8

Angesichts dieser neuen Herausforderung zögerten die erschöpften Jokoner einen Augenblick zu lange. Der heranstürmende Reiter hatte die vorderen Roknari erreicht, ehe diese die eigenen Klingen auch nur halb gezogen hatten. Mit blutigen Wunden taumelten sie zurück, und schon fiel der Angreifer über Istas Aufpasser her. Der Mann schrie auf und duckte sich, tastete ungeschickt nach seiner Waffe. Zischend durchtrennte die schwere Klinge des Angreifers die straff gespannte Leine zwischen Ista und dem Offizier. Das plötzlich befreite Pferd scheute zurück.

Das graue Reittier des Fremden bäumte sich neben ihr auf. Die Klinge schwang empor, wechselte unvermittelt in die Linke des Reiters, die nicht weniger behände war als die Rechte. Er ließ die Schneide herumwirbeln, die scharfe Seite nach oben, und stieß den Stahl zwischen Istas Hände und den Sattel, an den sie gefesselt waren. Gerade eben noch konnte sie ihre Finger krümmen und aus dem Weg bringen, als die scharf geschliffene Klinge schon wieder emporzuckte, die Schnüre zerteilte und an Istas Gesicht vorbeizischte. Der Reiter warf ihr einen Blick über die Schulter zu, zeigte ein Lächeln, so breit wie seine Klinge, und gab seinem Pferd brüllend die Sporen.

Laut aufatmend befreite Ista die Handgelenke von den verhassten Fesseln; dann beugte sie sich vor und griff nach den Zügeln. Ihr Aufpasser riss sein Pferd herum, rammte das ihre, stieß sie beinahe aus dem Sattel und kam ihr zuvor: Er hielt ihre Zügel und zog sie über den Kopf des Pferdes.

»Verschwinde, verschwinde!«, kreischte Ista und schlug auf seinen Arm ein. Der Mann konnte selbst kaum das Gleichgewicht halten, da er die eigenen Zügel und sein Schwert ungeschickt in der anderen Hand hielt und sich gleichzeitig weit nach vorn beugte. In einer plötzlichen, von Furcht diktierten Eingebung packte Ista überraschend seinen Ärmel, stützte sich auf die Steigbügel und zerrte so heftig sie konnte. Der überraschte jokonische Offizier wurde aus dem Sattel gerissen, stürzte und schlug auf den Steinen im Flussbett auf.

Ista Pferd tänzelte zur Seite. Sie hoffte, dass es dabei auf ihren Bewacher getreten war, wusste es aber nicht genau. Die glatten, feuchten Kiesel waren mit einer Schicht grüner Algen überzogen und sehr glitschig, sodass Istas Reittier schwankte und ins Stolpern geriet. Die Zügel hingen nun lose herab und drohten, sich unter den Vorderhufen des Pferdes zu verfangen. Ista lehnte sich über den Sattelknauf und griff nach den Zügel, verfehlte sie, versuchte es erneut, erwischte sie endlich und ließ das schmutzige Leder durch ihre schmutzigen Finger gleiten. Als sie sich schließlich aufrichtete, war sie zum ersten Mal seit Tagen wieder Herrin ihrer eigenen Bewegungen.

Schwerter schlugen klingend aneinander, Metall scharrte über Metall. Sie sah sich hastig um.

Einer der hinteren Krieger versuchte, den Angreifer zu den anderen zu drängen, während ein zweiter Reiter sich bemühte, in eine günstige Position für einen Attacke auf die ungeschützte Seite zu gelangen. Der Befehlshaber zwang sein Pferd näher an das Handgemenge heran, doch seine Linke hielt gleichzeitig ungeschickt das Schwert wie den rechten Arm. Blut strömte zwischen seinen Fingern hindurch, rann den Ärmel herunter und macht die Zügel in seinem Griff schlüpfrig. Ein weiterer jokonischer Soldat war ein Stück abseits neben den beiden vorderen Reitern gewesen und so dem ersten Ansturm entkommen. Inzwischen war es ihm gelungen, seine Armbrust vom Sattel zu lösen. Hastig drehte er an der Winde, während sein Pferd zur Seite tänzelte und schnaubte. Der Mann hielt einen Bolzen zwischen den Zähnen bereit; nun spuckte er das tödliche Geschoss in seine Hand und legte es auf die Schiene, hob die Waffe und legte an. Zwar bewegte sich sein Ziel, doch die Entfernung war gering.

Die unbewaffnete Ista trat ihrem Pferd die sporenlosen Fersen in die Seite und zwang es zu einem unwilligen Trab quer über den Bach. Sie riss den Kopf des Pferdes zur Seite und trieb es gegen das Tier des Armbrustschützen. Dieser fluchte. Die Sehne sirrte und schickte das Geschoss ins Leere. Der Mann schwang die schwere Armbrust gegen Istas Kopf, doch sie duckte sich, und der Hieb des Mannes ging fehl.

Sein Befehlshaber rief ihm über die Schulter hinweg zu: »Bring die Frau zu diesem Fürsten!«

Der Mann auf dem grauen Pferd ließ die beiden hinteren Wachen blutend am Boden zurück. Er galoppierte voran, wobei er sein Pferd mit den Knien lenkte, stellte sich in den Steigbügeln auf und hob sein Schwert zu einem wuchtigen, beidhändigen Hieb. Der letzte Befehl des unglückseligen Kommandanten wurde mitsamt dessen Kopf abrupt abgeschnitten. Für Ista vermischte sich die Fülle der Eindrücke — der stürzende Körper, das aufspritzende Blut, das scheuende Pferd und das feurige Strahlen einer gequälten Seele, die aus ihrem Halt gerissen wurde.

