28

Die Trauerfeierlichkeiten für Arhys fanden am nächsten Morgen statt, im kleinen Tempel unten in der Stadt von Porifors — ganz so, als wäre ein gewöhnlicher Grundherr aus dem Grenzgebiet in irgendeiner gewöhnlichen Schlacht gefallen. Der Herzog von Caribastos war mit seinen Truppen eingetroffen, zu spät, um die Waffen aufzunehmen, doch rechtzeitig genug, um beim Tragen des versiegelten Sarges zu helfen. Der Herzog von Baocia, der Graf dy Oby, Illvin, Foix und einer von Arhys’ höchsten Offizieren waren die weiteren Sargträger; es war ein so ehrenhaftes Geleit, wie man es nur haben konnte.

Das heilige Tier des Wintervaters war hier ein prachtvoller, alter grauer Jagdhund. Sein Fell war für den Anlass so lange gebürstet worden, bis es silbern schimmerte. Er setzte sich sofort neben der Bahre nieder, nachdem sein Pfleger-Akolyth ihn herangeführt hatte, und war danach nicht wieder von der Stelle zu bewegen. Der für gewöhnlich so wortgewandte Illvin wirkte blass und verschlossen. Er bekam bloß ein schlichtes »Er hatte eine große Seele …« hervor, mit erstickter Stimme, und trat dann zurück an Istas Seite. Es war deutlich zu sehen, dass jedes weitere Wort ihn hätte zusammenbrechen lassen. Um ihn zu schonen, traten dy Oby und dy Caribastos vor und hielten die anstehenden Reden, listeten die bekannten Leistungen ihres verstorbenen Schwiegersohnes und Lehnsmannes auf.

Auch Lady Cattilara war blass und still. Sie sprach so wenig wie möglich mit Illvin, und er hielt es ebenso. Vermutlich würde sich zwischen den beiden nie eine Freundschaft entwickeln. Doch Ista hatte den Eindruck, das Blut, das sie zusammen auf dem Turm vergossen hatten, hatte für so viel gegenseitigen Respekt gesorgt, dass sie in Zukunft miteinander würden umgehen können. Mit zusammengebissenen Zähnen brachte Cattilara sogar ein höfliches Nicken in Istas Richtung zustande. Für sie drei war die morgendliche Zeremonie ein überflüssiger Abschied, eher eine gesellschaftliche Pflicht, die es zu ertragen galt, als die Stunde der Trennung.

Nach der Bestattung und dem Leichenschmaus zogen die militärischen Führer sich mit Illvin zur Beratung zurück. Lady Cattilara packte nachlässig ihre Sachen und überließ es ihren Damen, sich um den Rest zu kümmern. Dann ritt sie in der Begleitung eines ihrer Brüder in Richtung Oby davon. Sie würde kaum vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen. Doch Ista erinnerte sich an ihr eigenes Grauen, das sie nach Ias’ Tod im Zangre verspürt hatte, und sie konnte Cattilaras Wunsch verstehen, nicht noch eine weitere Nacht im leeren Ehebett schlafen zu müssen. Als Cattilara über die Straße nach Osten davonritt, war sie von tiefer Trauer erfüllt. Doch Ista glaubte, dass keine erdrückende Last von Hass, Zorn oder Schuldgefühlen hinzukam. Sie wusste nicht, was erwachsen konnte, um die Leere in Cattis Herz zu füllen — doch zumindest hatte sie das Gefühl, dass es möglich war.


Früh am nächsten Nachmittag suchte Lord Illvin Ista in dy Baocias Lager auf. Zusammen stiegen sie den Pfad oberhalb der Quelle hinauf, zum Teil wegen des Ausblicks, der Porifors sowie das Tal umfasste, das die Burg beschützte, zum Teil aber auch, um jede Möchtegern-Zofe abzuschütteln, die weniger kräftig war als Liss. Galant breitete Illvin seinen Mantel über einen Stein und ließ Ista darauf Platz nehmen. Liss wanderte in der Nähe umher und schaute sehnsüchtig zu einer verlockenden Korkeiche, die sie wegen ihres Kleides nicht erklettern konnte.

Ista deutete mit einem Nicken auf Illvins Gürtel, wo inzwischen sowohl Arhys’ wie auch Cattilaras Schlüssel hingen. »Wie ich sehe, hat Herzog dy Caribastos Euch den Befehl über Porifors bestätigt.«

»Zumindest für den Augenblick«, sagte Illvin.

