26

Eine Lichtwelle brandete die dunkelviolette Schnur entlang, die Joen und Ista verband. Die Farbe der Verbindung schien sich zu vertiefen, ihr Glanz wurde intensiver. War es etwa Joens erste, erschrockene Reaktion, die Verbindung zu stärken? Einen verwirrten Augenblick lang fragte sich Ista, wer die Fischerin war und wer der Fisch. Dann fühlte sie, wie der widerstrebende, entsetzte junge Dämon in ihrem Innern sicher in die Hände des Bastards glitt.

Ihr habt Euch einen Gott geangelt, Joen. Was möchtet Ihr nun tun? Es war so, als habe eine Galeere einen Enterhaken auf einen Kontinent geworfen und versucht, ihn davonzuschleppen.

»Sie trägt den Dämonengott in sich!«, schrie Joen. »Tötet sie! Sofort!«

Ja. Das würde ausreichen …

Doch noch während Joen rief, schien die Zeit sich in Istas Wahrnehmung zu dehnen, wie kalter Honig, der an einem Wintermorgen vom Löffel tropfte. Doch die Zeit würde sich nicht ins Unendliche dehnen …

Wo soll ich anfangen, fragte Ista die Präsenz in ihrem Innern.

In der Mitte, lautete die Antwort. Der Rest muss zwangsläufig folgen.

Ista öffnete ihre körperlichen Hände und ließ die Finger ihres Geistes die violette Schnur entlanglaufen — und durch diese Verbindung in Joens Körper. Sie umschloss die dunkle Masse und zog sie zu sich hin. Widerstrebend, ungestüm und fauchend kam sie heran, verspritzte violette Schatten wie auslaufendes Wasser. Es verbrannte ihre Hände wie Säure, und sie schnappte nach Luft angesichts des unerwarteten Schmerzes, der geradenwegs ins Zentrum ihres Seins vorzustoßen schien und bis in alle Gliedmaßen zurückpulsierte, wie der Schock einer schweren Verletzung im ganzen Körper nachhallt. Das Geschöpf war dicht, und es war widerwärtig. Und groß. Und alt, Jahrhunderte alt und verdorben im Laufe der Zeit.

Es ist grauenhaft.

Ja, sagte der Gott. Mach trotzdem weiter. Bring Arhys’ Werk zu Ende.

Istas körperliche Hände waren zu träge, um mit ihrem dahinschießenden Willen Schritt zu halten. Mit den Fingern ihrer Seele allein kämmte sie die Strähnen von Joens Seele zurück, die sich mit dem Dämon verwoben hatten. Doch so schnell sie auch das eine vom anderen schied, so schnell bildete Joens Seele Ranken aus weißem Feuer, umhüllte den Dämon erneut und zerrte ihn zurück. Der Dämon kreischte.

Lasst los, drängte Ista. Lasst ihn los, und wendet Euch einer besseren Aufgabe zu. Selbst jetzt noch habt Ihr eine Wahl.

Nein, erwiderte Joens Geist. Das ist mein Geschenk, meine große Gelegenheit! Niemand soll sie mir entwinden, Ihr am allerwenigsten! Ihr seid so wertlos, Ihr konntet nicht einmal das Leben Eures eigenen Sohnes retten! Meiner soll bekommen, was ihm zusteht. Ich habe es versprochen!

Ista schreckte zurück, doch die Präsenz bestärkte sie. Wenn sie nicht bleiben will, muss sie mitkommen, sagte die Stimme. Mach weiter.

Eure unrechtmäßigen Versuche, Ordnung zu schaffen, haben nur schlimmere Verwüstung herbeigeführt, sagte Ista zu Joen. Ihr quält und beschädigt eben jene Seelen, von denen Ihr am meisten wünscht, dass sie wachsen und Euch lieben. Ihr besitzt wahrhaftigere Gaben, so unterdrückt sie auch sein mögen. Lasst los, sucht stattdessen nach ihnen, und lebt!

Das peitschende weiße Feuer war ein einziger manifester Widerspruch. Ista fand nicht das leiseste Flüstern einer Zustimmung darin.

Gut.

Sie führte den schwarz-violetten Dämon an die Lippen und zog ihn hinein. Er schien sich zu dehnen und zu verzerren, während er durch sie hindurchging; sein Kreischen wurde zu einem Schmerz in ihrem Mund, zu einem Brennen in ihrer Speiseröhre. Da sind Seelen darin gebunden, erkannte sie. Viele Stücke von sehr alten Seelen, alle aufgelöst und ineinander gelaufen. Die Seelen von Verstorbenen, und von längst schon Verstorbenen. Was geschieht mit ihnen?

Die Toten gehören uns. Sie zu ordnen, zählt nicht zu deiner Bestimmung. Die Seelen jener, die noch leben, die zur Unzeit entzweigerissen wurden, während sie noch in der Welt des Körperlichen gefangen waren, sollen in Unserem Namen deine Sorge sein.

Und was ist hiermit, fragte Ista. Joens lebendige, weiße Seelensubstanz glitt nun in ihr Inneres, fest mit dem Dämon verstrickt. Sie kratzte und brannte.

Das wechselt nun von deinen Händen in meine.

Das war nicht die stille Verdammnis der verlorenen Seelen. Tatsächlich schien von dem weißen Feuer ein Heulen auszugehen, das Istas Ohren von innen her zerriss. Und ebenso wenig der heilsame Frieden des Himmels.

Nein, sagte die Stimme bedauernd. Dies ist Nicht-wollen. Also soll es mitsamt dem Dämon zu einem Ort des Nichtsein wechseln.

