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Am frühen Morgen ging Ista gemeinsam mit Liss ihre Garderobe durch und suchte Kleidungsstücke heraus, die für die Reise geeignet waren und nicht nur für eine Königin. In Istas Schränken und Truhen fand sich manches, das alt und prächtig war, doch nur wenig schlichte Kleidung. Jedes aufwendige Kleid, bei dem Liss zweifelnd die Nase rümpfte, wurde sogleich aussortiert. Auf diese Weise bekam Ista eine Reisegarderobe zusammen, die aus einer Gamaschenhose, einem geteilten Rock, einem Untergewand und einem Überkleid bestand, wobei Letzteres keine Spur vom Grün der Mutter zeigte. Schließlich plünderten sie rücksichtslos die Garderobe von Istas Hofdamen und Mädchen, was bei letzteren für einige Aufregung sorgte. So bekamen sie endlich einen ansehnlichen Stapel an Kleidungsstücken zusammen — praktisch, schlicht, leicht zu waschen und — was das Wichtigste war — nicht zu viel.

Liss war sichtlich erleichtert, als Ista sie endlich zu den Ställen schickte, um das am besten geeignete Reitpferd sowie ein Maultier für das Gepäck herauszusuchen. Dank Istas Zielstrebigkeit waren beide Frauen zur Mittagsstunde für die Reise gekleidet, die Pferde standen gesattelt bereit, und das Gepäck war sicher verstaut. Beide warteten reisefertig auf dem gepflasterten Burghof, als die Brüder dy Gura an der Spitze von zehn Rittern des Ordens der Tochter durchs Tor ritten; dy Cabon folgte ihnen auf seinem weißen Maultier.

Die Stallknechte hielten das Pferd der Königin und geleiteten sie zur Trittbank, während Liss leichtfüßig auf ihre langbeinige Fuchsstute sprang, ohne eine solche Hilfe in Anspruch zu nehmen. In ihrer Jugend war Ista viel geritten. Sie hatte den ganzen Tag auf der Jagd zugebracht und Abends getanzt, bis der Mond wieder unterging, damals, als das prachtvolle Leben bei Hofe neu für sie gewesen war. Auch sie hatte sich dem Leben in Bequemlichkeit — in dieser Burg, die übersättigt war von Alter und schmerzlicher Erinnerung — schon viel zu lange hingegeben. Ein wenig maßvolle Betätigung war genau, was sie brauchte, um wieder in Form zu kommen.

Dy Cabon stieg von seinem Maultier, um von der Trittbank aus ein kurzes Gebet zu sprechen und das anstehende Unternehmen zu segnen. Ista senkte den Kopf, bewegte aber nicht die Lippen bei den Antworten. Es gibt nichts, was ich von den Göttern will. Ich kenne ihre Gaben.

Vierzehn Personen und achtzehn Reittiere waren nötig, damit Ista auf Reisen gehen konnte. Dabei gab es Pilger, die kamen mit einem Wanderstab und einem kleinen Bündel aus …

Lady dy Hueltar und Istas Zofen und Kammerfräulein versammelten sich auf dem Hof — nicht etwa, um Ista eine gute Reise zu wünschen, wie sich herausstellte, sondern um bewusst in ihrer Gegenwart in Tränen auszubrechen und sie anzuflehen, ihren Entschluss noch einmal zu überdenken. Natürlich erreichten sie damit das genaue Gegenteil. Das Offensichtliche verleugnend, klagte Lady dy Hueltar: »Oh, das will sie doch nicht wirklich tun! Haltet sie auf, um der Mutter willen, dy Ferrej!« Ista biss die Zähne zusammen und ließ das Gejammer von ihren Rücken abprallen wie Pfeile von einem Kettenhemd. In gemächlichem Trott geleitete dy Cabon sie auf seinem weißen Maultier durch den Torbogen und die Straße hinunter, bis die Stimmen schließlich hinter ihr verklangen. Ein sanfter Frühlingswind spielte durch Istas Haar. Sie blickte nicht zurück.