»Für den Augenblick?«

Nachdenklich blickte er den Kamm entlang, wo sich die Wälle der Festung aus dem Felsen erhoben. »Es ist merkwürdig. Ich wurde in Porifors geboren und habe fast mein ganzes Leben dort verbracht, und doch habe ich es niemals besessen oder erwartet, es zu besitzen. Heute gehört es meiner Nichte Liviana — einem neunjährigen Mädchen, das ein halbes Herzogtum entfernt lebt. Und doch ist es mein Zuhause, mehr als jeder andere Ort. Mir gehört noch ein halbes Dutzend kleinerer Landgüter in Caribastos, Streubesitz meiner Mutter. Aber das sind Besitztümer, die ich kaum jemals besuche. Nun, Porifors muss immer noch verteidigt werden.«

»Notwendigerweise von Euch?«

Er zuckte die Achseln. »Es ist die wichtigste Festung an dieser Grenze.«

»Ich glaube, diese Grenze könnte sich bald verschieben.«

Er grinste. »Allerdings. Die Dinge sind in Bewegung, während unserer Beratungen. Und ich halte sie in Bewegung. Ich brauche nicht Arhys’ Fähigkeiten, um zu erkennen, dass der Zeitpunkt und der Zufall uns eine Gelegenheit schenken, die nicht ungenutzt vorübergehen sollte.«

»Darauf verlasse ich mich. Ich rechne damit, dass Marschall dy Palliar und Kanzler dy Cazaril binnen einer Woche in Porifors einreiten. Wenn die Briefe von meinem Bruder, von dy Caribastos und von Foix sie nicht herbeilocken«, und von mir, »sind sie nicht die Männer, für die ich sie halte.«

»Werden sie es erkennen? Was meint Ihr? Hier und jetzt ist der Augenblick, Joens Strategie umzukehren — unerwartet über Jokona herzufallen, während es noch in Aufruhr ist, und dann Visping von der Flanke her anzugreifen. Der Feldzug könnte vorüber sein, noch bevor er überhaupt anfangen sollte.«

»Man braucht nicht das zweite Gesicht, um das vorauszusehen«, meinte Ista. »Wenn es erfolgreich verläuft, wird dy Palliar ohne Zweifel für seine großartige Strategie bewundert werden.«

Illvin lächelte grimmig. »Die arme Joen. Selbst diese Ehre bleibt ihr vorenthalten. Sie hätte General sein sollen.«

»Jede andere Rolle wäre besser für sie gewesen als die des unzufriedenen Puppenspielers, auf die sie beschränkt war«, pflichtete Ista ihm bei. »Was wird mit Sordso geschehen? Ich glaube, er ist nicht verrückt, auch wenn er mir gestern unter Tränen den Rocksaum geküsst hat, als ich auf dem Vorhof an ihm vorüberkam. Er hat seine Seele jetzt wieder zurück, aber es wird noch lange dauern, bis er diese Erschütterung überwinden kann.«

»O ja. Man kann kaum sagen, wie er nützlicher für uns sein kann — als Geisel, oder wenn wir ihn freilassen und unseren Feinden damit einen sehr schlechten Anführer verschaffen.«

»Er sprach sogar von einer religiösen Berufung, von einem Übertritt zum quintarischen Glauben. Ich habe keine Ahnung, wie lange diese Anwandlung andauern wird.«

Illvin schnaubte. »Vielleicht macht das einen besseren Dichter aus ihm.«

»Das würde mich nicht wundern.« Die Zinnen der Burg zeichneten sich blass und schlicht im hellen Licht ab und verbargen die Schäden, die im Innern gerade ausgebessert wurden. Ista hörte den leisen Widerhall von Hammerschlägen. »Wenn erst einmal Livianas zukünftiger Ehemann die Herrschaft über Porifors antritt, wird es eine stille Provinzstadt geworden sein, wie Valenda. Dieser Ort hat sich den Frieden verdient.« Sie sah zu Illvin hinüber, der auf sie hinunter lächelte. »Zwei Dinge gehen mir im Augenblick durch den Kopf.«

»Nur zwei?«

»Zweitausend, doch das sind die wichtigsten. Zum einen braucht mein fahrender Hof einen königlichen Seneschall, einen fähigen und erfahrenen Offizier. Vorzugsweise jemanden, der sich in der Gegend auskennt, um meine Reiseroute zu planen und meine persönliche Sicherheit zu gewährleisten.«

Ermutigend hob er die Brauen.

