4

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und waren lange unterwegs; schließlich aber blieb das Ödland von Baocia hinter ihnen zurück. Die Landschaft wurde sanfter, weniger trocken, und war immer häufiger von Wäldern durchzogen, wobei sie zu den Bergen hin anstieg, die am westlichen Horizont eben noch zu erkennen waren. Doch unter der nun lieblicheren Oberfläche verbarg sich immer noch ein steiniges Skelett.

Die Stadtmauer von Casilchas schmiegte sich an eine kahle Felsnase; darunter trug ein schnell fließender Strom klares, kaltes Schmelzwasser von den fernen Höhen heran. Sowohl die Wälle wie auch die Gebäude waren aus grauen und ockerfarbenen Steinen errichtet, nur hier und da von rosafarbenem oder fahlgrünem Putz aufgelockert, oder von bemalten Türen und Fensterläden aus Holz, die im schräg einfallenden Schein der Abendsonne rot oder blau oder grün aufglühten. Man könnte diesen Anblick wie Wein genießen und trunken werden vor Farben, dachte Ista, während der klappernde Hufschlag ihrer Pferde in den schmalen Gassen widerhallte.

Der Tempel der Stadt lag einem kleinen Marktplatz gegenüber, der mit unregelmäßigen Granitplatten gepflastert war, die perfekt ineinander gefügt waren. Auf der anderen Seite befand sich das Priesterseminar des Bastards. Das Gebäude schien das alte Stadthaus eines einheimischen Adligen gewesen zu sein, das irgendwann der Kirche vermacht worden war.

Auf dy Cabons Klopfen hin öffnete sich eine kleine Pforte in dem schweren, eisenbeschlagenen Doppelportal, und der Pförtner trat heraus. Der ersten Begrüßung des Geistlichen begegnete er mit einem abweisenden Kopfschütteln, und dy Cabon verschwand mit ihm für eine Weile im Innern des Anwesens Dann schwangen unvermittelt beide Türflügel weit auf, und Stallknechte und Novizen eilten heraus, um sich der Reittiere und des Gepäcks der Reisegruppe anzunehmen. Istas Pferd wurde hineingeführt. Drei Stockwerke mit reich geschmückten hölzernen Galerien erhoben sich über dem gepflasterten Innenhof. Ein weiß gewandeter Akolyth kam herbei und stellte eine Trittbank bereit. Der Tempelvorsteher verneigte sich und entbot seinen ergebensten Willkommensgruß. Er redete Ista zwar mit Sera dy Ajelo an, doch sie gab sich keinen Illusionen hin: Er wusste, dass er vor Ista dy Chalion katzbuckelte: Dy Cabon war vielleicht weniger verschwiegen gewesen, als Ista es sich gewünscht hatte. Doch es brachte ihnen zweifellos bessere Räumlichkeiten ein, eifrigere Bedienstete und die bestmögliche Versorgung für ihre erschöpften Reittiere.

Man geleitete Ista und Liss zu ihrem Gemach und brachte ihnen sogleich das Waschwasser hinterdrein. Ista nahm an, dass es in dieser Akademie überhaupt keine geräumigen Gemächer gab, aber ihres war zumindest groß genug für ein Bett, ein Beistellbett sowie einen Tisch mit mehreren Stühlen. Zudem verfügte es über einen Balkon, der einen Ausblick auf die Stadtmauer und auf den Fluss hinter dem Hauptgebäude gewährte. Kurze Zeit später wurde den beiden Frauen eine Mahlzeit gereicht, die auf Servierbrettern gebracht wurden und der Jahreszeit entsprechend mit Blumengebinden in Blau und Weiß geschmückt waren.

Nach dem Abendessen nahm Ista ihre Zofe sowie Ferda und Foix als Eskorte und bummelte im verblassenden Tageslicht durch die Stadt. Mit ihren blauen Tuniken und den grauen Mänteln, die Schwerter mit Umsicht und nicht prahlerisch getragen, boten die beiden Ritter einen schmucken Anblick. Nicht wenige der Jungfrauen von Casilchas — und auch einige ältere Damen — schauten sich nach ihnen um, wenn sie vorübergingen.