Ista hatte eine Vision von einer seltsamen, dimensionslosen Leere; ein Bild, das vielleicht von Seinem Geist in ihren sickerte: Ein brodelnder Tümpel dämonischer Energie, ohne Form, ohne Person, ohne Geist oder Willen oder Klang oder Stimme oder Erinnerung oder irgendeine andere Gabe höherer Ordnung — die Hölle des Bastards. Ein Reservoir reinster Vernichtung. Ein dünner, genau kontrollierter Zufluss strömte von diesem Tümpel aus in die Welt der Materie. Und ein sprunghafter Schwall kehrte von dort wieder in diese Hölle zurück. Und mit diesem Austausch wurde das Leben in der materiellen Welt genau in der Mitte zwischen dem heißen Tod des Chaos und dem kalten Tod der Erstarrung ausbalanciert. Endlich erkannte sie, warum die Verkettung von Joens Dämonen sie so nervös gemacht hatte, auf eine Weise, die nur wenig mit der unmittelbaren Bedrohung für Porifors zu tun gehabt hatte. War es möglich, dass ein solcher Strudel des Chaos einen eigenen Riss zwischen den beiden Welten auftun könnte, einen Riss, den selbst die Götter nur noch mit Mühe würden flicken können? So viel göttliche Aufmerksamkeit an einem so unbedeutenden Ort …

Ein wenig menschliche Aufmerksamkeit würde mich im Augenblick sehr erfreuen, murmelte die Stimme in ihrem Innern. Weder leugnete sie die Mutmaßungen, wie Ista sehr genau bemerkte, noch bestätigte sie irgendetwas. Bring den Rest meiner kleinen Geschwister zu mir, süße Ista, so rasch du es vermagst. Ohne Zweifel brauchst du noch etwas Übung, ehe es reibungslos läuft.

Meine erste Prüfung ist also ein Dutzend auf einmal? In ihrem Bauch loderte ein Schmerz, als hätte sie geschmolzenes Blei geschluckt. Zu diesem Übelkeit erregenden, verdrehten Ding?

Nun, sagte die Stimme freundlich, wenn du das hier überlebst, sollte kein anderer verirrter Dämon in der materiellen Welt noch eine allzu große Herausforderung für dich sein.

Ista erwog eine Fülle von Einwänden, angefangen mit: Was soll das heißen, wenn …? Doch sie unterdrückte die Regung. Sich mit dieser Präsenz auf ein Streitgespräch einzulassen, würde vermutlich nur bewirken, dass ihr Geist in endlosen Kreisen dahinwirbelte, bis sie benommen war.

Ihr werdet mich nicht noch einmal verlassen, fragte sie misstrauisch.

Ich habe dich nicht einmal verlassen … so wenig wie du mich, wie ich wohl bemerkt habe. Hartnäckige Ista.

Sie wandte ihr zweites Gesicht wieder nach außen. Nach dem Gott Ausschau zu halten war so aussichtslos, als würde sie versuchen, auf den eigenen Hinterkopf zu blicken. Joens Mund stand offen, und ihre Augen waren verdreht. Ihr Leib sank in sich zusammen. Irgendwo unter Istas Brustbein ließ der erste Schmerz nach, während der Gott den uralten Dämon und seine kratzende Herrin in sein Reich hinüberzog. Dahinter folgte ein Dutzend verworrener, sich windender Schnüre, die nun zu Ista liefen und nicht länger zu Joen. Es zerrte und zuckte, als die daran gefesselten Dämonen vor der gefürchteten Gegenwart ihres Gottes zu fliehen versuchten. Die menschlichen Leiber, in denen sie untergebracht waren, setzten sich eben erst in Bewegung, verzweifelt angetrieben von den Dämonen, die sie kontrollierten.

Einen nach dem anderen oder alle auf einmal? Ista streckte die Hände ihrer Seele aus und griff zufällig eine Schnur heraus, ließ die Lichthände daran entlangstreifen bis zu dem Dämon im Innern einer Zofe. Dieser war sorgfältig herangezüchtet; Teile von drei oder vier unterschiedlichen Seelen wirbelten in ihm umher. Das weiße Seelenfeuer des lebenden Wirts war deutlicher zu erkennen, und Ista kämmte es zu der Frau zurück, doch es gelang nur unvollkommen. Ista schluckte den Dämon herunter. Der Rücken der Frau krümmte sich, und sie brach zusammen. Diesmal glitt der Dämon leichter in die Hände des Gottes, war beinahe sofort aus der Welt verschwunden.

Diese Leinen. Ich erinnere mich daran. Es war ein sehr ähnliches Band, mit dem. ich Arhys letzte Nacht sicher ans Ufer gezogen habe.

Man hat sie Uns gestohlen, vor langer Zeit. Der Dämon hätte so etwas nicht selbst erschaffen können, musst du wissen. Zorn klang aus der Stimme, doch nur der leiseste Widerhall davon drang bis zu Ista durch. Andernfalls hätte es sie zerschmettert.

Sie griff nach einer weiteren Leine und wiederholte die Bewegungen des Pflückens und Kämmens. Diesmal war es ein Mann, einer der Offiziere. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei. Ich kann das alles nicht alles trennen, stellte sie besorgt fest. Ich bekomme es nicht in die richtige Ordnung.

Du machst das hervorragend, versicherte ihr die Stimme.

Es ist unvollkommen.

So ist es mit allem, was der Zeit unterliegt. Du machst es trotzdem hervorragend. Was für ein Glück für Uns, dass Uns nach prachtvollen Seelen dürstet und nicht nach makellosen. Ansonsten würden wir allerdings Mangel leiden und wären überaus einsam in Unserer vollkommenen Rechtschaffenheit. Mach ruhig unvollkommen weiter, strahlende Ista.