»Zum anderen wird Marschall dy Palliar einen erfahrenen Kundschafter benötigen, um ihn bei seinem Vorgehen in dieser Region zu beraten. Einen Offizier, der Jokona und die Jokoner besser als jeder andere kennt, der sowohl höfisches wie auch Gossenroknari sprechen und schreiben kann, und der möglichst kofferweise Karten, Skizzen und Grundrisspläne besitzt. Ich fürchte stark, dass diese beiden Posten einander ausschließen.«

Nachdenklich legte er einen Finger auf die Lippen. »Ich könnte anmerken, dass verschiedene militärische Befehlshaber unabhängig voneinander auf den Gedanken kamen, dass jede Armee, die im Augenblick nordwärts marschieren möchte, sehr glücklich sein könnte, wenn sie ein Mittel gegen Dämonen hätte. Für den Fall, dass der Feldzug noch mit weiteren feindlichen Zauberern konfrontiert wird. Den Schutz einer solchen zauberkräftigen Heiligen würde man sich durchaus etwas kosten lassen. Also könnte es sein, dass der Seneschall der Heiligen und der Kundschafter des Marschalls letztendlich gar nicht einmal so weit auseinander arbeiten werden.«

Ista runzelte die Stirn. »Ach? Möglicherweise … Aber es muss deutlich gemacht werden, dass die Heilige nicht Chalion dient, nicht einmal der Kirche, sondern einzig und allein dem Gott. Sie muss gehen, wohin der Gott sie führt. Für eine Weile mag sie ihr Lager neben dem des Marschalls aufschlagen, doch sie wird nicht in sein Lager einziehen. Nun gut, dy Cazaril dürfte das verstehen. Und er wird es auch dy Palliar einhämmern können. Wenn nicht er, wer dann?«

Nachdenklich blickte er auf die Straße im Tal. »Eine Woche, bis sie ankommen, meint Ihr?«

»Höchstens zehn Tage.«

»Hm.« Seine langen Finger klimperten mit den Schlüsseln am Gürtel. »In der Zwischenzeit … Eigentlich bin ich gekommen, um Euch einzuladen, wieder Räumlichkeiten in Burg Porifors zu beziehen, jetzt, wo wir ein wenig Ordnung geschaffen haben. Wenn Ihr es wünscht. Ein Wetterwechsel steht an, dem Wind nach zu urteilen. Morgen Nacht könnten wir Regen bekommen.«

»Ich hoffe, Ihr wollt mir nicht Umerues frühere Gemächer anbieten.«

»Nein, dort haben wir Fürst Sordso und seine Aufpasser untergebracht.«

»Auch nicht Cattilaras.«

»Dy Caribastos und sein Gefolge haben diese ganze Galerie in Beschlag genommen.« Er räusperte sich. »Ich dachte an die Gemächer, die ihr zuletzt bewohnt habt. Gegenüber den meinen. Allerdings … Ich fürchte, Ihr werdet dort nicht genug Platz haben, um all Eure Damen unterzubringen.«

Ista unterdrückte ein Grinsen. »Vielen Dank, Lord Illvin. Es wäre mir ein Vergnügen.«

Seine dunklen Augen funkelten. Seine Technik beim Handkuss verbesserte sich merklich mit zunehmender Übung.


Ista ließ ihre wieder herbeigeschaffte Garderobe aus Valenda in ihre neuen Gemächer bringen. Selbst abzüglich sämtlicher Kostüme in Witwengrün, die sie in den Zelten ihres Bruders zurückließ, blieb genug, dass sie von nun an nicht mehr auf geliehene Kleidung angewiesen sein würde. Ein wenig später geleitete dy Baocia sie von seinem Lager zur Burg. Foix schloss sich an und wandelte sich mühelos vom Wachposten zum Höfling.

Dy Baocias Wandlung verlief weniger glatt, doch alles in allem kam er bemerkenswert gut mit der neuen Ista zurecht. Er vermied es, über die beunruhigenden Aspekte des Herunterschluckens der Dämonen zu reden, und erwähnte selten ihren Gott. Doch er nahm Anteil an den praktischen Bedürfnissen ihrer neuen Berufung, mit erfreulicher Aufmerksamkeit für die Einzelheiten.

»Wir müssen noch den Umfang deiner Leibwache festlegen«, merkte er an, als sie Porifors’ Tore durchschritten. »Zu viele wären eine große Belastung für deine Kasse, doch zu wenige könnten sich als falsche Sparsamkeit erweisen.«

»Sehr richtig. Ich nehme an, dass meine Bedürfnisse sich mit dem Aufenthaltsort ändern. Setz es auf die Liste der Dinge, die ich noch mit meinem Seneschall besprechen muss. Er wird am besten wissen, wie viele Männer welche Region erfordert.«

»Wird dein Seneschall dir auch als Rittmeister dienen, wie seinem verstorbenen Bruder? Oder soll ich dir jemanden empfehlen?«