Glaubst du nun an meine Prophezeiungen?, dachte sie verwirrt.

Und noch verwirrter: Ich etwa?

Das funkelnde Schwert und das graue Pferd fuhren beide herum und näherten sich nun dem Armbrustschützen, der fieberhaft seine Waffe spannte. Wieder wechselte die Klinge von der Rechten in die Linke. Die Spitze senkte sich wie eine Lanze. Die Wucht des Angriffes von Pferd und Reiter war gewaltig und perfekt ausgerichtet. Die Schwertspitze drang in die Brust des Schützen und durchbohrte sein Kettenhemd, riss ihn aus dem Sattel, trug ihn über den Rücken des Pferdes hinweg und nagelte seinen Körper an den Baum hinter ihm. Sein Pferd ging zu Boden und kämpfte sich wieder auf die Hufe. Mit bebenden Flanken suchte es das Weite. Für einen Augenblick entglitt das Schwert der Hand seines todbringenden Meisters; der aber ließ das Pferd auf der Stelle herumwirbeln, griff nach dem Heft des Schwerts und riss die Klinge heraus. Der tote Jokoner stürzte zu Boden, und sein Blut tränkte die Wurzeln des Baumes.

Ista wurde beinahe ohnmächtig unter dem Ansturm der kreischenden, verzweifelten Seelen, die um sie her wirbelten. Sie umklammerte den Sattelknopf und hielt sich mit Mühe aufrecht, wobei sie die Augen weit aufriss und auf diese Weise versuchte, sich dem zweiten Gesicht zu entziehen. Der Anblick des blutigen Schlachtfelds, das sich nun vor ihr ausbreitete, war leichter zu ertragen als diese unwillkommenen Visionen. Wie viele waren gestorben …? Der Anführer, der Armbrustschütze … und auch von den beiden hinteren Wachen würde keine sich jemals wieder rühren. Ein Reiter mitsamt seinem Pferd war verschwunden, und eine Blutspur verriet, auf welchem Weg sie entkommen waren. An der Einmündung des Tales kämpfte sich der Dolmetscher auf ein umherstreunendes Reittier; sein Schwert ließ er achtlos im rotgrünen Schlamm zurück. Er galoppierte flussab, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Den Reiter auf dem grauen Pferd hatte dies alles offenbar kaum angestrengt; er atmete nicht einmal schneller. Einen Augenblick blickte er hinter dem Fliehenden her. Blut tropfte von der gesenkten Klinge seines Schwertes. Dann wandte er sich um, schaute besorgt auf Ista und drängte sein Pferd in ihre Richtung.

»Ist Euch etwas geschehen, verehrte Dame?«

»Ich bin … nicht verletzt«, erwiderte sie keuchend. Die geisterhaften Visionen schwanden allmählich, wie die geblendete Benommenheit, die blieb, wenn man zu lange in die Sonne geschaut hatte.

»Gut!« Wieder blitzte sein Lächeln auf, begeistert — trunken vom Kampf? Er war gewiss kein Mann, der sein Urteilsvermögen von Furcht trüben ließ. Genauso wenig allerdings von gesundem Menschenverstand: Vernünftige Menschen wandten sich nicht alleine gegen sechs verzweifelte Gegner.

»Wir sahen, wie man Euch verschleppt hat«, fuhr er fort, »und haben uns aufgeteilt, um die Wälder nach Euch abzusuchen. Ich dachte mir, Ihr müsstet irgendwann hier herauskommen.« Er ließ den Blick über den Rand der Klamm schweifen, suchte nach weiteren Anzeichen von Bewegung und Bedrohung. Zufrieden kniff er die Augen zusammen, als er nichts bemerkte. Er wischte sein Schwert am besudelten Wappenrock sauber, erhob es dann zu einem kurzen Gruß in Istas Richtung und schob es zurück in die Scheide.

»Dürfte ich erfahren, mit welcher Dame ich die Ehre und das Vergnügen habe?«, erkundigte er sich.

»Ich …« Ista zögerte. »Ich bin Serady Ajelo, eine Verwandte des Herzogs von Baocia.«

»Ah.« Seine Brauen sanken herab. »Mein Name ist Porifors.« Er schaute zum lichten Ausgang der Klamm. »Ich muss meine Leute wieder finden.«

Ista bog prüfend ihre Finger. Sie wagte es kaum, ihre dunkel angelaufenen, aufgerissenen Handgelenke zu berühren — verkrustet, blutend, abgeschürft wie sie waren. »Und ich such die Meinen, war aber seit der letzten Mitternacht an das Pferd gefesselt. Ohne Rast, ohne Essen und Trinken und ohne Möglichkeit … nun, wenn Ihr Eure Heldenhaftigkeit abrunden wollt, dann seid so freundlich und wacht über mein Reittier und meine Sittsamkeit, während ich mir einen Busch suche.« Zweifelnd blickte sie den Einschnitt entlang. »Oder einen Felsbrocken, oder was auch immer. Obwohl ich bezweifle, dass mein Pferd mehr Lust verspürt als ich, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.«

Erheitert nahm er ihre Worte zur Kenntnis. »Aber gewiss, Sera.«

Behände schwang er sich von seinem Streitross und griff nach den Zügeln ihres Pferdes. Als er ihre Handgelenke erblickte, verblasste sein Lächeln. Ista stieg schwerfällig ab, und er fing sie mit starken Armen auf. Seine Hände hinterließen rote, verschmierte Abdrücke auf ihrem Gewand. Er hielt sie einen Augenblick fest, bis er sicher war, dass sie fest auf den Füßen stand.