Der Tempel war in der üblichen Bauweise errichtet, wenn auch in recht bescheidenem Maßstab: Vier Gebäudeflügel mit Kuppeldach, jeweils eins für jedes Mitglied der Heiligen Familie, gruppierten sich um einen offenen Innenhof, in dessen Mitte das Heilige Feuer brannte. Der Turm des Bastards stand ein wenig abseits hinter dem Sitz Seiner Mutter. Die Gebäude waren aus dem einheimischen grauen Gestein gemauert; die Dachgewölbe jedoch bestanden aus reich beschnitztem Holz, und entlang der Balken tollte eine wirre, kleine Schar farbenfroh bemalter Dämonen. Hinzu kamen Heilige sowie Tiere und Pflanzen, die zum jeweiligen Gott passten. Da die Stadt kaum eine andere Möglichkeit zur Zerstreuung bot, nahmen alle am abendlichen Gottesdienst in diesem Tempel teil. Ista war der Götter müde, musste aber zugeben, dass der Gesang ihr Freude bereitete, denn die Akademie des Bastards konnte einen hervorragenden Chor aufbieten. Der fromme Gesamteindruck wurde allerdings ein wenig gestört, da die weiß gewandete Chorleiterin immer wieder zu Ista herüberschaute und herauszufinden versuchte, was diese von der Darbietung hielt. Ista seufzte innerlich und achtete darauf, stets gebührend zu lächeln und zu nicken und die Sorgen der Frau zu zerstreuen.

Nach den drei Tagen auf der Straße waren Mensch und Tier erschöpft. Morgen würden sie alle hier Rast machen. Ista empfand ein Gefühl der Leichtigkeit — ob es nun von der Sonne herrührte, von der Anstrengung, von ihren fröhlichen jungen Begleitern oder einfach nur vom Abstand zu Valenda, vermochte sie nicht zu sagen. Doch sie war dankbar für diese Empfindung. Sie schmiegte sich unter das Federbett; sie empfand dieses Lager behaglicher als so manches schmuckvolle, aber weniger gemütliche Bett in den königlichen Schlössern. Sie schlief ein, noch ehe Liss auf ihrer Liegestatt zur Ruhe gekommen war.


Ista träumte, und sie wusste, dass es ein Traum war.

Sie überquerte den gepflasterten Innenhof einer Burg. Es war Mittag, irgendwann im späten Frühling oder frühen Sommer. Ein von steinernen Bögen überwölbter Wandelgang umsäumte den Hof; die zierlichen Säulen waren aus Alabaster und nach Art der Roknari mit einem filigranen Muster aus Weinreben und Blumen geschmückt. Die Sonne brannte heiß und hoch am Himmel, und die Schatten zeichneten sich schwarz und tief zu ihren Füßen ab. Sie stieg — nein, sie schwebte eine der Treppen empor, bis ganz hinauf, bis die Stufen oberhalb des Wandelgangs auf einer hölzernen Galerie endeten, und weiter … Am Ende der Galerie gab es einen Raum: Sanft glitt sie hinein, ohne die Tür zu öffnen. Das mit Schnitzwerk verzierte Holz teilte sich vor ihr wie Wasser, umschmeichelte ihre Haut und floss hinter ihr wieder zusammen.

Der Raum war kühl und schattig, doch durch die geschlossenen Fensterläden fiel ein Netz von Lichtstrahlen ein und ließ die gedämpften Farben auf den Webteppichen aufglühen. In dem Raum, ein Bett. Auf dem Bett, eine Gestalt. Ista glitt näher heran, wie ein Geist.

Die Gestalt war ein Mann, schlafend oder tot, auf jeden Fall bleich und reglos. Sein langer, hagerer Leib war mit einem Gewand aus ungefärbtem Leinen verhüllt, das über der Brust zusammengeschlagen war und an der Taille von einem Gürtel aus Leinen gehalten wurde. An der rechten Brust befand sich ein roter, dunkler Blutfleck auf dem Stoff.

Trotz des drahtigen Körperbaus waren die Gesichtsknochen des Mannes beinahe zerbrechlich: hohe Stirn, schmale Kiefern, spitzes Kinn. Seine Haut war makellos und ohne Narben, doch feine Fältchen liefen über seine Stirn, umrahmten den Mund und breiteten sich fächerförmig um seine Augen aus. Sein dunkles, ebenmäßiges Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt und floss neben dem Kopf über das Kissen und bis hinunter zu den Schultern, wie ein Fluss aus Schatten. Dazwischen schimmerten vereinzelte graue Strähnen wie eingewobenes Mondlicht. Die Augenbrauen waren gewölbt, die Nase gerade, die Lippen leicht geöffnet.

Istas geisterhafte Hände lösten den Gürtel und schlugen das leinene Gewand beiseite. Auf der Brust des Mannes zeichneten sich vereinzelte dünne Haare ab; im Schritt bildeten sie ein dichtes Nest. Der Vogel darin war recht ansehnlich und wohlgeformt, wie Ista mit einem Lächeln feststellte. Doch die Verletzung auf seiner linken Brust klaffte auf wie ein kleiner, dunkler Mund. Und noch während Ista schaute, quoll Blut daraus hervor.

Sie drückte die Hände auf den dunklen Spalt, um die Blutung zu stillen, doch die rote Flüssigkeit strömte zwischen ihren weißen Fingern hindurch — ein plötzlicher Strom, der sich über die Brust des Mannes ergoss und sich in scharlachroten Rinnsalen über die Decken ausbreitete. Der Mann riss die Augen auf, sah Ista und holte erschrocken Luft …

Ista erwachte, fuhr hoch und drückte sich den Fingerknöchel auf den Mund, um einen Schrei zu ersticken. Sie rechnete damit, Blut zu schmecken, warm, kupfern und klebrig, und war beinahe erschrocken, als dem nicht so war. Ihr Körper war schweißgebadet. Ihr Herz raste, und sie atmete keuchend wie nach einem schnallen Lauf.