»Ser dy Arbanos Pflichten werden ihn zu sehr beanspruchen. Ich habe allerdings schon jemand anderen im Sinn, wenn ich auch nicht sicher bin, ob er das Amt annehmen wird. Wenn nicht, komme ich gern auf deine Empfehlung zurück.«

»Was denn? Es ist doch nicht dy Gura?«, fragte dy Baocia, und Foix bedachte ihn mit einer knappen, liebenswürdigen Verbeugung. »Oder sein wackerer Bruder?«

»Ferda wird bereits von seinem Vetter, dem Marschall dy Palliar, für den anstehenden Feldzug beansprucht. Er wird nicht mehr lange hier sein. Und selbst wenn Foix ein Offizier in meinen Diensten bleibt, so wird er doch sehr viel im Auftrag des Tempels unterwegs sein. Die Pflichten eines Rittmeisters erfordern allerdings dauernde Anwesenheit. Ich bin mir nicht sicher, welchen Titel ich Foix verleihen soll. Königlicher Zauberer? Meister der Dämonen?«

»Mir würde es völlig ausreichen, wenn ich Ritter bliebe, Majestät«, warf Foix hastig ein.

»Dann werde ich zuerst eine Aufgabe für Euch finden, und dann den Titel«, meinte Ista. »Doch Ihr werdet etwas brauchen, um damit prahlen zu können, wenn wir an anderen Höfen zu Gast sind. Ein gewisser … majestätischer Hochmut wird von Euch erwartet, und Ihr werdet ihn um meinetwillen pflegen müssen.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wie Ihr befehlt, Majestät.«

Sie bogen in den steinernen Innenhof ein und stiegen zur Galerie hinauf. Ista unterdrückte ein Schaudern, als sie über jene Stufen schritt, auf denen sie einem Gott gegenübergestanden hatte. Aus der geöffneten Tür ihres Doppelzimmers drang eine vertraute, aber unerwartete Stimme.

»Sie legt keinen Wert mehr auf deine Dienste«, verkündete Lady dy Hueltar würdevoll. »Sie hat keine Verwendung für dich. Ich bin jetzt hier, und ich kann dir versichern, ich bin sehr viel besser vertraut mit all ihren Bedürfnissen, als du es jemals sein wirst. Also lauf wieder zurück zu den Ställen, oder wo immer du herkommst. Fort, fort!«

»Aber das kann nicht sein«, erwiderte Liss überrascht.

Foix hob die Brauen, kniff sie dann finster zusammen. Ista bedeutete ihm, sich zurückzuhalten; dann schob sie sich ins Vorzimmer. Die Männer kamen hinterdrein.

»Was ist das für eine Streiterei?«, wollte Ista wissen.

Rote Flecken glühten auf Lady dy Hueltars Wangen. Sie zögerte und holte dann tief Luft. »Ich habe diesem ungehobelten Mädchen hier erklärt, dass Ihr mit Eurer überhasteten Pilgerfahrt nun fertig seid, liebe Ista, und dass Ihr wieder einer angemessenen Zofe bedürft, keiner Pferdepflegerin.«

»Ganz im Gegenteil. Ich brauche Liss dringend.«

»Aber sie ist nicht geeignet, um einer Königin aufzuwarten! Sie ist nicht mal eine Dame!«

Liss kratzte sich am Kopf. »Nun, das ist wahr. Ich verstehe nicht viel vom Warten. Ich eigne mich besser für schnelles Reiten.«

Ista lächelte. »Allerdings.« Ihr Lächeln wurde ein wenig angespannt, als sie an die Szene dachte, in die sie eben hineingeplatzt war. Hatte Lady dy Hueltar tatsächlich geglaubt, sie könnte Liss von ihrer Seite fortlocken oder vertreiben, sie wegschicken und sie glauben machen, sie wäre entlassen?

Unter Istas kühlem Blick machte Lady dy Hueltar eine unsichere Bewegung. »Nun, da Ihr Euch ein wenig beruhigt habt, Lady Ista, sollten wir an unsere sichere Rückkehr nach Valenda denken. Euer lieber Bruder hier wird Euch für die Reise gewiss eine angemessenere Wache zur Verfügung stellen.«

»Ich kehre nicht nach Valenda zurück. Ich folge unserem Heer nach Jokona, um dort im Namen des Bastards nach Dämonen zu jagen«, erwiderte Ista. »Sicherheit spielt bei den Aufgaben des Gottes keine große Rolle.« Ihre Mundwinkel hoben sich, doch man konnte es kaum noch als Lächeln bezeichnen. »Hat Euch denn niemand etwas gesagt, meine liebe Lady dy Hueltar?«