Er musterte sie von oben bis unten, und sein Lächeln verschwand gänzlich. »Ihr habt viel Blut auf Euren Kleidern.«

Sie folgte seinem Blick. Die Falten ihres Reitrockes waren auf Höhe der Knie mit Blutflecken gesprenkelt, teils eingetrocknet, teils frisch, denn der letzte Galopp hatte ihre wunde Haut in Fetzen abgeschält. »Ach, das sind bloß Kratzer, auch wenn sie mir ein wenig zu schaffen machen.«

Er runzelte die Stirn: »Und was würdet Ihr dann als ernst bezeichnen?«

Sie humpelte davon, vorbei an dem enthaupteten Anführer der Roknari. »Das da.«

Er senkte den Kopf und gestand ihr diesen Punkt zu.

Stolpernd umrundete Ista die toten Körper und ging ein paar Schritte talauf, auf der Suche nach einem Fels mitsamt Büschen. Als sie zurückkam, kniete er neben dem Bachlauf. Er lächelte und bot ihr etwas an, das auf einem Blatt lag. Nach einem Augenblicke der Verwirrung sah sie, dass es ein Stück Seife war.

»Oh«, sagte sie leise. Mehr brachte sie nicht hervor, ohne in Tränen auszubrechen. Sie ließ sich auf die Knie fallen und wusch sich die Hände in der eisigen Strömung, die munter über die Steine plätscherte. Dann wandte sie sich mit größerer Sorgfalt ihren geschundenen Handgelenken zu, um schließlich aus den hohlen Händen das kühle, klare Wasser zu trinken.

Er legte ein kleines, in Leintücher eingewickeltes Bündel auf einen flachen Stein und schlug es auf. Saubere Stofffetzen kamen zum Vorschein, die zu Verbänden zurechtgeschnitten waren. Vermutlich hatte er das Bündel aus seiner Satteltasche geholt: Was die Jokoner an solchem Material mitgeführt hatten, hatten sie bestimmt längst selbst aufgebraucht. »Ich fürchte, Sera, ich muss Euch bitten, noch ein Stück weiter zu reiten. Vielleicht solltet Ihr zuvor Eure Knie säubern und verbinden?«

»Oh. Ja. Ich danke Euch, mein Herr.« Sie setzte sich auf einen Stein und zog ihre Stiefel aus, zum ersten Mal seit längerer Zeit. Sorgfältig rollte sie den Hosenrock über die Beine empor und zog den Stoff an jenen Stellen ab, an denen er mit dem verkrusteten Blut verklebt war, das ihre Schürfwunden bedeckte. Ihr Retter stand bereit, ihr zu helfen, doch als Ista mit stoischer Ruhe fortfuhr, ließ er die frisch gewaschenen Hände sinken. Als Nächstes benutzte sie die Seife, was zwar schmerzte, zugleich aber befreite. Eiter nässte die scharlachroten Abschürfungen.

»Es wird eine Woche dauern, bis das geheilt ist«, sagte er.

»Vermutlich.«

Als berittener Krieger hatte er ohne Zweifel schon häufiger offene Stellen vom Reiten behandelt und besaß daher wohl einige Sachkenntnis. Er schaute ihr noch eine Weile zu, als wollte er sich davon überzeugen, dass sie zurechtkam. Dann strich er sich übers Gesicht und wandte sich den Leichen zu.

Er ging methodisch vor, und er war nicht auf Plünderung aus, denn er hatte kaum einen Blick für die Ringe, Anstecknadeln und Geldkatzen der Toten übrig. Allerdings studierte er sämtliche Papiere, die er fand, und er verstaute sie dann sorgfältig unter seinem Gewand. Dieser Porifors — oder dy Porifors, denn er hatte nichts darüber gesagt, ob es sein Vorname war oder der Name seiner Familie — war zweifellos ein Offizier und militärischer Gefolgsmann des Herzogs von Caribastos. Wie es schien, war Foix’ Brief entweder beim verlassenen Haupttrupp zurückgeblieben oder bei einem der Flüchtigen.

»Könnt Ihr mir sagen, Sera, wer die übrigen Gefangenen im Tross der Jokoner waren?«

»Es gab nur wenige, den Göttern sei Dank. Sechs Frauen aus Ibra und sieben Männer, die von den Jokonern offenbar als wertvoll genug erachtet wurden, um sie über die Berge mitzuschleifen. Außerdem zwölf … nein, elf Ritter aus dem Orden der Tochter, die mir auf meiner Pilgerfahrt Schutz geboten haben und mit mir gefangen genommen wurden, vor … zwei Tagen.« Nur zwei Tage? »Eine der Wachen und mehrere andere meiner Gefährten konnten noch in Tolnoxo entkommen, als wir zum ersten Mal auf den Heerzug der Roknari trafen.«

»Und Ihr wart die einzige Dame aus Chalion unter den Gefangenen?«, fragte er und legte die Stirn in Falten.