Ein weiterer, und noch einer. Die Dämonen strömten ihr zu, durch sie hindurch, immer schneller. Doch es war unbestreitbar ein schlampiger Prozess. Der nächste Dämon war der von Sordso; er war die aufwendigste Konstruktion, die Ista bisher gesehen hatte. Eine Lage von Seelen über der anderen, ihre Gaben und Fähigkeiten verwoben mit dem gequälten, eingeschnürten Seelenfeuer des jungen Mannes. Es war ein seltsam liebevolles Werk. Ista glaubte, einzelne Stücke erkennen zu können: von Kriegern, Gelehrten, Richtern, Schwertkämpfern und Asketen. Alle bekannten Tugenden des Goldenen Heerführers, eingesammelt und konzentriert — das reinste Muster vollkommener Männlichkeit. Es war erschreckend. Wie konnte etwas, das aus Seelen verfertigt war, so kalt und seelenlos sein?

Aber keine Dichter. Nicht ein einziger.

Dieses dunkle Stück Seele hier ist anders, bemerkte sie, als eines der Bruchstücke durch ihre Finger glitt.

Ja, sagte der Gott. Dieser Mann lebt noch, in der Welt des Stofflichen.

Wo? Ist es …? Soll ich versuchen …?

Wenn du glaubst, du kannst es ertragen. Es wird unangenehm.

Ista rollte den Flecken aus Dunkelheit auf und verstaute ihn in irgendeinem Winkel ihres Geistes. Dort pulsierte er, heiß und dicht. Irgendwo am Rande ihrer materiellen Wahrnehmung hob der bronzehäutige jokonische Offizier sein Schwert und drehte sich herum. Etwas Schwarzes bewegte sich mit ihm — nein, Illvin, und er folgte dem Offizier. Ista achtete nicht mehr darauf und fuhr fort, die Seelen auszukämmen. Sordsos Mund öffnete sich zu einem wortlosen Heulen, doch nicht wie ein Mann, der um ein verlorenes Gut trauert. Es mochte Zorn sein. Oder Freude. Oder Wahnsinn.

Und schließlich das nächste Band … das letzte.

Ista blickte auf, mit ihren körperlichen Augen wie auch mit ihrem zweiten Gesicht, und sie erkannte den kreidebleichen Foix in seinem grünen Wappenrock, der zwischen den erschrockenen jokonischen Offizieren stand. Der violette Schatten in seinem Innern besaß nicht mehr die Form eines Bären, sondern war ungleichmäßig über seinen gesamten Leib verteilt. Er schien sich gleichzeitig vor ihr zu ducken und sie fasziniert anzustarren.

Sie betrachtete nachdenklich diese letzte Leine, die in den Händen ihrer Seele lag. Dann führte sie die Leine zum Mund. Und biss sie durch.

Gut, sagte die Stimme.

Oh. Hätte ich fragen sollen?

Du bist mein Torwächter in der materiellen Welt. Wenn ein Herr einen Pförtner ernennt, so erwartet er nicht, dass dieser bei jedem Bettler — ob in Lumpen oder in Seide — zu ihm läuft und fragt, ob man ihn einlassen oder abweisen soll. Da könnte sich der Herr auch gleich selbst ans Tor stellen. Vom Pförtner wird erwartet, dass er sein eigenes Urteilsvermögen gebraucht.

Mein Urteilsvermögen? Sie ließ das Ende der Leine los. Das Band schnellte zurück zu Foix, und er war frei … oder was immer Foix jetzt war.

In seinem Gesicht zuckte es. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Dann, nach kaum einer Sekunde, verzog er sich wieder zu jenem schrecklich bemühten Lächeln vollkommenen Einverständnisses. Eine gefälschte Falschheit, umgekehrter Verrat. Er ist viel durchtriebener, als er aussieht.

Ista war sich der Schreie und des Aufruhrs, der überall im Zelt ausbrach, kaum bewusst. Die Stimmen klangen immer schwächer und entfernter, die Gestalten wurden blasser und blasser. Sie wandte sich um und folgte der hypnotischen Stimme.


Wie es schien, gelangte sie zu der Tür ihres eigenen Selbst und schaute hindurch. Ein überwältigender Eindruck von Farbe und Schönheit, Struktur und Vielfalt, Musik und Gesang verwirrte ihre Sinne; alles war von unendlicher Kunstfertigkeit. Sie fragte sich, wie verwirrend die Welt für ein Neugeborenes aussehen mochte, das weder Namen hatte für das, was es sah, noch auch nur die Vorstellung von Namen. Ista nahm an, dass das Kind vom Gesicht und der Brust der Mutter ausging und sich von dort nach außen vorarbeitete — und eine Lebensspanne reichte nicht aus, um an das Ende zu gelangen.

Diese Welt ist größer und merkwürdiger als die der Materie, in die meine Seele zuerst hineingeboren wurde. Und schon die stoffliche Welt ist mehr, als ich verstehen kann. Wie soll ich hier anfangen?

Nun, Ista, sagte die Stimme. Bleibst du oder gehst du? Du kannst nicht ewig wie eine Katze auf meiner Türschwelle herumlungern, musst du wissen.

Ich habe keine Worte, um dies hier zu beschreiben. Ich möchte Euer Gesicht sehen.

Unvermittelt stand sie in einem hohen Raum, nicht unähnlich den Räumlichkeiten von Porifors. Rasch blickte sie an sich herab und war erleichtert, als sie feststellte, dass sie nicht nur einen Körper bekommen hatte — unversehrt, sauber und frei von Schmerzen —, sondern auch Kleidung. Die Gewänder glichen dem, was sie auch in der materiellen Welt getragen hatte, doch die Flecken waren verschwunden und die Risse ausgebessert. Sie blickte auf und fuhr zurück.

Diesmal hatte er sich Illvins Körper und Antlitz zu Eigen gemacht. Es war eine gesunde und nicht mehr abgemagerte Version des echten Illvin, wenn auch noch immer groß und schlank. Seine höfischen Gewänder waren von silberbesticktem Weiß, sein Überwurf aus Seide, sein Schwertgriff und sein Siegelring funkelten. Sein Haar war auf roknarische Art zurückgeflochten und lief in einem langen, dicken Zopf aus. Es war von reinstem Weiß. Die endlose Tiefe seiner Augen durchkreuzte allerdings den Anschein von Menschlichkeit, auch wenn die dunkle Farbe durchaus an den dargestellten Mann erinnerte.