Im Gemach war es dunkel und kalt, und anders als im Traum sickerte Mondlicht durch die Fensterläden. Liss auf ihrem Beistellbett murmelte etwas vor sich hin und drehte sich herum.

Es war einer von diesen Träumen gewesen. Einer der wahren Träume. Es war kein Irrtum möglich.

Ista umklammerte krampfhaft ihr Haar, riss den Mund auf, erstarrte, schrie lautlos. Flüsterte: »Ich verfluche dich. Wer von euch es auch ist. Alle fünf sollt ihr verflucht sein! Verschwindet aus meinem Kopf! Verschwindet aus meinem Kopf!«

Liss gab einen leisen Laut von sich wie ein Kätzchen und murmelte schläfrig: »Majestät? Ist Euch etwas geschehen?« Blinzelnd stützte sie sich auf einen Ellbogen.

Ista schluckte und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann räusperte sie sich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Nur ein schlechter Traum. Schlaf weiter, Liss.«

Liss schnaufte zufrieden und drehte sich wieder zur anderen Seite.

Ista ließ sich zurückfallen und verkroch sich unter dem Federbett, obwohl ihr Körper bereits schweißnass war.

Fing es wieder an?

Nein. Nein. Das lasse ich nicht zu. Sie schnappte nach Luft, schluckte schwer und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Nach einigen Minuten atmete sie ein wenig ruhiger.

Was war das für ein Mann gewesen? Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Doch wenn er ihr jetzt begegnete, würde sie sich sogleich an ihn erinnern. Wie ein Brandmal hatten sich seine ansprechenden Gesichtszüge in ihr Gedächtnis gegraben. Und auch … alle anderen Teile seines Körper. War er ein Feind? Ein Freund? Eine Warnung? Ein Bewohner Chalions, ein Ibraner, ein Roknari? Ein Edler oder ein Gemeiner? Was hatte der unheilvolle rote Blutstrom zu bedeuten? Nichts Gutes jedenfalls, so viel war sicher.

Was immer Du von mir willst, ich kann es nicht. Das habe ich schon einmal bewiesen. Geh weg von mir. Geh weg.

Zitternd lag sie da, für eine lange Zeit. Der Mondschein wich bereits dem dunstigen Zwielicht der ersten Morgendämmerung, als Ista wieder Schlaf fand.


Ista erwachte erst, nachdem Liss aufgestanden war und bereits wieder ins Gemach zurückkehrte. Peinlich berührt erkannte sie, dass ihre Zofe sie die Morgengebete hatte verschlafen lassen. Das war sehr unhöflich — sowohl für sie in ihrer Rolle als vorgebliche Pilgerin wie auch als Gast.

»Ihr habt so erschöpft ausgesehen«, entschuldigte sich Liss, als Ista sie deswegen tadelte. »Ich hatte den Eindruck, Ihr hättet letzte Nacht nicht gut geschlafen.«

Allerdings. Doch Ista musste gestehen, dass sie Dankbarkeit empfand für die zusätzliche Ruhe. Ein untertäniger Akolyth brachte ihr das Frühstück aufs Gemach — ebenfalls nicht die übliche Behandlung für einen Pilger, der den Tagesanbruch verbummelte.

Ista kleidete sich an und ließ ihr Haar ein wenig aufwendiger flechten — sie hoffte, dass sie nicht allzu sehr an ein Pferd erinnerte. Dann schlenderte sie mit Liss über das Anwesen. Nach einer Weile gelangten sie in den Innenhof, der nun im hellen Sonnenlicht lag. Sie setzten sich auf eine Bank an der Mauer und schauten zu, wie die Angehörigen der Akademie ihren Pflichten nachgingen und geschäftig an ihnen vorübereilten — Schüler und Lehrer und Dienstboten. Ista empfand es als angenehm, dass Liss nicht die ganze Zeit plapperte. Wenn sie angesprochen wurde, konnte man eine durchaus angenehme Unterhaltung mit ihr führen; ansonsten hüllte Liss sich in wohltuendes Schweigen.

Ista spürte, wie ein kühler Hauch von der Mauer ausging, an der sie lehnte; es war einer der Geister dieses Ortes. Er strich um sie herum wie eine Katze, die einen Schoß suchte, und beinahe hätte sie die Hand gehoben und ihn fortgescheucht. Dann aber verschwand die Empfindung. Irgendeine bedauernswerte Seele, die nicht von den Göttern aufgenommen worden war, oder die sich ihnen verweigert oder den Weg verloren hatte. Neu entstandene Geister behielten oft die Form bei, die sie zu Lebzeiten besessen hatten, zumindest für eine Weile, und häufig waren sie zornig, abweisend und aufgebracht. Doch im Laufe der Zeit fielen sie alle einer allmählichen, formlosen Auszehrung zum Opfer.