Sie nickte knapp und überlegte, welche weiteren nützlichen Hinweise sie diesem aufmerksamen Offizier noch geben konnte. »Die Plünderer handelten auf direkten Befehl des Fürsten Sordso, denn es waren Aufsichtsbeamte seiner Schatzkammer dabei, die über den Anteil des Fürsten Buch geführt haben. Sie kamen über Ibra heran, wo sie die Stadt Rauma geplündert haben; dann sind sie über die Gebirgspässe geflohen, als ihnen der Graf von Rauma entschlossen nachsetzte. Der Mann dort drüben …«, sie nickte in Richtung des kopflosen Leichnams, »war der Anführer, obwohl ich glaube, dass er nicht von Anfang an der Befehlshaber des Zuges war. Gestern konnte ich zweiundneunzig Krieger zählen, aber einige von ihnen sind vielleicht noch desertiert … während der Nacht, bevor sie in Euren Hinterhalt gerieten.«

»Tolnoxo …« Er wischte die Hände ab, erhob sich vom letzten Toten und kam herbei, um zu sehen, wie Ista vorankam. Sie befestigte soeben ein Polster aus Verbänden mit einigen weiteren Leinenbinden an ihrem zweiten Knie. Erst jetzt wurde ihr vollends bewusst, dass sie allein war mit diesem merkwürdigen, ausgesucht höflichen Mann. »Kein Wunder«, sagte er. »Wir sind hier kaum mehr dreißig Meilen von den Grenzen Jokonas entfernt. Diese Kolonne hat während der letzten zwei Tage fast hundert Meilen zurückgelegt!«

»Sie haben sich abgehetzt. Sie hatten Angst.« Ista blickte verstohlen auf die Toten. Schon versammelten sich schillernde grüne Fliegen, und ein hässliches Summen erfüllte das diesige Zwielicht. »Leider waren sie nicht ängstlich genug, um von Anfang an zu Hause zu bleiben.«

Er lächelte säuerlich. »Beim nächsten Mal hat sich das vielleicht gebessert.« Er kratzte seinen Bart, der nicht so dunkelrot war wie sein Haupthaar, sondern heller, und durchsetzt von grauen Haaren. »War das Eure erste Schlacht, Sera?«

»Eine solche Schlacht ja.« Sie verschnürte den letzten Verbandsstreifen und zog den Knoten fest.

»Danke, dass Ihr den Burschen mit der Armbrust angerempelt habt. Das war gerade noch zur rechten Zeit.«

Das hatte er bemerkt? Bei den fünf Göttern! Ista hatte angenommen, seine Aufmerksamkeit wäre mehr als genug von anderen Dingen in Anspruch genommen gewesen. »Es war mir ein Vergnügen.«

»Wie ich sehe, verliert ihr nicht so schnell die Nerven.«

»Allerdings.« Auf sein überraschtes Prusten hin blickte sie auf. Unsicher fügte sie hinzu: »Seid lieber nicht zu nett zu mir, sonst fange ich noch an zu heulen. Und dann haben wir ein Problem.«

Er schien ein wenig verblüfft zu sein, nickte dann aber. »Ihr seid eine grausame Herrin, dass Ihr mir die Freundlichkeit verbietet! Doch wenn Ihr es wünscht. Wir müssen jetzt aufbrechen, damit wir einen sichereren Ort erreichen, an dem wir unbesorgt rasten können. Wir müssen schnell und vorsichtig zugleich reiten, denn die Männer, die bei Euch gewesen sind, waren vermutlich nicht die einzigen Nachzügler und Überlebenden. Ich hoffe, wir stoßen zuvor auf meine eigenen Leute.« Düster blickte er sich um. »Ich werde sie zurückschicken, damit sie sich der Toten annehmen. Und der Pferde.«

Sie warf einen letzten Blick auf den stillen Schauplatz des Gemetzels. Die Körper lagen ausgestreckt da. Keines der erschöpften Pferde hatte sich weit entfernt. Die kreischenden Visionen waren allesamt verblasst, doch das Tal schien immer noch von Leid und Schmerz widerzuhallen. Ista konnte es kaum erwarten, von diesem Ort fortzukommen.

Er half ihr auf. Dankbar nickte sie ihm zu. Mit jeder Minute schien ihr Körper mehr an Kraft zu verlieren. Wenn sie noch lange wartete, würde sie weder laufen noch reiten können.

Er versuchte, ihr aufs Pferd zu helfen, doch sie holte scharf Atem vor Schmerz, und er hielt inne. Schließlich umfasste er sie an der Hüfte und hob sie hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder. Ista war zierlich, doch sie war nicht mehr das gertenschlanke Mädchen von achtzehn. Wenngleich der Mann mindestens so alt sein musste wie sie selbst, schienen die Jahre, die seinen Bart hatten ergrauen lassen, seiner Kraft offenbar nichts anhaben können. Nun, solange er dieses Marschland überwachte, blieb er natürlich stets in Übung.

Mühelos schwang er sich auf sein eigenes Ross — ein großes, schweres Tier. Ista überlegte, ob das wundervolle, dunkel gescheckte Pferd vielleicht derselben Zucht entstammte wie Liss’ langbeinige Fuchsstute, schlank, mit ausgeprägten Muskeln, auf Schnelligkeit und Ausdauer gezüchtet.

Der Mann ritt Ista voraus zum Flussbett und wandte sich dann stromauf. Ista konnte die Hufabdrücke seines Pferdes in Sand und Kies ausmachen, wie sie aus der entgegengesetzten Richtung hierher führten. Beruhigenderweise aber gab es keine weiteren Spuren. Nach einigen Minuten bogen die Abdrücke zu den lichten Wäldern hin ab, die sich am Fluss entlangzogen — genauer gesagt, führten von den Wäldern heran. Die beiden ritten allerdings weiterhin neben dem dahinfließenden Wasser her. Istas erschöpftes Pferd bewegte sich mit kurzen, steifen Schritten. Wahrscheinlich lag es allein an der Anwesenheit des anderen Pferdes, überlegte Ista, dass es überhaupt noch einen Schritt tat. Genau wie ich.