Sie erreichten das Gasthaus in Palma gerade noch bei Sonnenuntergang. Ista ließ sich aus dem Sattel helfen. Sie spürte, dass sie schon sehr lange keinen ganzen Tag mehr auf dem Rücken eines Pferdes verbracht hatte. Liss war sichtlich gelangweilt vom ruhigen Tempo dieser Pilgerfahrt. Sie sprang von ihrem Reittier, als hätte sie sich den ganzen Nachmittag lang ausgeruht. Foix und sein Bruder hatten offenbar schon früher auf der Reise sämtliche Nachwirkungen ihrer Verletzungen hinter sich gelassen. Und selbst dy Cabons watschelnde Gangart verriet keine Verspannungen. Als der Geistliche Ista helfend den Arm darbot, nahm sie dankbar an.

Dy Cabon hatte einen der Männer vorausreiten und für Unterkunft und Essen sorgen lassen — zum Glück, wie sich herausstellte, denn das Gasthaus war sehr klein. Als sie eintrafen, wurde gerade eine weitere Reisegruppe abgewiesen. Das Gebäude war einst ein kleines, befestigtes Bauernhaus gewesen, das um einen zusätzlichen Flügel erweitert worden war. Die Brüder dy Gura und der Geistliche teilten sich ein Gemach, Ista und Liss ein weiteres, und die Wachen mussten mit Pritschen auf dem Heuboden vorlieb nehmen. Doch in einer milden Nacht wie dieser bereitete das keine Unannehmlichkeiten.

Der Gastwirt und seine Frau hatten zwei Tische unmittelbar neben der heiligen Quelle aufstellen lassen, in einem kleinen Wäldchen hinter dem Haus, und die Bäume waren mit Laternen behangen. Das dichte Moos und die Farne, die Glockenblumen und das Blutkraut mit seinen sternförmigen weißen Blüten, die verflochtenen Zweige und das sanfte Glucksen des Wassers, das über die glatten Steine floss — dies alles bildete den wundervollsten Speisesaal, den Ista seit vielen Jahren betreten hatte. Sie und ihre Gefährten wuschen sich die Hände in frischem Quellwasser, das in einer Kupferschale gebracht und vom Geistlichen gesegnet wurde, und das keiner Parfümierung bedurfte. Die Frau des Gastwirts war bekannt für ihre wohlgefüllte Speisekammer. Ununterbrochen trugen zwei Dienstboten schwere Tabletts und Krüge auf: frisches Brot und Käse, gebratene Enten, Hammelfleisch, Würste, Dörrobst, frische Kräuter und Frühkohl, Eier, schwarze Oliven und Olivenöl aus dem Norden, Apfelkuchen mit Nüssen, frisch gebrautes Bier und Apfelwein — einfache Kost, aber sehr gehaltvoll. Dy Cabon sprach diesen Gaben mit herzhaftem Appetit zu, und selbst Ista, die seit Monaten kaum Hunger gespürt hatte, aß mit Genuss. Als sie sich schließlich auszog und neben Liss auf die kleine, saubere Bettstatt in ihrem Mansardenzimmer legte, schlief sie so rasch ein, dass sie sich am nächsten Morgen kaum noch daran erinnern konnte.


Beim Aufstehen, als das frühe Morgenlicht durch die halb geöffneten Fensterflügel fiel, gab es einen kurzen, peinlichen Augenblick. Aus tief verwurzelter Gewohnheit stand Ista eine Zeit lang still neben dem Bett, wie eine Puppe, und wartete darauf, dass man sie ankleidete. Schließlich aber wurde ihr bewusst, dass ihr neues Kammermädchen genauere Anweisungen benötigte. Unter diesen Umständen war es einfacher für sie, die Kleidungsstücke selbst herauszusuchen und anzulegen und nur noch bei einigen Verschlüssen Liss’ Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Istas Frisur war ein größeres Problem. »Ich habe keine Ahnung, wie man vornehmen Damen das Haar macht«, gestand Liss, nachdem Ista ihr die Bürste in die Hand gedrückt und sich auf eine niedrige Bank gesetzt hatte. Skeptisch musterte sie Istas dichte, fahlbraune Mähne, die bis zur Taille reichte. Bevor Ista zu Bett gegangen war, hatte sie die kunstvolle Flechtfrisur gelöst, die ihre frühere Zofe ihr gemacht hatte — vielleicht ein wenig voreilig, denn über Nacht hatte das Haar wieder zu seinen natürlichen Wellen und Locken zurückgefunden und schlängelte sich nun in alle Richtungen.