Obwohl das Gebäude alt war, schien es hier nur wenige Geister zu geben, und die waren offenbar ruhig. In Festungen wie dem Zangre war es schlimmer. Ista hatte sich damit abgefunden, dass sie die Anwesenheit dieser Erscheinungen immer noch spürte. Zum Glück aber nahmen die Geister vor ihrem inneren Auge keine Gestalt mehr an: Hätte sie tatsächlich einen vor sich gesehen, wäre ihr erneut ein Gott zu nahe gekommen, und dann wäre das zweite Gesicht zu ihr zurückgekehrt — und alles, was damit einherging.

Ista dachte an den Hof, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. An diesem Ort war sie nie zuvor gewesen, das wusste sie genau. Doch sie war überzeugt davon, dass es diesen Ort tatsächlich gab. Um ihm auszuweichen, ganz sicher auszuweichen, musste sie nur zurück nach Valenda und sich dort in der Burg verstecken, bis ihr Leib verrottete.

Nein. Ich werde nicht umkehren.

Der Gedanke daran ließ sie unruhig werden. Sie erhob sich und durchstreifte die Räumlichkeiten des Seminars, wobei Liss ihr pflichtbewusst auf Schritt und Tritt folgte. Viele Akolythen und Geistliche, die ihr auf den Galerien oder Fluren entgegenkamen, verneigten sich und lächelten, und Ista schloss daraus, dass dy Cabons Indiskretion sich inzwischen weit herumgesprochen hatte. Es machte ihr nichts aus, die Rolle der Sera dy Ajelo zu spielen; doch ein halbes Hundert völlig fremder Leute, die ebenfalls so taten, als wäre sie diese Sera dy Ajelo, empfand sie als irritierend.

Sie gelangten zu einer Abfolge kleinerer Gemächer, jedes voller Bücher, die in Regalen standen oder auf Tischen aufgetürmt waren: dy Cabons geliebte Bibliothek. Zu ihrer Überraschung fand Ista dort Foix dy Gura vor; er saß in einer Fensternische und hatte die Nase in einen Folianten gesteckt. Er schaute auf, blinzelte, erhob sich und deutete eine kleine Verbeugung an. »Herrin. Liss.«

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr theologische Bücher lest, Foix.«

»Ach, ich lese fast alles. Aber nicht alles hier hat mit Theologie zu tun. Es gibt Hunderte anderer Themen, und manche sind ziemlich merkwürdig. Es gibt einen abgeschlossenen Raum mit Büchern über Zauberei und Dämonen, und … äh, anzüglichen Titeln. Diese Bücher sind angekettet.«

Ista runzelte die Stirn. »Damit man sie nicht aufschlagen kann?«

Ein Lächeln huschte über Foix’ Gesicht. »Damit man sie nicht davontragen kann, würde ich eher sagen.« Er hielt ihr das Buch entgegen, in dem er gerade las. »Es gibt noch weitere Versromane wie diesen hier. Ich könnte einen für Euch heraussuchen.«

Liss blickte sich ehrfürchtig um. Hier waren vermutlich mehr Bücher auf einem Fleck, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Hoffnungsvoll schaute sie zu Ista, die jedoch den Kopf schüttelte und erklärte: »Vielleicht ein andermal.«

Dy Cabon steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Ah. Herrin. Ausgezeichnet. Ich habe Euch gesucht.« Er schob seine gesamte Körperfülle in den Raum. Ista hatte ihn seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen, ja, nicht einmal während des abendlichen Gottesdienstes, wie ihr nun auffiel. Dy Cabon wirkte erschöpft und blass, und er hatte Ringe unter den Augen. Hatte er sich letzte Nacht zu lange in mühevolle Studien vertieft? »Ich möchte gern … möchte Euch um eine Unterredung unter vier Augen bitten, wenn Ihr erlaubt.«

Liss hatte Foix bisher über die Schulter gesehen und blickte nun auf. »Soll ich Euch allein lassen, Majestät?«

»Nein. Wenn eine Herrin eine private Unterredung mit einem Herrn wünscht, der nicht zu ihrer engeren Verwandtschaft zählt, würde ein richtiges Kammerfräulein sich korrekterweise außer Hörweite begeben, doch stets in Sicht- und Rufweite bleiben.«

»Ah.« Liss nickte verstehend. Ista würde diese Unterweisung niemals wiederholen müssen. Es mochte Liss an Bildung fehlen, doch sie hatte Verstand. Und es war eine Freude, endlich wieder eine solche Begleiterin zu haben — bei den fünf Göttern!