Das Licht war hier besser, und Ista musterte ihren Retter genauer. Sein Pferd, sein Schwert, seine Ausrüstung — alles war von erlesener Qualität. Allerdings verzichtete er auf Edelsteinknöpfe, Einlegearbeiten aus Metall und anderen Zierrat. Er war also kein mittelloser Offizier, sondern ein Mann, der sich nur auf das Zweckmäßige konzentrierte. Aber wenn ein Krieger wie er an dieser Grenze zwanzig Jahre überlebt hatte — und sein Bart und das wettergegerbte Gesicht deuteten darauf hin —, musste er sehr umsichtig, stark und entschlossen sein.

Es war vor allem das Gesicht, das Istas Blick auf sich zog. Es war kein jungenhaftes Gesicht, nicht so jugendlich und kraftvoll wie bei Ferda und Foix; doch es war auch nicht das Gesicht eines alternden Mannes wie bei dy Ferrej. Es war das Gesicht eines Mannes auf dem Höhepunkt seiner Kraft und Reife, im Zenit des Lebens. Dennoch es war seltsam bleich. Vielleicht war der letzte Winter in Caribastos besonders düster gewesen.

Als Ista an Düsternis dachte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit.

Mit achtzehn hatte Lord dy Lutez ihre Heirat mit König Ias arrangiert. Ein strahlender, jedoch vergifteter Triumph. Von da an war es bergab gegangen — ein Sturz in den endlosen dunklen Nebel, den die Witwenschaft und der Fluch mit sich brachten. Es hatte Istas Verstand und ihr Herz verdorren lassen. Ihre gesamte Lebensmitte war wie eine öde Wüste, und all diese Jahre konnten nicht zurückgewonnen, nicht ersetzt werden. Ista hatte weder das Leben gehabt wie andere Frauen ihres Alters und deshalb auch nicht die entsprechenden Erfahrungen sammeln können.

Trotz der Verherrlichung von Jungfräulichkeit, Treue und Keuschheit der Frauen hatte Ista an Ias’ Hof viele Damen von Rang gekannt, die offen — oder insgeheim — einen Liebhaber gehabt hatten. Solche Affären hatte es am kleineren Hof der Herzoginwitwe in Valenda natürlich nicht gegeben: Die alte Dame duldete so etwas nicht, ja, sie duldete nicht einmal junge Menschen in ihrer Gegenwart, die solcher Verführung nachgeben könnten. Ihre Tochter Ista, einem beschämendem Wahnsinn verfallen, war die einzige Ausnahme. Seit der Aufhebung des Fluches hatte Ista zwei Reisen nach Cardegoss unternommen — einmal im Tross der alten Herzogin bei der Krönung Iselles, und ein zweites Mal, um im letzten Herbst die kleine Isara zu besuchen. Dabei hatte sie sich mit einer kleinen Heerschar höfischer Verehrer herumplagen müssen, in deren Augen sie jedoch kein Begehren, sondern bloße Habsucht gelesen hatte. Sie waren auf der Suche nach der Gunst der Königin gewesen, nicht auf der Suche nach Istas Liebe.

Nicht dass Ista Liebe empfunden hätte. Im Großen und Ganzen empfand sie gar nichts. Die vergangenen drei Tage voller hilfloser Angst waren eine Ausnahme gewesen.

Wieder betrachtete Ista ihren Retter von der Seite und musste gestehen, dass er ein blendend aussehender Mann war, sodass sie noch ein paar Stunden die bescheidene Ista dy Ajelo bleiben konnte, die von der Liebe zu einem hübschen Offizier träumte. Doch war der Ritt erst vorüber, war auch dieser Traum beendet.

»Ihr seid sehr still, werte Dame.«

Ista räusperte sich. »Ich war in Gedanken woanders. Offenbar leidet mein Verstand unter der Müdigkeit.« Noch waren sie nicht in Sicherheit, doch war es erst soweit, würde sie vor Erschöpfung umstürzen wie ein gefällter Baum. »Auch Ihr müsst die ganze Nacht wach gewesen sein, um diesen großartigen Empfang vorzubereiten.«

Er lächelte. »Ich brauche in letzter Zeit nur wenig Schlaf. Ich werde mich gegen Mittag hinlegen.«

Nun musterte auch er sie so eindringlich wie sie ihn, und der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte sie. Er sah sie an, als würde sie Unentschlossenheit in ihm erwecken, oder ihn vor ein großes Rätsel stellen. Verlegen wandte Ista den Blick ab; deshalb bemerkte sie als Erste, das ihnen im Fluss irgendetwas entgegentrieb.

»Ein Körper!«, rief sie und zeigte darauf. »Ist das der Fluss, dem die Kolonne aus Jokona gefolgt ist?«

»Ja. Er beschreibt hier mehrere Biegungen …« Er trieb sein Pferd in das unruhige Wasser, das bis zum Bauch des Tieres reichte; dann beugte er sich herab, packte den Arm der Leiche und zerrte in den Ufersand. Der Tote trug nicht das Blau des Ordens der Tochter, bemerkte Ista erleichtert, sondern war ein weiterer junger Soldat.