»Du richtest dir selbst das Haar, nehme ich an«, sagte Ista. »Wie machst du das?«

»Manchmal binde ich’s zum Zopf.«

»Und sonst?«

»Mache ich zwei Zöpfe daraus.«

Ista dachte einen Moment nach. »Hast du schon mal die Mähnen von Pferden zurechtgemacht?«

»Ja, sicher, Majestät. Ich habe sie zu kleinen Turnierzöpfchen geflochten, mit bunten Bändern geschmückt, oder zum Tag der Mutter in ein Rautennetz mit Holzperlen gelegt, oder zum Tag des Sohnes in einen ibranischen Zopf entlang des Mähnenkamms, mit eingeflochtenen Federn verziert. Und …«

»Dann flechte mir heute einen Zopf.«

Liss atmete erleichtert auf. »Ja, Majestät.« Ihre Hände bewegten sich rasch und geschickt, viel schneller als die Hände ihrer vormaligen Zofen. Was die Ergebnisse anging — nun, für die bescheidene Sera dy Ajelo waren sie gut genug.

Die gesamte Reisegruppe versammelte sich noch einmal in dem Wäldchen, um an diesem ersten Tag von Istas Pilgerfahrt das morgendliche Gebet zu sprechen. »Morgen« war jedoch eine höfliche Umschreibung, denn die Sonne hatte sich bereits einige Stunden vor den Reisenden erhoben. Der Gastwirt, seine Frau, ihre Kinder und ihr gesamte Dienerschaft fanden sich ebenfalls zu der Zeremonie ein. Offensichtlich kam es selten vor, dass ein Geistlicher von Rang und Gelehrsamkeit diesen Ort besuchte. Außerdem bestand immer die Möglichkeit — wie Ista zynisch bei sich dachte —, dass der Geistliche dieses Heiligtum minderer Bedeutung noch weiteren Pilgern empfahl, wenn er hier hinreichend umschmeichelt wurde.

Diese Quelle war der Tochter, heilig, und so stand dy Cabon am Ufer des Bächleins im Halbschatten, der von gelegentlichen Sonnenstrahlen erhellt wurde, und sprach ein kurzes Frühjahrsgebet. Zu diesem Zweck verwendete er ein kleines Bändchen mit Andachten für verschiedene Anlässe, das er in der Satteltasche mit sich führte. Es war nicht genau festzustellen, weshalb gerade diese Quelle der Frühlingstochter heilig war. Der Gastwirt beteuerte, es sei jener geheime Ort, an dem sich das Wunder der Jungfrau mit dem Wasserkrug zugetragen habe. Ista fand das wenig überzeugend, denn ihr waren allein in Chalion drei weitere Orte bekannt, die für sich beanspruchten, Schauplatz dieser Legende zu sein. Doch die Schönheit dieses Ortes war allein schon Grund genug für sein spirituelles Ansehen.

Dy Cabons fleckige Roben wirkten beinahe weiß im klaren Schein der Morgensonne. Er steckte das Buch weg, räusperte sich und begann mit der eigentlichen Morgenandacht. Hinter ihnen standen schon die Tische für das Frühstück bereit, das nach den Gebeten aufgetragen werden sollte; daher war Ista zuversichtlich, dass die Predigt kurz ausfiel.