»Ich habe es ihr gesagt«, warf Liss ein. »Schon mehrmals.« Sie senkte die Stimme und fügte vertraulich, an Ista gewandt, hinzu: »Aber es ist schon in Ordnung. Ich hatte mal eine Großtante, die in ihrem Alter ebenso verwirrt war. Das arme Ding.«

»Ich bin nicht …«, setzte Lady dy Hueltar mit erhobener Stimme an, stockte dann und begann von neuem: »Das ist viel zu gefährlich. Bitte überlegt es Euch noch einmal, liebste Ista. Lord dy Baocia, Ihr seid doch jetzt das Haupt der Familie. Ihr müsst darauf bestehen, dass sie Vernunft annimmt!«

»Eigentlich«, stellte Ista fest, »ist er schon seit anderthalb Dekaden das Haupt der Familie.«

Dy Baocia schnaubte und murmelte halblaut: »O ja, überall in Baocia, außer in Valenda …«

Ista ergriff Lady dy Hueltars Hand und legte sie entschlossen auf den Arm ihres Bruders. »Ich bin mir sicher, Ihr seid sehr müde, gute Dame, nachdem Ihr so weit und so rasch gereist sind, und das aus so geringer Notwendigkeit. Aber mein Bruder wird dafür sorgen, dass Ihr morgen sicher nach Hause aufbrechen könnt — oder heute noch.«

»Ich habe schon meine Sachen hierher bringen lassen …«

Ista warf einen Blick auf die Gepäckstapel. »Die Diener werden sie zurückbringen. Ich werde später noch mit dir reden, Bruder.« Mit einigen dezenten Andeutungen lenkte sie beide durch die Tür nach draußen. Nachdem die letzte Hoffnung auf Unterstützung seitens dy Baocia zunichte war, zog Lady dy Hueltar sich an seiner Seite zurück. Missmutig gingen sie nebeneinander her, und die alte Dame wirkte zutiefst gekränkt.

»Wo ist die Frau denn hergekommen?«, fragte Foix und schüttelte fassungslos den Kopf.

»Ich habe sie geerbt.«

»Mein Beileid.«

»Sie wird darüber hinwegkommen. Mein Bruder wird schon irgendeinen Zweig der Familie finden, wo er sie unterbringen kann. Das dürfte ihr zwar nicht so sehr gefallen wie ein fürstlicher Haushalt, aber vielleicht befriedigt es sie ein wenig, ihren früheren Ruhm zur Schau zu stellen. Sie lebt nicht einfach nur auf anderer Leute Kosten, müsst Ihr wissen; in gewissem engem Rahmen macht sie sich recht nützlich. Es ist allerdings traurig, dass sie selbst die Dankbarkeit zunichte macht, die eigentlich ihr Lohn sein sollte.«

Foix blickte zu Liss, deren Gesicht ein wenig reserviert wirkte. Dann merkte er an: »Nun, meine Dankbarkeit hält sich jedenfalls in Grenzen, fürchte ich.«

Liss schwang ihren Zopf durch die Luft. »Es ist auch egal.«

»Hat sie tatsächlich versucht, dich davon zu überzeugen, ich hätte dich entlassen?«, fragte Ista.

»O ja. Sie war sehr verärgert, als ich mich dumm gestellt und ihre Hinweise nicht verstanden habe.« Liss’ Mundwinkel zuckten nach oben. »Doch sie hat Recht. Ich bin keine richtige hochwohlgeborene Dame.«

Ista lächelte. »Ich nehme an, noch bevor das Jahr vorüber ist, werden wir mit Iselles und Bergons Hof zusammentreffen … in Visping, wenn nicht schon früher. Und dann sollst du tatsächlich zu einer Dame werden, auf meine Bitte hin und wegen deiner Kühnheit. Sera Annaliss dy … wie hieß noch mal dieses von Schafen verseuchte Dorf?«

»Teneret, Majestät«, hauchte Liss.

»Sera Annaliss dy Teneret, Kammerfräulein der Königinwitwe Ista. Klingt das nicht würdevoll? Was meint Ihr, Foix?«

Er grinste. »O ja. Ich denke, meiner Mutter würde es gefallen. Nun, der Bastard weiß, irgendetwas muss ich ihr anbieten, um … äh, das mit dem Bastard für sie gutzumachen.«

»Ach, du trachtest nach gesellschaftlichem Aufstieg? Nun, unmöglich ist es nicht. Dieses Jahr wird jungen Offizieren viele Möglichkeiten zum Vorankommen bieten, nehme ich an «

Foix bedachte Liss mit einer höfischen Verbeugung. »Darf ich danach trachten, werte Dame?«

Liss musterte ihn lächelnd und nachdenklich. Dann wanderte sie im Gemach umher und räumte Istas Sachen auf. »Fragt mich noch einmal in Visping, Ritter.«

»Das werde ich.«


Ista wies dy Cabon an, Goram zu ihr in den steinernen Innenhof zu bringen. Sie saß im Schatten des Säulengangs auf der Bank, auf der sie sich das erste Mal mit ihm unterhalten hatte, und betrachtete die Unterschiede.