Istas Begleiter verzog das Gesicht. »Ein Späher, würde ich sagen. Am liebsten würde ich ihn weiter nach Jokona treiben lassen, als Kurier. Doch ohne Zweifel sind schon andere unterwegs, die diese Botschaft ein wenig redegewandter übermitteln können. Einige entkommen immer. Wir können ihn mit den anderen Toten einsammeln lassen.« Er ließ den tropfnassen Körper liegen und trieb sein Pferd wieder an. »Ihre Kolonne musste hier entlang kommen«, fuhr er fort, »um sowohl dem stark befestigten Oby wie auch dem von Burg Porifors geschützten Bereich auszuweichen. Obwohl Porifors ursprünglich errichtet wurde, um nach Süden zu schauen, nicht nach Norden. Sie hätten sich lieber aufteilen und in Zweier- oder Dreiergruppen an uns vorbeischlüpfen sollen. Dann hätten sie zwar den ein oder anderen Mann verloren, aber nicht die ganze Truppe. Sie waren zu sehr auf den kürzesten Weg fixiert.«

»Und auf den einfachsten Weg, sofern sie gewusst haben, dass dieser Fluss nach Jokona führt. Ich hatte den Eindruck, dass sie Schwierigkeiten hatten, die Richtung zu bestimmen. Und ich glaube nicht, dass der Rückzug durch diese Gegend Teil ihres ursprünglichen Planes war.«

Ein zufriedener Ausdruck erschien in seinen Augen. »Mein B… bester Ratgeber hat immer gesagt, dass es so kommen würde, in einer solchen Situation. Wie üblich hatte er Recht. Wir haben letzte Nacht unser Lager an diesem Fluss aufgeschlagen und es uns dann bequem gemacht, bis die Jokoner von selbst bei uns vorbeikamen, abgesehen von unseren Kundschaftern. Die haben ein paar Pferde müde geritten und hielten uns stets auf dem Laufenden.«

»Ist es noch weit bis zu Eurem Lager? Ich fürchte, mein armes Tier ist fast am Ende.« Das Pferd konnte kaum noch fünf Schritte gehen, ohne zu straucheln. »Es ist mein eigenes, und ich möchte es nicht zu Schanden reiten.«

»Ja, wir konnten den Weg der Jokoner fast schon anhand der erschöpften Pferde nachvollziehen, die sie zurückgelassen haben.« Tadelnd schüttelte er den Kopf. Sein eigenes Tier wirkte sauber und ausgeruht, trotz der Mühsal dieses Vormittags. Ein flüchtiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Wir sollten Eurem Pferd unbedingt Erleichterung verschaffen.«

Er ritt an ihre Seite, ließ die Zügel auf den Widerrist fallen, hob Ista aus dem Sattel und setzte sie seitlich auf seinen Schoß. Ista unterdrückte einen protestierenden Schrei, doch nach diesem überraschenden Vorstoß unternahm er keinen weiteren Versuch, sich ihr zu nähern, zum Beispiel, indem er versuchte, einen Kuss von ihr zu ergattern oder indem er schamlose Vertraulichkeiten zeigte. Stattdessen legte er bloß die Arme um sie und nahm mit der einen Hand seine Zügel wieder auf, während er mit der anderen Hand die Zügel von Istas Pferd ergriff. Dann band er beide zusammen. So blieb es Ista überlassen, ihrerseits die Arme um ihn zu legen, um nicht aus dem Sattel zu rutschen.

Ihn aus solcher Nähe zu spüren, war überaus reizvoll für Ista. Er stank nicht nach Schweiß, wie Ista erwartet hatte, während sie selbst um einiges schlimmer roch, wie sie vermutete. In dunklen Flecken klebte geronnenes Blut auf seinem grauen Waffenrock, doch auch davon war wenig zu riechen. Nur die Kälte des Todes schien ihn wie eine Aura zu umgeben. Sie lehnte sich gegen seinen Arm, so weit wie möglich von den feuchten Flecken entfernt, und war sich des Gewichts, mit dem ihre Oberschenkel über den seinen lagen, auf erregende Weise bewusst. Solange sie zurückdenken konnte hatte sie nicht mehr so entspannt in den Armen eines Mannes gelegen, wenngleich es diesmal eher an ihrer tiefen Erschöpfung lag.

Er neigte das Gesicht gegen ihre Stirn. Ista kam es vor, als würde er den Geruch ihrer Haare einatmen, und sie erschauerte leicht.

Mit besorgter Stimme flüsterte er ihr zu: »Denkt daran: Ich tue nur Eurem Pferd einen Gefallen.«

Ista prustete und kicherte. Sie spürte, wie sich die Anspannung in ihrem Innern ein wenig löste. Sich vorzustellen, wie es wäre, sich einfach gehen zu lassen, und sei es nur für einen Augenblick, war wundervoll. Ista genoss es und ließ sich vom Schritt seines Pferdes wiegen, während ihre Augenlider allmählich herabsanken.

Hufschläge auf dem Kies, ein Ausruf. Sie wusste, dass es Freunde waren, noch ehe sie aufblickte, denn seine Umarmung blieb sanft und behutsam.

Ista seufzte.

Der Traum ist zu Ende. Zeit aufzustehen.

»Herr!«, rief einer von drei Reitern, die alle in graue Wappenröcke gehüllt waren, wie Ista mit einem Blick durch ihre halb geöffneten Augen feststellen konnte. Sie trabten ihnen in der hellen Vormittagssonne am Flussufer entgegen. Die gepanzerten Krieger fielen in leichten Galopp und versammelten sich um sie herum zu einer lachenden, scherzenden Runde.

»Ihr habt sie!«, fuhr der Sprecher fort. »Ich hätte es wissen müssen!«

Die Stimme ihres Retters klang belustigt, vielleicht auch ein wenig selbstgefällig, als er erwiderte: »Allerdings.«

Sie dachte daran, was für einen heldenhaften Anblick sie beide auf dem gescheckten Schlachtross boten, und was für ein großartiges Schauspiel es für die Männer dieses Edelmannes sein musste. Ohne Zweifel würde es das Gesprächsthema des Abends im Lager sein. Auf diese Weise erhielt ein Befehlshaber sich seine Aura. Wenn es Berechnung war, konnte Ista es ihm nicht vergönnen. Und wenn er als Mann zusätzliches Vergnügen aus dieser zurückhaltenden Umarmung zog, konnte sie es ihm ebenfalls nicht neiden.