»Ich hätte gern erlebt«, gestand sie schwach, »wie Illvins Haar weiß wird.«

»Dann wirst du zurückgehen und eine Weile warten müssen«, erwiderte der Bastard. Seine Stimme war kaum tiefer oder volltönender als die des Originals, selbst dessen nördliche Sprachmelodie war vorhanden. »Natürlich müsstest du Risiken eingehen: Wenn sein Haar erst mal weiß geworden ist — wird dann überhaupt noch etwas davon übrig sein?«

Sein Körper und sein Gesicht veränderten sich, imitierten Hunderte möglicher Illvins in hundert möglichen Altern, gerade oder gebeugt, dünn oder dick, kahl oder nicht. Doch die Belustigung auf seinen Zügen blieb stets dieselbe.

»Ich möchte … das hier.« Nicht einmal Ista selbst wusste so genau, ob ihre Handbewegung den Gott meinte oder den Mann. »Kann ich hereinkommen?«

Sein Lächeln wurde sanfter. »Die Wahl liegt bei dir, meine Ista. Da du mich nicht zurückgewiesen hast, werde ich dich auch nicht zurückweisen. Doch ich würde auch auf dich warten, wenn du dich für den längeren Weg in mein Reich entscheidest.«

»Ich könnte mich auf dieser Straße verirren.« Sie schaute zur Seite. Tiefe Ruhe erfüllte sie. Kein Schmerz, keine Furcht, kein Bedauern. Diese riesigen Lücken schienen Platz zu schaffen für … irgendetwas. Irgendetwas Neues, von dem sie nie zuvor zu träumen gewagt hätte. Wenn es das war, was Arhys gefühlt hatte, dann war es kein Wunder, dass er nie mehr zurückgeblickt hatte. »Das ist also mein Tod. Warum hatte ich jemals Angst davor?«

»Ich hatte nie den Eindruck, dass du übertriebene Furcht davor gezeigt hast«, bemerkte er trocken. »Und ich kenne mich damit aus.«

Sie blickte sich um. »Vielleicht ist das Paradies noch mehr als das Ende allen Leidens, aber, oh, das scheint mir fast schon paradiesisch genug. Kann es beim nächsten Mal … schmerzvoller sein?«

Er zuckte die Schultern. »Wenn du erst mal wieder in die materielle Welt zurückkehrst, sind meine Möglichkeiten, dich zu beschützen, begrenzt. Und diese Grenzen schließen Schmerzen leider nicht aus. Diesen Tod kannst du selbst wählen. Den nächsten vielleicht nicht.«

Unwillkürlich hoben sich ihre Mundwinkel. »Wollt Ihr damit sagen, ich könnte in einer weiteren Viertelstunde schon wieder vor diesen Toren stehen?«

Er seufzte. »Das hoffe ich nicht. Ich müsste einen neuen Pförtner ausbilden. Seit einiger Zeit habe ich eine Schwäche für eine gewisse Königin.« Seine Augen funkelten. »Und das gilt auch für meinen prächtigen Illvin. Immerhin hat er für dich zu mir gebetet. Und bedenke, was ich für einen Ruf habe!«

»Er ist miserabel«, stellte Ista fest.

Er grinste nur — das vertraute Aufblitzen der Zähne, das ihr den Atem raubte.

»Und was für eine Ausbildung?«, fügte sie hinzu. Plötzlich war ihr streitlustig zumute. »Ihr habt mir nicht einmal etwas erklärt.«

»Dich zu unterweisen, süße Ista, wäre so, als würde man einem Falken beibringen, sich seiner Beute zu Fuß zu nähern. Mit einiger Anstrengung bekäme man es vielleicht hin, doch am Ende hätte man einen überaus fußwunden und übel gelaunten Vogel an der Hand, und man müsste sehr lange auf sein Abendessen warten. Bei einer Flügelspannweite wie deiner ist es sehr viel leichter, wenn ich dich einfach von meinem Handgelenk schüttele und fliegen lasse.«

»Fallen«, brummelte Ista.

»Nein, du nicht. Zugegeben, zuerst einmal stürzt du halb den Abgrund hinunter und beklagst dich dabei die ganze Zeit, aber irgendwann breitest du die Flügel aus und steigst wieder empor.«

»Nicht immer.« Ihre Stimme wurde leiser. »Nicht beim ersten Mal.«

Mit der Andeutung eines Eingeständnisses legte er den Kopf schräg. »Doch damals war ich nicht der Falkner. Weißt du, wir passen gut zusammen.«

Sie blickte zur Seite und durch ein merkwürdiges, vollkommenes, unwirkliches Zimmer. Ein Vorzimmer, dachte sie, die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen. Doch welche Tür führte wohin? »Meine Aufgabe. Ist sie vollbracht?«

»Vollbracht und gut gemacht, meine wahre, säumige Stieftochter.«

»Ich bin immer spät gekommen. Zur Vergebung. Zur Liebe. Zu meinem Gott. Selbst zu meinem eigenen Leben.« Doch sie senkte erleichtert ihr Haupt. Vollbracht war gut. Es bedeutete, dass man sich ausruhen konnte. »Haben die Jokoner mich getötet, wie Joen es befohlen hat?«

»Nein. Noch nicht.«

Lächelnd trat er auf sie zu und schob ihr Kinn nach oben. Er drückte seinen Mund so unverfroren gegen den ihren, wie Illvin es an jenem Nachmittag — gestern? — auf dem Turm getan hatte. Nur dass sein Mund nicht nach Pferdefleisch schmeckte, sondern nach Parfüm. Und in seinen Augen lag keine Unsicherheit.

Seine Augen, die Welt, ihre Wahrnehmung verschwammen.