»Da dies der Beginn einer spirituellen Reise ist, möchte ich auf jene Legenden um die Anfänge zu sprechen kommen, wie wir sie alle während der Kindheit gehört haben.« Der Geistliche schloss kurz die Augen, als müsste er zunächst seine Erinnerungen ordnen. »Ich erzähle euch die Geschichte, wie Ordol sie in seinen Briefen an den jungen Prinzen von Brajar niedergelegt hat.«

Er schlug die Augen wieder auf, und seine Stimme nahm den Tonfall eines Geschichtenerzählers an: »Am Anfang, als die Welt noch jung war, war sie ein Furcht erregender Ort aus flüssigem Feuer. Als die Flammen abkühlten, entstand die Materie, die sich zu größter Stärke und Beständigkeit bildete. Doch in ihren Innern brannte weiterhin ein gewaltiger, lodernder Kern. Aus diesem feurigen Herzen formte sich allmählich die Weltseele.

Doch ein Auge kann sich selbst nicht sehen; nicht einmal das Auge der Weltseele vermag dies. Also teilte die Weltseele sich auf, um sich ihrer selbst gewahr werden zu können; so entstanden der Vater und die Mutter. Und als sie einander zum ersten Mal wahrnahmen, konnte die Liebe im Herzen der Weltseele entstehen. Die Liebe war die erste Frucht der spirituellen Welt, die sie der stofflichen Welt zurückgab, die ihr Quell und Ursprung war, Doch es war nicht die letzte Gabe, denn es folgten die Musik und die Rede.« Dy Cabon hielt inne, lächelte und holte tief Luft.

»Und der Vater und die Mutter ordneten untereinander die Welt, damit das Sein nicht sogleich wieder vergehen konnte, verschlungen vom Feuer, dem Chaos und der brodelnden Vernichtung. In ihrer frühen Liebe zueinander brachten sie die Tochter und den Sohn zur Welt, und sie teilten die Jahreszeiten untereinander auf, eine jede nach ihren besonderen Schönheiten, einem jedem zur eigenen Herrschaft und Obhut. Und in der Eintracht und Geborgenheit dieser neuen Ordnung nahm die Welt der Materie, des Stofflichen, an Kraft und Vielfalt zu. Und aus ihrem Bestreben, Schönes zu schaffen, entstanden die Pflanzen und die Tiere und schließlich die Menschen, denn in das flammende Herz der Welt war die Liebe eingezogen, und die Materie trachtete danach, der spirituellen Welt die Gaben des Geistes zu erwidern, so wie Liebende Pfänder austauschen.«

Dy Cabons Vollmondgesicht erhellte sich kurz in einem Ausdruck der Zufriedenheit, und seine Stimme schwankte leicht, als er sich ganz von seiner eigenen Erzählung in Bann schlagen ließ. Ista vermutete, dass sie nun zu jenem Teil der Legende kamen, der ihm am liebsten war.

»Doch das Feuer im Herzen der Welt barg auch zerstörerische Mächte, die nicht zu verleugnen waren. Und aus diesem Chaos erhoben sich die Dämonen, und sie brachen hervor und fielen über die Welt her und machten Jagd auf die zerbrechlichen jungen Seelen, die dort heranwuchsen, so wie der Wolf aus den Bergen in den Tälern einfällt und dort die Lämmer jagt. Dies war die Zeit der mächtigen Zauberer. Die Ordnung der Welt zerbrach, und Winter und Frühling und Sommer und Herbst fielen zusammen oder wechselten in wirrer Folge. Dürre und Flut, Eis und Glut bedrohten das Leben der Menschen und das Dasein all jener wunderbaren Pflanzen und Tiere, welche die Materie in ihrer Liebe der Weltseele dargebracht hatte.