»Ich könnte ihr etwas vorlesen, hier oder im Nebenzimmer«, bot Foix sich sogleich an.

»Ah …« Dy Cabon zeigte auf einen Tisch und die dazugehörigen Stühle, die durch einen Torbogen hindurch im Nebenraum zu sehen waren. Ista nickte und ging voran. Foix und Liss machten es sich in der gemütlichen Fensternische bequem.

Eine weitere Erörterung ihres heiligen Reiseweges, vermutete Ista, gefolgt von ein paar langweiligen Schreiben an dy Ferrej, um ihn von der neuen Route in Kenntnis zu setzen. Dy Cabon rückte Ista den Stuhl zurecht, dann umrundete er den Tisch und nahm selbst Platz. Sie hörte Foix’ Stimme aus dem Nebenraum; sie war zu leise, um einzelne Worte verstehen zu können, doch Ista vernahm den unverkennbaren Rhythmus kraftvoll dahineilender Strophen.

Der Geistliche bildeten mit den Händen eine kleine Pyramide auf dem Tisch, die Fingerspitzen aneinander gedrückt, starrte einen Augenblick auf die Tischplatte und schaute Ista dann ins Gesicht. Mit ruhiger Stimme fragte er: »Was ist der wirkliche Grund für diese Pilgerfahrt, Majestät?«

Ista runzelte die Stirn über diesen unverblümten Einstieg ins Gespräch. Sie beschloss, seiner Offenheit ebenso offen zu begegnen; so etwas war selten in Gegenwart einer Königin, und es verdiente Ermutigung. »Es war eine Flucht vor meinen Aufsehern. Und vor mir selbst.«

»Ihr habt und hattet also niemals die Absicht, für einen Enkel zu beten?«

Ista verzog das Gesicht. »Alle Götter Chalions zusammen könnten mich nicht dazu bringen, Iselle so sehr zu beleidigen. Oder meine neu geborene Enkeltochter Isara. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich selbst getadelt wurde, weil ich Ias nur eine Tochter geschenkt hatte. Neunzehn Jahre ist das nun her. Dasselbe Mädchen gilt nun als die strahlendste Hoffnung, die das Königreich von Chalion in den letzten vier Generationen gekannt hat!« Ihr heftiger Tonfall hatte dy Cabon sichtlich überrascht, und Ista zügelte sich. »Wenn ich einen Enkel bekomme, zur angemessenen Zeit«, fuhr sie ruhiger fort, »würde es mich sehr glücklich machen. Aber niemals werde ich die Götter um einen Gefallen bitten.«

Er nahm diese Worte in sich auf und nickte. »Ja. So etwas hatte ich erwartet.«

»Es mag ein wenig lästerlich sein, eine Pilgerfahrt auf diese Weise zu missbrauchen, und auch die treuen Ritter der Tochter, die der Orden mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Aber ich bin sicher nicht die Erste, die sich auf Kosten der Götter ein paar Feiertage macht. Meine Spende wird die Aufwendungen der Kirche mehr als ausgleichen.«

»Das geht mich nichts an.« Dy Cabon wischte diese finanziellen Erwägungen mit einer Handbewegung beiseite. »Majestät, ich habe in den Büchern gelesen. Und mit meinen Vorgesetzten gesprochen. Und nachgedacht. Ich habe sogar … nun, das muss Euch nicht bekümmern.« Er atmete tief ein. »Wisst Ihr vielleicht, Majestät … Seid Ihr Euch bewusst … Nun, ich habe Grund zu der Annahme, dass Ihr möglicherweise mit einer außergewöhnlichen spirituellen Begabung gesegnet seid.« Er schaute ihr ins Gesicht und musterte sie durchdringend.

Grund zu der Annahme? Woher? Was für verzerrte, verstohlene Gerüchte hatte der Mann gehört? Ista lehnte sich zurück, wich seinem Blick aber nicht aus. »Ich fürchte, da irrt Ihr Euch.«

»Und ich glaube, Ihr unterschätzt Euch, Majestät. Unterschätzt Euch gewaltig. Ich gebe zu, so etwas findet sich selten bei einer Dame Eures Standes, aber ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass Ihr eine überaus ungewöhnliche Frau seid. Ich bin fest davon überzeugt, mit Gebet, Anleitung, Meditation und der rechten Unterweisung könntet Ihr ein Maß an spiritueller Empfindsamkeit erreichen, eine Berufung erfüllen, die … Nun, von der selbst die meisten Priester nur träumen können, und nach der wir uns alle sehnen. Das ist eine Gabe, die man nicht leichtfertig ausschlagen sollte.«

Nicht leichtfertig, allerdings. Sondern ganz entschieden. Bei den fünf Göttern, wie war er nur auf diese Hirngespinste verfallen? In seinem Gesicht sah sie das Feuer eines Mannes, der ganz im Bann einer großen Idee stand. Sah er sich selbst bereits als ihren stolzen geistlichen Mentor? Er war davon überzeugt, dass er berufen war, ihr zu einem Leben im geheiligten Dienste der Götter zu verhelfen. Mit unbestimmten Ausflüchten würde sie ihn nicht davon abbringen können, ja, er würde sich durch nichts davon abbringen lassen, es sei den, sie enthüllte ihm die ungeschminkte Wahrheit. Ihr wurde flau im Magen.