Aus den endlosen Tiefen wurden normale dunkle Augen, gerötet von verzweifeltem Weinen. Parfüm wurde zu ausgedörrtem, salzigem Fleisch, dann wieder zu Parfüm, dann Fleisch. Die friedliche Stille wurde zu Lärm und füllte sich mit Schreien, dann wieder Stille, dann wieder Getöse. Das schmerzlose Dahintreiben wich einem lastenden Druck, Kopfschmerzen, Durst, die wiederum zu Entzücken verschwammen.

Ich denke, Er gibt Seiner Katze, einen Tritt und ermuntert sie so zur Entscheidung. Sie zweifelte nicht daran, dass sie noch immer diesem Stiefel ausweichen und sich in jede gewünschte Richtung daran vorbeidrücken konnte. Doch welche Richtung Er wünschte, war deutlich genug. Das beunruhigende Noch nicht ließ zumindest darauf schließen. Er lockte sie nicht zurück in einen Körper, der schon von Schwertstreichen durchbohrt war. Der Bastard drängt mich dazu — verflucht soll er sein! Es war ein gutes Gefühl, seinen Gott zu verfluchen. Es war ein Gott, auf den sie stets fluchen konnte, und je erfindungsreicher ihre Beleidigungen wurden, umso mehr würde Er darüber grinsen. Er passte allerdings gut zur wahren Ista.

Das Flimmern verebbte und endete bei dem ausgedörrten Mund, bei der Last und dem Druck, im Getöse und im Schmerz. Bei geschätzten, verzweifelten, blinzelnden und rein menschlichen Augen. Ja.

Außerdem betrügt mein Gott. Er hat diesen Sahnetopf hier draußen aufgestellt, noch bevor Er mir die Tür geöffnet hat. Und das wusste Er genau. Sie lächelte und versuchte, einzuatmen.

Illvin zog seine tastende Zunge ans ihrem Mund und keuchte. »Sie lebt! Oh, den fünf Göttern sei Dank, sie atmet wieder!«

Ista stellte fest, dass der erstickende Druck von Illvins Armen ausging, die um ihren Oberkörper geschlungen waren. Sie schaute zu Zweigen auf, in den blauen Himmel dahinter und in sein Gesicht, das über sie gebeugt war. Es war gerötet vor Anstrengung und verzerrt vor Furcht, und ein Muster aus feinen Bluttröpfchen zeichnete es in einer schrägen Linie von der einen Seite zur anderen. Sie hob kraftlos die Hand und tupfte gegen die roten Perlen, doch erleichtert stellte sie fest, dass es anscheinend nicht sein eigenes Blut war.

Zwischen trockenen, angestoßenen Lippen hervor flüsterte sie: »Was ist geschehen?«

»Ich hatte gehofft, Ihr könntet es mir erklären«, hörte sie die raue Stimme von Foix. Sie schaute auf und sah ihn drohend über ihnen aufragen. Er trug immer noch die jokonische Rüstung und den Wappenrock und stand in einer überzeugend bedrohlichen und wachsamen Haltung über seinen scheinbaren Gefangenen. Sie und Illvin saßen auf dem Boden, nicht weit von den grünen Zelten der Befehlshaber entfernt. Foix war blass, doch anscheinend waren es nicht die Jokoner um sie herum, die ihn beunruhigten.

»Ihr wurdet in das Zelt geführt«, fuhr Foix leiser fort. »Ihr habt … ganz normal ausgesehen. Hilflos. Und dann strahlte plötzlich dieses göttliche Licht von Euch aus, so grell, dass ich einen Atemzug lang geblendet war. Ich hörte, wie Joen Euren Tod befahl.« Illvins angespannter Griff um ihren Arm wurde noch fester.

»Als ich wieder etwas sehen konnte«, fuhr Foix fort und blickte sich auf eine Weise um, die zu seiner Rolle als Wachposten passte, »schienen sämtliche Dämonen im Zelt in Euch hineinzufließen, wie heißes Metall, das durch eine Form gepresst wird. Ich habe gesehen, wie Ihr sie alle hinuntergeschluckt habt, und Joens Seele gleich mit. In einem Augenblick war alles vorbei.«

»Einer blieb übrig«, murmelte Ista.

»Hm. Ja, und diese Sache. Ich habe es gespürt, als Ihr mich von Joens Bann befreit habt. Beinahe wäre ich aus dem Zelt gestürmt, aber ich kam gerade noch rechtzeitig wieder zur Vernunft. Fürst Sordso und einige andere Offiziere zogen ihre Schwerter — fünf Götter, ich dachte schon, dieses Scharren von Stahl auf Stahl würde ewig andauern. Sordso hielt den Griff so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß waren.«

»Ich habe versucht, mich zwischen sie und Euch zu werfen«, meinte Illvin zu Ista, rieb sich die Nase und blinzelte.

»Ja«, bestätigte Foix. »Mit bloßen Händen. Ich sah Euch nach vorn springen — was immer Ihr damit erreichen wolltet. Doch Sordso wirbelte stattdessen herum und schlug auf Joen ein.«

»Sie war bereits tot«, warf Ista leise ein.

»Das habe ich gesehen. Sie kippte schon um, doch seine Klinge erwischte sie … gerade noch rechtzeitig. Oder wie man es nennen will. Er schlug so hart zu, dass es ihn herumriss und er rücklings vom Podest stürzte. Die Hälfte der befreiten Zauberer lief davon, doch ich könnte jeden Eid darauf ablegen, dass die andere Hälfte dieselbe Idee hatte wie Sordso. Eine von Joens Damen hat einen Dolch gezogen und ging auf den Körper los, während er schon zu Boden stürzte. Ich weiß nicht, ob sie wusste, dass Joen bereits tot war, oder ob es für sie eine Rolle spielte — sie wollte es ihr einfach nur heimzahlen. Jeder im Zelt drängelte und brüllte, und alle liefen in sämtliche Richtungen durcheinander. Also habe ich mich vor Illvin und Euch aufgebaut und geschrien: ›Zurück, Gefangene!‹, und dabei habe ich mit dem Schwert herumgefuchtelt.«

»Sehr überzeugend«, murmelte Illvin. »Ich war drauf und dran, mich auf Euch zu stürzen. Aber ich hatte meine Hände voll.«

»Ihr seid gestürzt, Majestät. Ihr … Ihr seid ganz grau geworden, habt zu atmen aufgehört und seid zusammengebrochen.