Eines Tages erschien ein mächtiger Dämonenfürst, der schon die Seelen vieler Menschen verschlungen hatte und darüber schlau und verschlagen geworden war. Er begab sich zu einem Mann, der einsam in einer kleinen Einsiedelei tief in den Wäldern lebte. Wie eine Katze mit ihrer Beute spielt, so nahm der Dämonenfürst die Gastfreundschaft des Eremiten in Anspruch und wartete auf eine günstige Gelegenheit, den verbrauchten Leib zu verlassen, den er zu der Zeit bewohnte, um in einen neuen überwechseln. Und der Einsiedler, auch wenn er Lumpen trug, war ein schöner Mann: Sein Blick war so scharf wie eine Schwertklinge, und sein Atem ein Wohlgeruch.

Doch als der Dämonenfürst sich eine kleine irdene Schale mit Wein reichen ließ und sie in einem Zuge lehrte, war er auf das Äußerste erstaunt: Der Heilige hatte seine eigene Seele aufgeteilt, dem Wein beigemischt und sie aus freien Stücken dem Dämon überlassen. Und so geschah es zum ersten Mal, dass ein Dämon eine eigene Seele erhielt — und mit ihr all die wundervollen, aber auch schmerzlichen Gaben, die einer Seele eigen sind.

Da fiel der Dämonenfürst zu Boden, in jener Mönchsklause tief im Wald, und er heulte mit dem Schmerz eines neu geborenen Kindes, denn in diesem Augenblick war er tatsächlich neu geboren worden, in die Welt der Materie und in die des Geistes zugleich. Dann machte er sich den Leib des Eremiten zu Eigen, der diesmal als Gabe kam und nicht gestohlen werden musste gegen den Willen des vormaligen Besitzers. In dieser Gestalt floh er durch die Wälder zurück in seinen Palast, wo er sich in tiefem Schrecken verbarg.

Viele Monate lang verkroch er sich dort, gefangen im Grauen über sich selbst. Allmählich aber machte der Heilige mit der großen Seele ihn mit der Schönheit der Tugend vertraut. Der Heilige nämlich war ein Anhänger der Mutter, und er rief Ihren Segen herab, um den Dämon von seinen Sünden zu befreien. Denn als der Dämon die Gabe des freien Willens empfangen hatte, erhielt er damit auch die Möglichkeit der Sünde, und die brennende Scham darüber quälte den Dämon wie nichts anderes zuvor. Unter der Marter seiner Sünden und den Belehrungen des Heiligen gewann die Seele des Dämons schließlich Stärke und Redlichkeit. Als mächtiger und magischer Streiter, dem die Gunst der Mutter den gepanzerten Arm führte, wirkte er nun in der stofflichen Welt und kämpfte gegen die furchtbaren, seelenlosen Dämonen im Namen der Götter, an Orten, die diese selbst nicht erreichen können.

Der Dämon mit der großen Seele wurde zum ersten und obersten Verfechter der Mutter und zu ihrem Hauptmann, und Sie liebte ihn über alle Maßen ob der strahlenden Pracht seiner Seele. Und so nahm der große Krieg seinen Anfang, in dem die Welt von den ungezügelt wütenden Dämonen befreit und die Ordnung der Jahreszeiten wieder hergestellt werden sollte.

Die anderen Dämonen fürchteten ihn und versuchten, sich gegen ihn zu vereinen. Doch sie vermochten es nicht, denn ein solches Bündnis war wider ihre Natur. Dennoch wütete der Kampf mit furchtbarer Gewalt, und der Dämon mit der großen Seele, der Liebling der Mutter, wurde in der Entscheidungsschlacht erschlagen.

Und so geschah es, dass der Letzte der Götter zur Welt kam, der Bastard, das Kind der Liebe zwischen der Göttin und dem Dämon mit der großen Seele. Manche sagen, er wurde am Vorabend der Schlacht gezeugt, als Frucht einer Vereinigung auf Ihrer großen Bettstatt. Andere behaupten, dass die trauernde Mutter nach dem Kampf die verstreuten Überreste des geliebten Dämons mit der großen Seele vom Schlachtfeld aufsammelte und mit Ihrem Blut vermischte, und so durch Ihr einzigartiges Geschick den Bastard schuf. Doch wie es auch gewesen sein mag, unter allen Göttern war allein diesem die Macht sowohl über Geist und Materie zuteil geworden, denn als Erbteil erhielt er jene Dämonen als Diener, die durch das große Opfer seines Vaters unterworfen, versklavt und aus der Welt verbannt worden waren.