Goram dy Hixar trug noch immer die Kleidung eines Knechts, seine Gestalt war immer noch klein gewachsen, seine Beine noch immer gebeugt, sein Bart so grau wie zuvor. Doch er kauerte sich nicht mehr so schildkrötenartig zusammen und bewegte sich mit dem Gleichgewicht eines Schwertkämpfers. Seine höfliche Verbeugung war geschmeidig genug für jeden Adelshof in der Provinz.

»Ich nehme an, Hochwürden dy Cabon hat Euch davon in Kenntnis gesetzt, dass ich nach einem Rittmeister suche?«, begann Ista.

»Ja, Majestät.« Dy Hixar räusperte sich unbehaglich und schluckte angesichts ihrer Gegenwart den Speichel herunter. Der alte Goram, überlegte sie, hätte ihn ausgespuckt.

»Seid Ihr dieser Aufgabe gewachsen?«

Er verzog das Gesicht. »Der Arbeit ja. Aber, Majestät … ich bin nicht sicher, ob Ihr versteht, wer ich war … wer ich bin. Weshalb niemand ein Lösegeld für mich zahlen wollte.«

Sie zuckte die Achseln. »Ein Hauptmann der Reiterei, ein Schwertkämpfer, Schläger, Mörder, der manch ein Leben auf dem Gewissen hat, und nicht nur das von Feinden, sondern auch das von Freunden … soll ich weitermachen? Die Art von Kerlen, deren Grabreden alle denselben Tenor haben: Welch eine Erleichterung.«

Er zuckte zusammen. »Ich sehe, ich muss Euch nichts mehr gestehen.«

»Nein. Ich habe es gesehen.«

Er blickte beiseite. »Alle meine Sünden sind offenbart … Das ist eine merkwürdige Sache, Majestät. Im Allgemeinen wird es als ein Wunder der Götter angesehen, dass sie die Sünden von einem nehmen. Doch Euer Gott hat all meine Sünden zu mir zurückgebracht. Goram der Knecht war ein hundertmal besserer Mensch, als Goram dy Hixar jemals sein kann. Ohne eigenen Verdienst wurde ich gerettet und bekam vor drei Jahren die Gelegenheit, als unbeschriebenes Blatt mit den beiden besten Männern in Caribastos zusammenzuleben. Nicht nur den besten Kriegern, sondern den besten Männern, versteht Ihr?«

Sie nickte.

»Davor hatte ich kaum eine Vorstellung, dass es überhaupt möglich sein konnte, so zu leben. Ich wollte es auch gar nicht wissen“. Ich hätte gespottet und gelacht über ihre Tugenden. Lord Illvin dachte, ich würde von Freude übermannt, als ich im Vorhof vor Euch auf die Knie fiel. Doch es war nicht die Freude, die mich niedergestreckt hat. Es war Scham.«

»Ich weiß.«

»Ich will nicht der sein, der ich bin. Vorher war ich glücklicher, Majestät. Doch anscheinend denkt jeder, ich sollte den Göttern dafür danken.«

Sie bedachte ihn mit einem ironischen Lächeln. »Glaubt mir, ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Aber Eure Seele ist nun wieder die Eure, und Ihr könnt daraus machen, was Ihr wollt. Wir alle, jeder von uns, sind das, was wir aus uns machen. Am Ende unseres Lebens bieten wir unsere Seelen unseren Schutzherrn an wie ein Handwerker das Werk seiner Hände.«

»Wenn das so ist, bin ich verpfuscht, Majestät.«

»Ihr seid noch unvollendet. Unsere Schutzherrn sind wählerisch, aber ich glaube, es ist nicht unmöglich, sie zufrieden zu stellen. Der Bastard selbst sagte zu mir …«

Dy Cabon atmete keuchend ein.

»… dass die Götter keine makellosen Seelen wollen, sondern bedeutsame. Ich denke, dass die Größe aus der Dunkelheit erwächst, wie Blumen aus dem Erdreich. Vielleicht kann Größe überhaupt nicht ohne Dunkelheit erblühen. Ihr wurdet von den Göttern ebenso berührt wie jeder hier. Gebt Euch nicht selbst auf.«

Seine matten grauen Augen röteten sich. Tränen schimmerten darin. »Ich bin zu alt, um noch einmal neu anzufangen.«

»Ihr habt noch mehr Jahre vor Euch als Pejar, der nur halb so alt war wie Ihr und den wir vor zwei Tagen hier vor den Mauern begraben haben. Stellt Euch an sein Grab und nutzt die Gabe des Atems, um Euch dort über Eure fehlende Zeit zu beklagen. Wenn Ihr es wagt.«

Er zuckte beim eisernen Klang ihrer Stimme zusammen.