Ich hielt Euch für tot, denn ich konnte Eure Seele nicht mehr sehen. Sie war erloschen wie eine ausgeblasene Kerze. Illvin wollte Euch aufheben, kippte selbst um und kämpfte sich wieder auf die Füße. Ich wagte nicht, ihm zu helfen, ließ allerdings zu, dass er Euch hinauszerrte, und tat so, als würde ich ihn bewachen. Die meisten Jokoner hielten Euch ebenfalls für tot, nehme ich an. Getötet durch Eure Zauberei, wieder so eine Art Todeszauber wie bei Fonsa und dem Goldenen Heerführer. Also, äh … solltet Ihr noch für eine Weile reglos hier liegen bleiben, bis wir uns überlegt haben, was wir als Nächstes anfangen.«

Dieser Vorschlag war einfach zu befolgen. Jede andere Anweisung wäre schwerer umzusetzen gewesen. Illvin blickte auf ihr Gesicht wie ein Mann, der die Geliebte soeben mit einem Kuss zurück aus dem Grab geholt hatte und sich nun nicht einmal mehr zu bewegen wagte aus Angst, er könne unerwartete Wunder zunichte machen. Ista lächelte benommen über seine entzückende Verwirrung.

»Die Dämonen sind alle fort«, berichtete sie mit undeutlicher, verträumter Stimme, für den Fall, dass sie immer noch daran zweifelten. »Dafür wurde ich hergesandt und ich habe es vollbracht. Doch der Bastard ließ mich wieder zurückkehren.« Dorthin, wo sie jetzt war — auf den harten Boden in der Mitte des feindlichen Lagers, umringt von mehreren Hundert sehr lebendigen und aufgebrachten Jokonern. Ein abscheulicher Sinn für Humor. Sie hatte ein zeitloses Zwischenspiel genossen, doch für jeden anderen waren gerade erst Minuten vergangen seit Joens blutigem Ende. Doch wie verstört ihre Oberbefehlshaber auch sein mochten — nicht alle feindlichen Offiziere würden lange so verwirrt bleiben. Es fiel Ista schwer, in ihrem Entzücken vor irgendetwas Angst zu haben, doch sie brachte einen Anflug milder Besonnenheit zustande. »Ich glaube, wir sollten fort von hier. Auf der Stelle.«

»Könnt Ihr laufen?«, fragte Illvin unsicher.

»Könnt Ihr?«, fragte Ista neugierig zurück. Kriechen. ja, kriechen würde sie ihm zutrauen, in seinem gegenwärtigen geschwächten Zustand. Er gehörte ins Bett, entschied sie. Vorzugsweise in ihres.

»Nein«, murmelte Foix. »Ihr müsst sie weiter hinter Euch herschleppen. Oder sie tragen. Könnt Ihr noch für eine Weile eine Leiche spielen, Majestät?«

»O ja«, versicherte sie ihm und sank dankbar in Illvins Arme zurück.

Illvin weigerte sich kategorisch, sie über einen Boden zu zerren, der ihre ohnehin schon blutenden Beine und Füße noch mehr zerkratzen würde. Doch sie auf den Armen zu tragen, ging immer noch über seine Kräfte, wie sich herausstellte. Es gab einen kurzen Streit, und Ista — als Leiche — hielt sich heraus. Schließlich lud Illvin sie sich mit dem Hinterteil nach oben über die Schulter, und Foix half ihm hoch, bis er endlich auf wackligen Beinen stand. Istas Arme und Beine baumelten in angemessen lebloser Weise herab. Es erinnerte sie an ihren Ritt auf Feder. Sie versuchte, bei der Erinnerung daran nicht zu lächeln, weil eine solche Regung ihrer Rolle widersprach. Passenderweise war ihr weißes Kleid sogar blutverschmiert, eine Fortsetzung desselben Spritzers, nahm sie an, der auch Illvins Gesicht gezeichnet hatte. Sie konnte erraten, woher er gekommen war, und erschauerte.

Sie taumelten davon. »Nach links«, wies Foix Illvin an. »Weiter!« Weitere jokonische Soldaten rannten auf sie zu. Foix wies mit dem Schwert nach hinten auf die Zelte der Befehlshaber und rief: »Schnell! Ihr werdet gebraucht!« Die Soldaten rannten davon, wie ihr scheinbarer Offizier es ihnen befahl.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte Illvin: »Foix, Ihr mögt ja ein recht gekünsteltes Roknari zu Stande bekommen, doch ich möchte Euch bitten, Sätze mit mehr als einer Silbe mir zu überlassen. Dieser Wappenrock kann nicht alles verbergen.«

»Wäre mir ein Vergnügen«, gab Foix halblaut zurück. »Jetzt gleich hier entlang. Wir sind fast bei den Pferdekoppeln.«

»Glaubt Ihr etwa, sie lassen uns einfach daherkommen und ihre Pferde stehlen?«, fragte Illvin. Sein Keuchen klang eher neugierig als widersprechend. Ista spähte unter gesenkten Lidern empor und erblickte die Wachen, die sich im Schatten herumtrieben. Einige Männer standen da und schauten zu dem Aufruhr bei den grünen Zelten hinüber.

»Sicher werden sie das.« Foix klopfte auf seinen grünen Wappenrock. »Ich bin jokonischer Offizier.«

»Ihr verlasst Euch nicht nur darauf«, bemerkte Ista. Ihr Tonfall klang beinahe ebenso unbeteiligt wie der von Illvin.