Was ganz gewiss nicht stimmt«, fuhr dy Cabon unvermittelt in zornigem Tonfall fort, »ist der vierfältige Irrglaube, demzufolge der Dämon mit der großen Seele die Mutter mit Gewalt nahm und somit den Bastard gegen Ihren geheiligten Willen zeugte. Eine niederträchtige, unsinnige und lästerliche Verleumdung …!« Ista war sich nicht sicher, ob dy Cabon immer noch Ordol zitierte oder gerade seine eigene Fußnote hinzufügte. Er räusperte sich und schloss sehr viel förmlicher: »Hier endet die Erzählung und die Aufzählung vom Erscheinen der fünf Götter

Seit ihrer Kindheit hatte Ista die Legende vom Ursprung der Götter schon Hunderte von Malen und in den unterschiedlichsten Versionen gehört. Doch sie musste gestehen, dy Cabons Vortrag war sowohl redegewandt wie aufrichtig gewesen und ließ die alte Geschichte beinahe neu erscheinen. Gewiss, in den meisten Versionen wurde der verwickelten Entstehung des Bastards nicht mehr Raum eingeräumt als der übrigen Heiligen Familie zusammen, aber man musste schließlich jedem seinen bevorzugten Gott zubilligen. Gegen ihren Willen fühlte Ista sich gerührt.

Dy Cabon fuhr mit dem Gebet fort und erflehte den fünffältigen Segen, ersuchte von jedem der Götter die jeweiligen Gaben und leitete im Gegenzug die Teilnehmer der Andacht bei der Lobpreisung an. Die Tochter bat er um Gedeihen, Gelehrsamkeit und Liebe; die Mutter um Kinder, Gesundheit und Heilung; den Sohn um Freundschaft, Jagdglück und gute Ernte; und den Vater um Kinder, Gerechtigkeit und einen leichten Tod, wenn die Zeit gekommen war.

»Und der Bastard gewähre uns …«, dy Cabons Stimme war zu einem bedächtigen Singsang geworden; und nun stockte er zum ersten Mal, wurde noch langsamer, »… die kleinsten Gaben in größter Not: zum Hufeisen den Nagel, zur Achse den Stift, zur Angel den Zapfen und den Kiesel auf der Spitze des Berges, einen Kuss in der Verzweiflung, das eine richtige Wort. Und Verständnis in der dunkelsten Stunde.« Er blinzelte und blickte erschrocken.

Ruckartig hob Ista den Kopf. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Nein. Nein. Da ist nichts, gar nichts. Nichts, verstehst du? Langsam atmete sie aus.

Das war nicht die übliche Formel gewesen. In den meisten Gebeten wurde nur der Wunsch geäußert, man möge von der Aufmerksamkeit des Bastards verschont bleiben; schließlich war er der Herr über alle außergewöhnlichen Unglücke, die sich ereignen mochten. Der Geistliche schlug hastig das heilige Zeichen, berührte sich an der Stirn, an der Lippe, dem Nabel, der Leiste und dem Herzen, wobei die Hand schließlich weit ausgebreitet auf der Brust liegen blieb, gleich über seinem fetten, vorstehenden Wanst. Dann wiederholte er die Geste noch einmal in der Luft, um den Segen auf alle herabzurufen, die hier versammelt waren. Erleichtert regte die Gesellschaft sich wieder, reckte sich, und einige stimmten geflüsterte Unterhaltungen an, während andere davongingen und sich wieder ihren alltäglichen Pflichten zuwandten. Dy Cabon schritt auf Ista zu. Er rieb sich die Hände und lächelte besorgt.