Die Männer überschütteten ihn mit einer Flut kurzer Berichte: Über die Gefangenen, die sie gemacht hatten, über die Absicherung des Gebietes, über die Verwundeten, die versorgt worden waren oder die man auf Karren in die nächste Stadt geschafft hatte. Und über die Anzahl der Toten.

»Wir haben noch nicht alle wieder zusammengetrieben, die geflohen sind«, erklärte ihr Befehlshaber. »Allerdings bezweifle ich allmählich die Genauigkeit der Zahlen, die Lord dy Tolnoxo uns hat zukommen lassen. Anscheinend müssen wir uns nur um ungefähr neunzig Jokoner kümmern, nicht um die zweihundert, vor denen er uns gewarnt hat. Fünf weitere Tote könnt ihr weiter flussabwärts aufsammeln. Der eine, den ich ungefähr drei Meilen von hier aus dem Fluss gefischt habe, dürfte bereits bei unserem ersten Angriff auf die Vorhut gefallen sein. Vier weitere liegen nahe der Einmündung eines Seitentals, eine Meile weiter. Dort habe ich sie erwischt, als sie sich mit dieser Dame hier davonmachen wollten. Nehmt ein paar Leute mit und sammelt sie ein. Nehmt auch ihre Pferde und die Ausrüstung mit. Und bringt sie zu den anderen, damit wir den Überblick behalten.« Er warf einem der Männer die Zügel von Istas Pferd zu. »Passt gut auf dieses Tier auf — es gehört der Dame hier. Lasst das Zaumzeug zu meinem Zelt bringen. Ich werde eine Weile dort sein. Wenn jemand etwas über die Gefangenen aus dem Tross zu berichten hat, schickt ihn sofort zu mir. Ich werde heute Nachmittag ausreiten und mir die Verwundeten und Gefangenen ansehen.«

Ista kämpfte ihre Schläfrigkeit nieder. »Unter den Gefangenen der Jokoner waren auch einige Ritter vom Orden der Tochter. Sind sie in Sicherheit?«, fragte sie.

»Ja, ich habe welche gesehen«, antwortete einer der Soldaten.

»Wie viele?«, fragte Ista eindringlich.

»Ich weiß nicht genau, Herrin — einige von ihnen sind im Lager.« Mit einer Kopfbewegung deutete er flussaufwärts.

»Gleich werdet Ihr wieder bei ihnen sein und könnt Euch in aller Ruhe anhören, was sie von den Ereignissen am Morgen zu berichten haben«, beruhigte sie ihr Retter. Seine Männer salutierten und ritten davon.

»Zu wem gehören diese hervorragenden Krieger?«, wollte Ista wissen.

»Zu mir, glücklicherweise«, erwiderte er. »Ich muss mich entschuldigen. In der Eile habe ich versäumt, mich mit vollem Namen vorzustellen: Arhys dy Lutez, Graf von Porifors, zu Euren Diensten. Burg Porifors schützt die gesamte Spitze von Chalion, die zwischen Jokona und Ibra hineinragt, und die Männer von Porifors sind die geschärfte Schneide dieser Klinge. Den fünf Göttern sei Dank, die Aufgabe ist einfacher geworden, seit Ibra friedlich in den Armen von Königin Iselle ruht.«

Ista erstarrte in seinem sanften Griff. »Dy Lutez?«, wiederholte sie entsetzt. »Seid Ihr verwandt mit …?«

Seine fröhliche Liebenswürdigkeit schwand, obwohl seine Stimme immer noch beiläufig klang: »Mit dem großen Kanzler und Verräter, Arvol dy Lutez? Er war mein Vater.«

Er war keiner der beiden hauptsächlichen Erben dy Lutez’, der Söhne aus der ersten Ehe des Kanzlers, die ihm bereits zu Istas Zeit an den Hof gefolgt waren. Die drei anerkannten unehelichen Kinder des berühmten Höflings waren allesamt Mädchen gewesen, die bereits vor langer Zeit durch einträgliche Heiraten versorgt worden waren. Dy Lutez war schon zweimal verwitwet gewesen, als Ista ihm das erste Mal begegnet war, und seine zweite Frau war schon zehn Jahre tot. Dieser Arhys musste also ein Sohn dieser zweiten Frau sein. Der, den dy Lutez auf den ländlichen Besitztümern seiner Frau zurückgelassen hatte, damit er in der Blüte seiner Jahre ungehindert bei Hofe und zu Felde hinter Ias herlaufen konnte, die eine Erbin aus dem Norden gewesen war, soviel wusste Ista noch.