»Ja. Warum seid Ihr Euch so sicher, dass sie uns nicht aufhalten und befragen?«, wollte Illvin wissen. Ein Hauch von Anspannung schlich sich in seine Stimme, als einige Wachen die Köpfe wandten und ihr Vorankommen verfolgten.

»Habt Ihr etwa Prinzessin Umerue aufgehalten und befragt? «

»Nein, zunächst nicht. Was hat das damit zu tun?«

Von Illvins Hüfte her murmelte Ista: »Ich habe mich vorhin ungenau ausgedrückt: Ein Zauberer ist im Lager verblieben. Allerdings ist er auf unserer Seite. Schien mir eine gute Idee zu sein. Und der Gott hat nicht widersprochen.«

Illvin spannte sich an und wandte sich um, starrte auf Foix, wie Ista annahm.

»Zwei Zauberer«, merkte Foix an. »Oder ein Zauberer und eine Zauberin. Wenn das die zutreffende Bezeichnung für Euch ist, Majestät. Ich bin mir da nicht sicher.«

»Ich auch nicht. Wir werden dy Cabon fragen müssen«, gab sie freundlich zurück.

»Nun gut«, sagte Foix. »Unternehmt trotzdem nichts allzu Aufregendes. Ich möchte mich nicht an aufwendigeren Zaubern versuchen, und eine einfache Täuschung hat ihre Grenzen.«

»Allerdings«, murmelte Illvin.

Sie stapften einige weitere Schritte voran.

»Nun«, sagte Foix und hielt vor den Seilen an, mit denen die Pferde gesichert waren. »Habt Ihr irgendwelche Vorlieben, Rittmeister?«

»Am besten ein Tier, das schon gesattelt und aufgezäumt ist.«

Eine Auswahl wurde ihnen abgenommen. Am Ende der Reihe hob plötzlich ein großer, hässlicher, kastanienbrauner Hengst den Kopf und wieherte aufgeregt. Er schob seine Hüften von einer Seite auf die andere und brachte die Pferde in Unruhe, die in einiger Entfernung von ihm standen. Das Tier stellte die Ohren auf und tänzelte, als sie näher kamen. Es hob und senkte den Kopf und schnaubte.

»Da schau der Bastard, Majestät! Könnt Ihr das Biest zur Ruhe bringen?«, fragte Foix mit unterdrückter Stimme. »Man sieht schon zu uns hin.«

»Ich?«

»Er ist jedenfalls auf Euch fixiert.«

»Dann setzt mich bei ihm ab.«

Illvin ließ sie durch seine Arme auf die Füße gleiten und bedachte sie dabei mit einem forschenden Blick, der, für einen Augenblick, ebenso gut wie ein Kuss war. Dann stützte er sie, damit sie aufrecht stehen konnte. Sie war dankbar für seinen Arm.

Sie näherte sich dem besessenen Tier, das wieder den Kopf senkte und ihn gegen ihr blutiges Obergewand drückte. Diese Geste mochte Unterwürfigkeit ausdrücken, oder Zuneigung, oder Dummheit. Fasziniert musterte Ista den Hengst. Er trug noch immer das Zaumzeug mit der Kandare. Ein Dutzend Schnitte zeichneten seinen Leib, doch schon waren sie mit unnatürlicher Geschwindigkeit am Abheilen. »Ja, ja«, murmelte Ista beruhigend. »Es ist gut. Wohin er gegangen ist, konntest du nicht folgen. Du hast getan, was du konntest. Es ist jetzt gut.« Sie bemühte sich, ihre verträumte Kraftlosigkeit abzuschütteln, und sagte zu Illvin: »Ich glaube, ich reite besser auf ihm. Ansonsten würde er versuchen, uns zu folgen, und sich dabei die Seele aus dem Leib winseln.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und musterte den gezackten Grat seiner Wirbelsäule. »Aber besorgt mir auf jeden Fall einen Sattel!«, fügte sie hinzu.

Foix entwendete einen Sattel von einem Haufen weiter hinten an der Reihe der Pferde. Illvin zog die Gurte stramm, während Foix zwei weitere Tiere auswählte.

»Wie heißt er denn?«, fragte Ista, als Illvin ihr auf’s Pferd half. Dort oben kam ihr der Boden ziemlich weit weg vor — typisch für seine Reittiere. Sie ordnete mühsam die Röcke über dem Kriegssattel und ließ sich von Illvins warmen Händen an den Knöcheln zu den Steigbügeln führen. Unglücklich verweilten seine Finger einen Augenblick über den Blutergüssen und Kratzern auf ihren Füßen.

Er räusperte sich. »Das möchte ich eigentlich lieber nicht sagen. Der Name ist, äh … vulgär. Das Pferd war niemals für eine Dame bestimmt. Genau genommen war es kein Tier, auf dem irgendjemand geritten wäre, der noch bei Verstand ist.«

»Ach? Ihr seid doch darauf geritten.« Sie tätschelte den gewundenen Hals. Der Hengst bog den Kopf nach hinten und stupste ihre bloßen Füße. »Nun, wenn er von nun an das Reittier einer Dame sein soll, dann sollte man ihm vielleicht einen anderen Namen geben. Dämon würde passen.«

Illvin warf ihr einen schiefen Blick zu, und ein kleines Lächeln huschte über sein angespanntes Gesicht. »Gut.«

Er wandte sich ab und griff nach seinem eigenen Pferd. Er musste erst einmal kurz innehalten und Kräfte sammeln, ehe er sich in den Sattel schwingen konnte. Dann ließ er sich mit einem erschöpften Seufzen hineinsinken. In gegenseitiger, unausgesprochener Übereinstimmung wandten sie sich zunächst gemeinsam in gesetztem Schritt über das angrenzende Feld. Hinter ihnen im Hain hatte irgendetwas Feuer gefangen. Ista hörte das gedämpfte Prasseln der Flammen und die Rufe der Männer nach Wasser. Wie viel aufgestautes Chaos, natürlicher wie unnatürlicher Art, war durch Joens Tod auf die Jokoner losgelassen worden? Sie sah sich nicht um.