»Ich danke Euch, Hochwürden«, sagte Ista, »für diesen guten Anfang.«

Auf diese Anerkennung hin verbeugte er sich erleichtert. »Es war mir eine Freude, Majestät.« Seine Stimmung wurde noch besser, als die Dienstboten des Gasthauses herbeieilten und für ein überaus reichhaltiges Frühstück sorgten. Er gab sich sehr viel Mühe, und Ista schämte sich ein wenig, dass sie ihn auf eine vorgetäuschte Pilgerreise gelockt hatte. Dass er seine Arbeit so offensichtlich genießen konnte, munterte sie jedoch ein wenig auf.


Westlich von Palma war die Landschaft flach und karg. Der weite, eintönige Ausblick wurde nur von vereinzelten Baumgruppen aufgelockert, die in der Nähe der Wasserläufe wuchsen. Entlang der kaum genutzten Straße fanden sich in weiten Abständen alte, befestigte Gehöfte, deren Bewohner hauptsächlich von der Viehzucht lebten, nicht vom Ackerbau. Jungen und Hunde hüteten Schafe und Rinder; Mensch und Tier dösten gemeinsam an den wenigen Stellen, an denen es Schatten gab. Der warme Nachmittag schien von einer endlosen Stille erfüllt, die zum Schlafen einlud, nicht zur Reise. Doch wegen ihres späten Aufbruchs bewegte Istas Gruppe sich rasch durch diese träge, schläfrige Atmosphäre.

Als die Straße breiter wurde, ritt Ista zwischen dy Cabons unerschütterlichem Maultier auf der einen Seite und Liss’ hoch gewachsener Fuchsstute auf der anderen. Um dy Cabons ansteckendem Gähnen entgegenzuwirken, fragte Ista ihn: »Erzählt mir doch, dy Cabon, was geschah mit jenem kleinen Dämon, den Ihr bei unserer ersten Begegnung bei Euch hattet?«

Liss ritt mit hängenden Zügeln neben ihnen, ohne die Steigbügel zu benutzen. Bei Istas Worten wandte sie interessiert den Kopf.

»Oh, es ist alles gut gegangen. Ich habe den Dämon dem Erzprälaten von Taryoon übergeben, und wir waren beide zugegen, als er gebannt wurde. Nun ist er aus der Welt geschafft. Tatsächlich war ich gerade auf dem Rückweg von dieser Unternehmung, als ich in Valenda übernachtet habe, wo ich dann …« Mit einer Kopfbewegung in Richtung der hinter ihnen aufgereihten Reiterschar verwies er auf seine unerwarteten neuen Pflichten im Dienste der Königin.

»Ein Dämon? Ihr hattet einen Dämon?«, warf Liss mit verwunderter Stimme ein.

»Ich hatte keinen Dämon«, berichtigte der Geistliche. »Er war in ein Frettchen gefahren. Zum Glück ein Tier, mit dem man leicht fertig wird, verglichen mit einem Wolf oder einem Stier, zum Beispiel. Oder gar mit einem Menschen, der sich die Macht des Dämons zu Nutze machen will.«

Liss verzog das Gesicht. »Wie schafft man einen Dämon aus der Welt?«

Dy Cabon seufzte. »Man gibt ihn jemandem mit, der ebenfalls gerade die Welt verlässt.«

Eine Zeit lang vertiefte Liss sich stirnrunzelnd in den Anblick der Pferdeohren vor ihr; dann gab sie das Nachdenken auf. »Was?«

»Wenn der Dämon noch nicht zu stark geworden ist, dann ist das der einfachste Weg, ihn zurück zu den Göttern zu bringen: Man gibt ihn in die Obhut einer Seele, die selbst gerade den Weg zu den Göttern antritt. Die stirbt«, fügte er hinzu, als Ista ihn immer noch verständnislos anstarrte.