Seine Stimme wurde ein wenig harsch: »Wundert es Euch, dass der Sohn eines Verräters Chalion gute Dienste leistet?«

»In keiner Weise.« Sie hob den Blick und nahm seine Gesichtszüge, die so dicht vor ihr waren, genauer in Augenschein. Das schmale Kinn und die gerade Nase musste er von seiner Mutter haben, die geballte Energie von dy Lutez. »Er war ein großer Mann. Ihr seht ihm irgendwie ähnlich.«

Er runzelte die Stirn und wandte den Kopf, um sie anzusehen — auf ganz andere Weise als zuvor, mit einer unterdrückten, aber begierigen Eindringlichkeit. Ista hatte nicht bemerkt, wie reserviert er war, bis er die Maske nicht mehr aufrechterhalten konnte: »Wirklich? Ihr seid ihm begegnet? Habt ihn gesehen?«

»Ihr etwa nicht?«

»Ich erinnere mich jedenfalls nicht daran. Meine Mutter hatte ein Gemälde von ihm, aber das war nicht besonders gelungen.« Sein Blick wurde nachdenklich. »Ich war fast alt genug, ihm an den Hof von Cardegoss zu folgen, als er starb. Ich war alt genug. Aber … vielleicht war es besser so.« Seine Begeisterung schwand wieder, kroch zurück in ihre verborgene Zuflucht, und sein Lächeln zeigte eine Spur von Verlegenheit — ein reifer Mann von vierzig, der vorgab, dass der Kummer eines Zwanzigjährigen ihn nicht mehr berührte.

Ista erkannte, dass sie wohl doch nicht so abgestumpft war, wie sie angenommen hatte. Dieser unerwartete Einblick in sein Inneres, den er ihr unachtsam gewährt hatte, wühlte wie ein Messer in ihr.

Sie gelangten an eine Flussbiegung, die an eine waldumstandene Wiese grenzte. Das Gras war niedergetrampelt und mit den Überresten eines halb abgebrochenen Lagers bedeckt, mit erloschenen Feuern und verstreut umherliegender Ausrüstung. In einiger Entfernung waren Seile für die Pferde zwischen den Bäumen gespannt, und mehrere Männer sattelten gerade ihre Reittiere oder beluden die Mulis. Die einen packten, die anderen saßen herum, wieder andere schliefen auf Decken oder dem kahlen Erdboden. Mehrere Zelte für die Offiziere standen geschützt im Schatten eines Wäldchens am gegenüberliegenden Ende der Wiese.

Ein Dutzend Männer stürmten auf dy Lutez zu, kaum dass er in Sicht kam. Sie jubelten, riefen Grüße und Fragen, ließen Neuigkeiten auf ihn einprasseln und verlangen neue Befehle. Eine vertraute Gestalt in Blau kam steifbeinig hinter ihnen her.

»Ah! Sie ist gerettet!«, rief Ferda dy Gura voller Freude. »Wir sind gerettet!«

Er sah aus, als hätte man ihn eine Meile weit rücklings durch Dornengestrüpp gezerrt, schmutzig, müde und blass vor Erschöpfung, aber unverletzt: Keine Verbände waren zu sehen, kein Blut, und er hinkte nicht so schlimm, als dass man es nicht mit harmlosen Abschürfungen und ein paar Kratzern erklären konnte. Istas Herz hüpfte vor Erleichterung.

»Majestät«, stieß er hervor. »Ich danke den Göttern, allen fünfen und jedem einzelnen! Gelobt sei die Frühlingstochter! Ich war sicher, dass die Jokoner Euch am Ende doch noch fortgeschafft haben. Ich habe alle, die noch reiten können, mit den Männern des Grafen von Porifors ausgeschickt, um nach Euch zu suchen …«

»Eure Begleiter, Ferda — wurde jemand verwundet?« Ista richtete sich auf, eine Hand auf den Arm des Grafen gestützt, während Ferda sich durch die Menge drängte und an die Schulter des gescheckten Pferdes trat.

Er fuhr sich mit der Hand durchs verschwitzte und wirre Haar. »Einer hat einen Armbrustbolzen in den Oberschenkel bekommen, von den Leuten des Grafen. Ein Missgeschick. Ein anderer hat sich das Bein gebrochen, als sein Pferd darauf fiel. Ich habe zwei Mann beauftragt, sich um sie zu kümmern, bis die Heiler mit den schlimmer verletzten Männern fertig sind. Den anderen geht es so gut, wie man erwarten kann. Auch mir — jetzt, wo die Angst um Euch mir nicht mehr das Herz zerfrisst.«

Arhys dy Lutez hinter ihr war erstarrt und saß reglos da wie ein Stein. »Majestät?«, wiederholte er schließlich. »Das ist die Königinwitwe Ista?«

Lächelnd schaute Ferda zu ihm hoch. »Ja, Herr? Wenn Ihr sie gerettet habt, küsse ich Euch Hände und Füße! Wir haben Todesqualen ausgestanden, als wir die weiblichen Gefangenen gezählt und festgestellt haben, dass sie verschwunden ist.«

Der Graf starrte Ista an, als hätte sie sich vor seinen Augen in irgendeine erschreckende Sagenkreatur verwandelt. Und vielleicht habe ich das ja auch. Welche der zahlreichen Geschichten, die über den Tod seines Vaters durch die Hand des Königs in Umlauf waren, hatte er gehört? Und welche Lüge hielt er für die Wahrheit?

»Ich entschuldige mich, Graf«, bemerkte Ista mit einer Reserviertheit, die sie gar nicht empfand. »Sera dy Ajelo war der Tarnname, unter dem ich gereist bin. Anfangs, um Demut und Frömmigkeit auf meiner Pilgerfahrt zu wahren, später um der Sicherheit willen.« Nicht, dass es geholfen hätte. »Doch da ich nun durch Eure Tapferkeit gerettet wurde, kann ich es wieder wagen, Ista dy Chalion zu sein.«

»Gut«, sagte er. »Dy Tolnoxo hat zumindest nicht in jeder Hinsicht übertrieben. Wer hätte das gedacht.«

Sie blickte zu ihm auf. Jetzt trug er seine Maske wieder. Der Graf ließ sie behutsam in Ferdas hilfreiche Hände gleiten.

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