Das nicht.

Doch.

Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie ein volles Geständnis ablegte. Sie hatte es schon einmal getan, vor einem Mann, der von den Göttern vereinnahmt worden war. Vielleicht zählte es zu den Dingen, die von Mal zu Mal leichter fielen.

»Ihr irrt Euch, dy Cabon. Diese Straße habe ich bereits hinter mir gelassen, nachdem ich ihr bis zum bittersten Ende gefolgt war. Ich war einmal eine Heilige.«

Diesmal war es dy Cabon, der überrascht zurückwich. Er schnappte nach Luft. »Ihr habt den Göttern als Gefäß gedient?« Bestürzung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Das erklärt einiges, das heißt … nein, tut es nicht.« Kurz griff er in sein Haar, ließ es dann wieder los, ohne es sich auszuraufen. »Majestät, das verstehe ich nicht. Weshalb wurdet Ihr von den Göttern berührt? Wann war dieses Wunder?«

»Vor langer, langer Zeit.« Sie seufzte. »Einst war diese Geschichte ein Staatsgeheimnis. Ein Staatsverbrechen. Ich nehme an, heute ist es das nicht mehr. Ob es als Gerücht fortbesteht oder als Legende, oder ob es vergessen wird, weiß ich nicht. Auf jeden Fall werdet Ihr mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit Euren Vorgesetzten. Wenn Ihr es allerdings für notwendig erachtet, so mögt Ihr Euch Anweisungen von Kanzler dy Cazaril geben lassen. Er weiß alles darüber.«

»Man sagt, er wäre überaus weise«, merkte dy Cabon an. Seine Augen waren weit aufgerissen.

»Dann hat man ausnahmsweise einmal Recht.« Sie hielt kurz inne und ordnete ihre Gedanken, ihre Erinnerungen, ihre Worte. »Wie alt wart Ihr, als Lord Arvol dy Lutez, der bedeutendste Höfling von König Ias, wegen Verrats hingerichtet wurde?«

Dy Lutez. Ias’ Freund seit ihrer Kindheit, Waffengefährte, treuester Gefolgsmann des Königs während dessen fünfunddreißigjähriger, düsterer, unruhiger Herrschaft. Mächtig und gerissen, tapfer und reich, von gutem Aussehen und edlem Auftreten. Scheinbar ohne Ende waren die Gaben, mit denen die Götter — und auch der König — den ruhmreichen Lord dy Lutez überhäuft hatten. Ista war bei ihrer Heirat mit Ias achtzehn Jahre alt gewesen. Ias und dy Lutez, seine rechte Hand, standen in den Fünfzigern. Dy Lutez hatte die Hochzeit arrangiert, die zweite Ehe des alternden Königs, denn schon damals gab es Sorgen wegen der Gesundheit Oricos, dem einzigen überlebenden Sohn und Erben.

»Warum? Ich war damals noch ein Kind.« Er zögerte und räusperte sich. »Obwohl ich Gerüchte darüber gehört habe, als ich älter war. Wie es hieß …« Er verstummte.

»Ihr habt das Gerücht gehört, dass dy Lutez mich verführt hat und dafür den Tod durch die Hand meines königlichen Gemahls fand, nicht wahr?«, ergänzte sie ungerührt.

»Äh … ja, Majestät. Aber es war doch nicht …«

»Nein. So war es nicht.«

Er seufzte vor verstohlener Erleichterung.

Sie verzog die Lippen. »Ich war es nicht, die Lutez auf diese Weise liebte. Es war Ias. Dy Lutez hätte lieber ein Laienbruder Eurer Kirche werden sollen, würde ich sagen, und nicht Großmeister vom Orden des Sohnes.«

Neben den unehelichen Kindern, Gelegenheitskünstlern und gestrandeten Existenzen bot die Kirche des Bastards auch denjenigen eine Zuflucht, die ihre Befriedigung nicht in der fruchtbaren Verbindung zwischen Mann und Frau fanden, wie sie in der Obhut der großen vier lag, sondern die dem eigenen Geschlecht zugetan waren. Für Ista lag diese Erkenntnis lange zurück, und Zeit, Raum und Schuld hatten eine Distanz geschaffen, aus der sie es beinahe als belustigend empfand, wie dy Cabons Gesicht sich veränderte, während er ihre höfliche Umschreibung entschlüsselte.