»Oh«, sagte sie. Und nach einer weiteren Pause: »Also … habt ihr das Frettchen getötet?«

»So einfach ist es leider nicht. Ein Dämon, dessen Wirtskörper stirbt, wechselt einfach auf einen neuen über. Du musst wissen, dass ein Elementargeist, der in die grobmaterielle Welt entweichen konnte, dort nicht überleben kann, wenn ihm nicht ein materielles Geschöpf Verstand und Stärke leiht. Denn es liegt nicht in seiner Natur, eine solche Ordnung aus sich selbst heraus zu bilden. Er kann sie nur stehlen. Zu Anfang ist der Dämon ohne Bewusstsein und ohne Gestalt, wild und zerstörerisch und dabei doch so unschuldig wie ein wildes Tier — die Sünde muss er erst von den Menschen lernen. Aber er ist auch beschränkt durch die Fähigkeiten des Menschen oder Tiers, von dem er sich nährt. Ein Dämon, der seinen Wirt verliert, wird stets versuchen, auf die stärkste Seele überzuspringen, an die er herankommen kann — von einem Tier auf ein größeres Tier, von diesem Tier auf einen Menschen, von diesem Menschen zu einem stärkeren und klügeren Menschen, denn auf gewisse Weise wird der Dämon zu dem, was er … verzehrt.«

Dy Cabon holte tief Luft und schien in irgendwelchen Tiefen der Erinnerung zu versinken. »Aber wenn ein Geistlicher von großer Weisheit schließlich im Sterben liegt, unter der Obhut seiner Kirche, kann man einen Dämon dazu zwingen, auf ihn überzuwechseln. Und wenn der Dämon noch schwach genug ist, und der Geistliche stark ist an Weisheit und Entschlossenheit, und wenn er bis zum Ende nicht wankend wird … nun, dann erledigt sich die Angelegenheit von selbst.« Er räusperte sich. »Dazu bedarf es einer großen Seele, die sich schon von der Welt entfernt hat und sich nach ihrem Gott sehnt. Denn einen schwächeren Menschen kann der Dämon zur Zauberei verführen, indem er ihm verspricht, sein Leben zu verlängern.«

»Eine solche Stärke ist selten«, meinte Ista. War dy Cabon vielleicht erst vor kurzem Zeuge einer solch außergewöhnlichen Szene am Sterbebett geworden? Es machte den Eindruck. Kein Wunder, dass er bei der Erinnerung daran ehrfürchtig und demütig wirkte.

Mit einem knappen Schulterzucken pflichtete dy Cabon ihr bei. »Ja. Ich wüsste nicht, ob ich selbst … Doch zum Glück sind frei umherziehende Dämonen selten. Obwohl …«

»Obwohl was?«, bohrte Liss nach, als der immer spärlichere theologische Vortrag allem Anschein nach ganz ins Stocken kam.

Dy Cabon schürzte die Lippen. »Der Erzprälat war überaus beunruhigt. Mein Fall war der dritte entwichene Dämon, der in diesem Jahr allein in Baocia aufgegriffen worden ist.«

»Wie viele fangt Ihr denn normalerweise?«, wollte Liss wissen.

»Nicht mal einen im Jahr in ganz Chalion. Jedenfalls war es seit langer Zeit so. Die letzte große Heimsuchung gab es in den Tagen König Fonsas.«

Dem Vater von Ias und Iselles Großvater, der vor fünfzig Jahren gestorben war.

Ista dachte über dy Cabons Worte nach. »Und was geschieht, wenn der Dämon schon zu stark geworden ist?«

»Ja, was dann?«, sagte dy Cabon. Er schwieg einige Augenblicke und starrte auf die Ohren seines Maultiers, die wie Ruder zu beiden Seiten des Kopfes herabhingen. »Eben deshalb verwendet meine Kirche so große Mühe und so viel Überlegung darauf, die Dämonen zu bannen, solange sie noch schwach sind.«

Die Straße verengte sich wieder und wand sich zu einer kleinen Steinbrücke hinunter, die sich über einen Strom mit grünlichem Wasser wölbte. Mit einem höflichen Gruß zu Ista trieb dy Cabon sein Maultier an und setzte sich an die Spitze.

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