»Ich biete Euch einen ehrenvollen Neubeginn. Ich kann Euch keine Versicherung geben, wie es ausgeht. Ein Versuch kann scheitern, doch nicht so sicher wie ein Unterfangen, das gar nicht erst angegangen wird.«

Er atmete langsam aus. »Nun … wenn es so ist, und da Ihr das alles von mir wisst … und ich glaube, Ihr wisst mehr von mir, als ich jemals einer lebenden oder toten Seele eingestanden habe … Wenn Ihr mich haben wollt, bin ich Euer Mann, Majestät.«

»Ich danke Euch, Hauptmann. Als mein Rittmeister werdet Ihr Eure Befehle von meinem Seneschall erhalten. Ihr werdet in ihm einen erträglichen Vorgesetzten finden.«

Goram lächelte leicht und verabschiedete sich.

Dy Cabon blieb noch einen Augenblick bei ihr stehen und sah zu, wie Goram dy Hixar aus dem Hof schritt. Er wirkte beunruhigt.

»Nun, dy Cabon? Wie fühlt Ihr Euch jetzt in Bezug auf Euren Wunsch, Zeugnis abzulegen?«

Er seufzte. »Wisst Ihr … von den Göttern erwählt sein ist … nun, kein so großes Vergnügen, wie ich gedacht hatte, damals in Valenda, bei unserem Aufbruch. Ich war insgeheim schrecklich aufgeregt, weil ich dafür ausgewählt wurde, die Arbeit des Gottes zu tun.«

»Ich habe versucht, es Euch zu erklären. Als wir in Casilchas waren.«

»Ja. Ich glaube, heute verstehe ich Euch besser.«

»Mein Hof wird auch einen Geistlichen brauchen, wie Ihr wisst. Da ich nun eine Art Laienschwester in der Kirche des Bastards bin, dürftet Ihr gut zu mir passen. Wir werden vermutlich in die fünf Fürstentümer reiten. Wenn Ihr tatsächlich das Märtyrertum erstrebt, wie Eure früheren Predigten vermuten ließen, findet Ihr dort vielleicht eine Gelegenheit.«

Er wurde rot. »Fünf Götter, was für dümmliche Predigten!« Er holte tief Luft. »Ich wäre froh, wenn wir das mit den Märtyrern übergehen könnten. Doch was das Übrige betrifft, sage ich Ja, Majestät, von ganzem Herzen. Auch ohne Träume, die mir den Weg weisen … ganz besonders, weil ich keine Träume hatte, die mir den Weg weisen sollten. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich noch Wert darauf lege.« Er zögerte und fügte hinzu, mit einer Sehnsucht in der Stimme, die so gar nicht zu seinen vorherigen Worten passen wollte: »Ihr sagtet … Ihr habt ihn tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gesehen, in Euren Träumen? In Euren Wahrträumen?«

»Ja.« Ista lächelte. »Einmal hat er Eure Gestalt angenommen, um mit mir zu sprechen. Wie es scheint, hält Euch zumindest einer nicht für unwürdig, Seine Farben zu tragen. Andernfalls hätte Er wohl kaum im Gegenzug Eure fleischliche Erscheinung gewählt.«

»Oh.« Dy Cabon blinzelte, während er dies auf sich wirken ließ. »Ist das so? Wirklich? Ach du meine Güte.« Er blinzelte wieder. Als er sich von ihr verabschiedete, zuckten seine Mundwinkel immer noch nach oben.


Nach dem Abendessen, als die Sonne schon untergegangen war und weiße Sterne am kobaltfarbenen Himmel über dem steinernen Innenhof schimmerten, kam Lord Illvin die Treppen empor und klopfte an die Tür zu Istas Gemächern. Liss ließ ihn mit einem freundlichen Knicks ins Vorzimmer. Mit verwirrter Miene hielt er Ista die Hände entgegen.

»Schaut. Das habe ich am Aprikosenbaum im Vorhof gefunden, als ich gerade eben vorüberging.«

Liss blickte darauf. »Das sind Aprikosen. Macht eigentlich Sinn, dass Ihr sie da gefunden habt … oder nicht?« Sie zögerte.