»Das muss … schwierig für Euch gewesen sein, als junge Braut.«

»Damals, ja«, räumte sie ein. »Inzwischen …« Sie streckte die Hand aus und öffnete sie, als würde Sand zwischen den Fingern hindurchrinnen. »Aber darum geht es überhaupt nicht. Es wurde viel schwerer für mich, als ich feststellen musste, dass seit dem schrecklichen Tod von Ias’ Vater, König Fonsa, ein schlimmer und seltsamer Fluch auf dem Königshaus von Chalion lastete. Und dass ich meine Kinder unwissentlich diesem Fluch ausgesetzt hatte. Niemand hatte mir etwas gesagt, keiner hatte mich gewarnt.«

Dy Cabon blickte erstaunt.

»Ich hatte prophetische Träume. Albträume. Eine Zeit lang glaubte ich, den Verstand zu verlieren.« Tatsächlich hatten Ias und dy Lutez sie eine ganze Weile in diesem Grauen gelassen, allein und ohne Trost. Damals und auch heute noch schien ihr dies ein schlimmerer Verrat zu sein, als irgendwelche schlüpfrigen Umarmungen unter einer Bettdecke jemals sein konnten. »Immer wieder habe ich zu den Göttern gebetet. Und ich bekam eine Antwort auf meine Gebete, dy Cabon. Ich sprach mit der Mutter, von Angesicht zu Angesicht, so wie ich jetzt mit Euch spreche.« Noch immer zitterte sie bei der Erinnerung an dieses überwältigende Strahlen.

»Ein großer Segen«, hauchte er ehrfürchtig.

Sie schüttelte den Kopf. »Ein großes Unglück. Auf Grund des göttlichen Ratschlags, der mir zuteil geworden war, ersannen wir — dy Lutez, Ias und ich — ein gefährliches Ritual, mit dem wir den Fluch zu brechen gedachten. Wir wollten ihn zurück in die Hände der Götter legen, von denen er einst ausgegangen war. Dann aber machten wir — machte ich in meiner Sorge und Furcht einen Fehler, einen schlimmen, mutwilligen Fehler, der unmittelbar dy Lutez’ Tod herbeiführte. Zauberei, ein Wunder … nennt es, wie Ihr wollt. Jedenfalls scheiterte das Ritual, und die Götter wandten sich von mir ab. In seiner schrecklichen Angst streute Ias das Gerücht von Hochverrat aus, um den Todesfall zu erklären. Der strahlende Stern seines Hofes, sein Geliebter, ermordet und beigesetzt — und dann verleumdet, was nichts anderes bedeutete, als dass er ein zweites Mal ermordet wurde, denn dy Lutez hatte seine Ehre stets höher geschätzt als sein Leben.«

Dy Cabon kniff die Brauen zusammen. »Aber … war diese posthume Verleumdung des Lord dy Lutez nicht zugleich eine üble Nachrede gegen Euch, Majestät?«

Diese bisher nicht bedachte Sichtweise ließ Ista einen Augenblick stocken. »Ias kannte die Wahrheit. Wessen Meinung sonst zählte? Dass die Welt mich fälschlich als Ehebrecherin zeihen mochte, schien weit weniger scheußlich, als hätte man mich zu Recht eine Mörderin geheißen. Aber Ias starb bald darauf vor Leid, und er ließ mich allein, ließ mich zurück, sodass ich vor den Trümmern unserer gescheiterten Bemühungen trauerte, mit getrübtem Verstand und immer noch unter dem Fluch leidend.«

»Wie alt wart Ihr damals?«

»Neunzehn war ich, als es begann. Zweiundzwanzig, als alles vorüber war.«

»Dann wart Ihr sehr jung für eine solche Last«, warf er hilfreich ein und sprach damit beinahe ihre eigenen Gedanken aus.

Sie kniff die Lippen zusammen. »Ritter wie Ferda und Foix werden in die Schlacht geschickt und dem Tod ausgeliefert, und sie sind auch nicht älter. Ich war damals älter als Iselle heute, und auf ihren schmalen Schultern ruht die ganze Last des Königreichs von Chalion, nicht nur die Hälfte, die einer Frau zukommt.«

»Aber sie trägt diese Last nicht allein. Sie hat fähige Gefolgsleute, und sie hat Prinzgemahl Bergon.«

»Ias hatte dy Lutez.«

»Doch wen hattet Ihr, Majestät?«

Ista verstummte. Sie konnte sich nicht erinnern. War sie tatsächlich so allein gewesen? Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Eine neue Generation brachte einen neuen Mann hervor, der bescheidener und größer war als dy Lutez, und der mehr Weisheit besaß und der Aufgabe eher gewachsen war. Der Fluch wurde gebrochen, aber nicht von mir. Und auch nicht, bevor mein Sohn Teidez ihm zum Opfer fiel — dem Fluch oder meinem Scheitern, diesen Fluch abzuschütteln, solange er noch ein Kind war; einem Verrat all derjenigen, die ihn hätten beschützen und anleiten sollen. Vor drei Jahren wurde ich von den Ketten befreit, die mich so lange gefangen hielten, durch die Mühen und Opfer anderer. Ich wurde befreit und dem ruhigen Leben in Valenda überlassen. Einem unerträglich ruhigen Leben. Ich bin noch nicht alt …«

