große Schauspiel sein, der äußere Schein. Inzwischen werde ich mich zur Avenue hinschleichen.«
»Mit anderen Worten, wir wissen nicht einmal, ob sie Erfolg gehabt haben — jedenfalls solange nicht, bis die Neuzugänge rund um uns verschwinden?«sagte Mavra fassungslos.
Er lachte leise.
»Ach, das wird schon vorher jeder wissen. Ich wünsche mir, daß es so glatt gehen möge, aber das wird nicht der Fall sein. Ich werde vor dem Ende Feuerkraft brauchen — ich hoffe nur, nicht, bis wir fast dort sind. Und ich werde alle einweihen müssen — es ist nicht ganz so einfach, ein Universum neu zum Keimen zu bringen, vor allem dann, wenn man so wenige Rassen hat, mit denen man arbeiten kann. Ich werde die Nordländer vor die Wahl stellen, die Hälfte ihrer Bevölkerung zu verlieren oder im Regen stehen zu bleiben — bei manchen könnte das genügen. Aber ihr werdet es merken.«Er sah Mavra Tschang an. »Vor allem Sie. Wenn Sie noch am Leben sind, werden Sie mit mir im Inneren des Schachtes sein, und Sie werden mir den Befehl geben, den Saft abzudrehen. Wenn Sie nicht durchkommen, Mavra, wird es einer von euch vier anderen sein. Und einer von euch sollte besser durchkommen — weil ich den Schacht nur dann abschalte, wenn mir jemand anderer den Auftrag dazu gibt. Die Verantwortung wird nicht die meine sein.«Er schaute sich in der Runde um. »Alles klar? Gut, dann fangen wir an. Wir haben viel vorzubereiten, eine ganze Bevölkerung zu instruieren, und das wird Zeit und Mühe kosten. Los!«