Die Früchte waren groß und von kräftiger Farbe, mit einer feinen Röte auf der tiefgoldenen Haut. Ista beugte sich vor, um besser zu sehen, und schnupperte den süßen Duft. »Sie riechen wunderbar.«

»Ja, aber … wir haben nicht die richtige Jahreszeit. Meine Mutter hat diesen Baum bei meiner Geburt angepflanzt, und den Mandelbaum für Arhys. Ich weiß genau, wann die Früchte reifen. Ich konnte es mein Leben lang beobachten. Das ist noch Monate hin! Der Baum trägt immer noch ein paar Blüten, auch wenn die Hälfte der Zweige abgefallen ist. Diese beiden Früchte wuchsen zwischen den verbliebenen Ästen versteckt — ich habe sie nur zufällig gesehen.«

»Wie schmecken sie denn?«

»Ich habe mich nicht recht getraut, hineinzubeißen.«

Ista lächelte. »Vielleicht kommen sie zur falschen Jahreszeit, aber ich glaube nicht, dass sie ein Unglück sind. Vielleicht sind sie ein Geschenk. Es wird schon seine Richtigkeit haben.« Mit einem Fuß stieß sie die Tür zum hinteren Zimmer auf. »Kommt mit. Lasst uns davon kosten.«

»Ah …«, meldete Liss sich zu Wort. »Ich kann in Sichtweite bleiben, wenn Ihr die Tür offen lasst. Doch ich glaube nicht, dass ich außer Hörweite kommen kann.«

Mit einer Kopfbewegung schickte Ista Illvin durch die Verbindungstür. »Entschuldige uns bitte einen Augenblick.«

Er lächelte, nickte würdevoll und ging in den Nebenraum. Ista schloss die Tür hinter ihm und wandte sich dann Liss zu. »Ich nehme an, ich habe dir noch nicht diese anderen Regeln für diskrete Zofen erklärt …«

Das tat sie dann, mit deutlichen, aber höflichen Worten. Liss’ Augen glänzten so hell wie die Sterne draußen am Himmel, während sie aufmerksam zuhörte. Ista war erleichtert, wenn auch nicht überrascht, als Liss weder verwirrt noch schockiert wirkte. Allerdings hätte sie nicht gleich Begeisterung erwartet. Unversehens fand sie sich durch die Tür geschoben, die hinter ihr geschlossen wurde, kaum dass sie geendet hatte.

»Ich glaube, ich setze mich ein Weilchen auf die Stufen, liebe Königin.« Liss’ Stimme drang gedämpft durch das Holz. »Es ist kühler draußen. Ich werde ziemlich lange dort sitzen, nehme ich an.« Ista hörte, wie auch die Außentür zufiel.

Illvin hatte Lachfältchen um die Augen. Er hielt ihr eine der Früchte entgegen. Ista nahm sie, und ihre Hand zuckte ein wenig, als die Finger versehentlich über seine strichen. »Nun«, sagte er und führte die Aprikose zum Mund. »Dann wollen wir beide mal mutig sein …«

Sie biss gleichzeitig mit ihm ab. Die Aprikose schmeckte so wunderbar, wie sie aussah, und obwohl Ista sich um Anmut bemühte, tropfte ihr am Ende doch der Saft vom Kinn. Sie tupfte daran herum. »Oh, du meine Güte …«

»Wartet«, sagte er und kam näher heran. »Lass mich helfen.«

Der Kuss währte sehr lange, und dabei spielten seine nach Aprikose duftenden Finger angenehm in ihrem Haar. Als sie innehielten und Atem holten, sagte Ista: »Ich habe stets befürchtet, dass göttlicher Beistand nötig wäre, um mir einen Liebhaber zu verschaffen … Ich nehme an, ich hatte Recht.«

»Na, na, schaut Euch an, bitter-süße Ista. Heilige, Zauberin, Königinwitwe von ganz Chalion-Ibra, die mit den Göttern spricht, wenn sie nicht gerade auf sie flucht — ein Mann müsste schon sehr wagemutig sein, von Euch auch nur so unhöflich zu denken. Das ist gut. Es wird die Zahl meiner Rivalen in Grenzen halten.«

Ista musste kichern. Sie hörte sich selbst und lachte laut. Verblüfft, erfreut und maßlos überrascht, schwelgte sie in diesem Lachen.

Und ich hatte schon Angst, ich wüsste nicht, wie ich das anfangen sollte …

Er sah groß aus, und großartig, in seiner wallenden schwarzen Tunika, der Hose und den Stiefeln. Doch noch besser, dachte sie und zog ihn neben sich aufs Bett, würde er ohne diese Sachen aussehen. In dieser warmen Nacht brauchte man keine Decken. Ista ließ einen Kerzenleuchter brennen, um die Gaben der Götter besser betrachten zu können.


ENDE
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