Abwehrend wedelte dy Cabon mit seinen kräftigen Händen. »Keinesfalls, Majestät, natürlich nicht! Ihr seht noch immer bezaubernd aus, und …«

Mit einer scharfen Geste unterbrach sie seine fehlgeleiteten Beteuerungen. »Meine Mutter war vierzig Jahre alt, als ich zur Welt kam. Ihr letztes Kind. In diesem unglücklichen Frühling ist sie gestorben, und nun bin ich selbst vierzig. Die Hälfte meines Lebens liegt hinter mir, und die Hälfte davon wurde mir durch Fonsas großen Fluch geraubt. Die andere Hälfte liegt noch vor mir. Sollte ich nicht mehr davon erwarten als ein langes und langsames Dahinsiechen?«

»Ganz gewiss, Majestät«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich lege dieses Geständnis nun zum zweiten Male ab. Vielleicht wird das dritte Mal mich ja von meinen Sünden befreien.«

»Die Götter können vieles vergeben, wenn man aufrichtig bereut.«

Ihr Lächeln wurde so bitter wie ungeweinte Tränen. »Die Götter können Ista so oft vergeben wie sie wollen. Solange Ista sich selbst nicht vergeben kann, können die Götter sich zur Hölle scheren.«

»Oh«, machte er leise, doch treu und aufrichtig, wie er war, wagte er einen weiteren Anlauf: »Aber wenn Ihr Euch auf diese Weise abwendet, Majestät, verratet Ihr die Gaben, die Euch zuteil wurden!«

Sie beugte sich nach vorn und senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern: »Nein. dy Cabon. Das dürft Ihr nicht wagen.«

Er lehnte sich zurück und blieb eine ganze Weile still. Schließlich verzog er wieder das Gesicht. »Also, wie geht es nun mit Eurer Pilgerfahrt weiter, Majestät?«

Sie winkte ab. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr den Weg nach den besten Mahlzeiten auswählen. Zieht, wohin Ihr wollt, solange es nicht zurück nach Valenda geht.« Solange ich nicht wieder Ista dy Chalion sein muss.

»Irgendwann müsst Ihr nach Hause zurück.«

»Lieber würde ich mich in einen Abgrund stürzen … aber dann würde ich erst recht in den Händen der Götter landen, und die will ich gewiss nicht wieder sehen. Dieser Fluchtweg ist mir versperrt. Ich muss weiterleben. Und weiter, immer weiter …« Ihre Stimme wurde schriller. »Alles in der Welt ist nur Staub, und die Götter sind mir ein Gräuel. Sagt, dy Cabon, an welchen anderen Ort könnte ich entkommen?«

Er schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen. Nun hatte sie ihn in Angst und Schrecken versetzt, und das tat ihr Leid. Zerknirscht tätschelte sie ihm die Hand. »Wenn ich ehrlich sein soll, haben die drei Tage unserer Reise mir mehr Trost gebracht als die letzten drei Jahre des Müßiggangs. Meine Flucht aus Valenda war zu Anfang eher … eher unwillkürlich, so wie ein Ertrinkender versucht, nach oben zu kommen, an die Luft. Doch ich glaube, ich habe wieder zu atmen angefangen. Diese Pilgerfahrt mag sich als heilsam erweisen, trotz allem, was ich bin.«

»Ich … ich … die fünf Götter mögen es so einrichten, Majestät.« Er schlug das heilige Zeichen. Doch daran, wie seine Hand an jeder heiligen Stelle zögerte, konnte sie erkennen, dass es diesmal nicht nur ein bloßes Ritual war.

Beinahe war sie versucht, ihm von ihrem Traum zu erzählen. Aber das würde ihn nur wieder in Aufregung versetzen, und davon hatte der bedauernswerte junge Mann sicher genug gehabt für einen Tag. Seine Wangen waren ziemlich bleich geworden.

»Ich werde … äh, weiter darüber nachdenken«, versicherte er, schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und erhob sich. Seine Verbeugung war nicht der Gruß des geistlichen Beistands gegenüber seinem Schützling, und auch nicht der eines Höflings oder eines Herrn. Er verneigte sich mit der tiefen Ehrerbietung des Gläubigen vor einem lebenden Heiligen.

Ihr Arm schoss vor und fing seine Hand auf halbem Weg während seiner Geste tiefsten Respekts. »Nein. Tut das nicht. Nie wieder.«

Er schluckte. Unsicher verwandelte er seinen Abschiedsgruß in ein hastiges Nicken und floh.

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