»Nach links«, meinte Illvin zu Foix.

»Sollten wir nicht einen Bogen über die Anhöhe im Norden beschreiben und so außer Sicht kommen?«

»Irgendwann schon. Doch da hinten gibt es einen Einschnitt, der uns schon vorher Deckung geben wird. Aber bewegt Euch langsam, vermutlich ist er bewacht. Zumindest ist es ein Ort, wo ich selbst Wachen aufstellen würde.«

Die täuschende Ruhe hielt an. Der zunehmende Lärm aus dem Lager blieb hinter ihnen zurück, und die leere Landschaft vermittelte die Atmosphäre eines ruhigen, verschlafenen und allzu warmen Nachmittags, weitab von Kriegen und Zauberei, Göttern und Wahnsinn.

»Bei der ersten Gelegenheit«, sagte Ista zu Illvin, »müsst Ihr Goram zu mir bringen.«

»Wie Ihr wünscht, Majestät.« Illvin drehte sich im Sattel und schaute sich die Umgebung an, durch die sie ritten.

»Sollen wir in einem großen Kreis nach Porifors zurückkehren?«, fragte Foix. Er folgte Illvins Blick über die Baumwipfel bis zu dem fernen Bauwerk. Noch immer stieg eine schmutzige Rauchwolke irgendwo aus dem Innern auf. »Ich glaube, im Schutz der Dunkelheit könnte ich uns hineinschmuggeln.«

»Nein. Sobald wir den Einschnitt hinter uns lassen, wollte ich versuchen, zum Grafen von Oby durchzukommen.«

»Ich weiß nicht, ob die Königin noch so weit reiten kann«, meinte Foix. Er fürchtete offenbar, dass nicht nur Ista, sondern auch Illvin jeden Augenblick aus dem Sattel kippen könnte. »Oder werden wir auf der Straße auf ihn stoßen?«

»Auf der Straße wird er nicht sein. Wenn er da ist, wo ich vermute, müssen wir weniger als zehn Meilen zurücklegen. Und wenn er noch nicht da ist, werden seine Kundschafter bald dort eintreffen.«

Sie stiegen in die Schlucht hinab, wo sie fast sofort auf Illvins vorausgesagte Patrouille stießen. Die unerwartete Richtung ihrer Annäherung, Foix’ Kleidung als Offizier, das roknarische Sattelzeug und Illvins steifes höfisches Roknari führten schließlich dazu, dass sie den Vorposten bald wieder unter vielerlei Verbeugungen und Kratzfüßen verließen. Illvin erwiderte den vierfältigen Segensgruß der glücklosen Soldaten und berührte, sobald sie wieder außer Sicht waren, in stummer Entschuldigung an den fünften Gott mit dem Daumen die Zunge. Sie trieben die Pferde schneller voran.

Illvin führte sie und nutzte jede Deckung, die die Landschaft bieten konnte — Senken und kleine Wasserläufe, Dickichte und Wäldchen. Dabei hielt er sich stets in eine nordöstliche Richtung. Nachdem sie vier oder fünf Meilen zurückgelegt hatten, hielten sie kurz an und gönnten sich und den Pferden ein wenig Wasser. Porifors war inzwischen hinter einigen niedrigen, sanft ansteigenden Hügeln außer Sicht, doch noch immer beschmutzten verschiedene Rauchsäulen den klaren, blauen Himmel hinter ihnen.

»Fühlt Ihr noch Euren Bären?«, wollte Ista von Foix wissen, als dieser den Kopf endlich wieder aus dem Fluss zog.

Foix setzte sich und runzelte die Stirn. »Nicht so wie früher. Joen hat irgendwas mit uns gemacht. Ich hoffe, es war nichts Übles.«

»Ich habe den Eindruck«, erklärte Ista bedächtig, »dass ihr beide durch all diese Geschehnisse schneller zusammengezwungen wurdet, als ihr es aus eigenem Antrieb geschafft hättet. Ihr seid verschmolzen, ohne dass eine Seite beherrscht oder unterdrückt worden wäre. Ich glaube, dass Euer Dämon weder von Eurer Seele zehrt, noch dass er ihr die Kraft raubt, sondern dass ihr beide alles frei miteinander teilt.«

Foix sah verlegen aus. »Ich habe immer gern Tiere gefüttert …«

»Euch zu trennen, übersteigt meine derzeitigen Fähigkeiten, wie auch Eure gegenwärtigen Bedürfnisse. Ihr habt einen theologisch interessanten Zustand erreicht, doch dieser ist nicht einzigartig, nehme ich an. Ich habe mich mitunter gefragt, woher die Tempelzauberer eigentlich kommen. Jetzt weiß ich es. Ich würde sagen, es war eine der Aufgaben der Heiligen von Rauma, zu beurteilen, wer diese Macht tragen konnte, ohne ihr zu verfallen. Womöglich werdet Ihr eine Ausbildung von der Kirche des Bastards erhalten müssen. Ich bin mir sicher, Euer Orden wird Euch freigeben, wenn ich darum bitte.«

Foix verzog das Gesicht. »Ich soll ein Akolyth des Bastards werden? Na, mein Vater wäre bestimmt nicht erfreut. Oder meine Mutter … Ich sehe sie vor mir, wie sie es das ihren Freundinnen erklären muss. Autsch.« Unwillkürlich grinste er. »Allerdings kann ich es kaum erwarten, Ferdas Gesichtsausdruck zu sehen …« Verschlagen sah er zu ihr hin. »Werdet Ihr auch eine Ausbildung erhalten, Majestät?«

Sie lächelte. »Berater, Foix. Eine Dame meines Ranges kann Berater fordern, die mir nach Belieben zur Seite stehen. Ich denke, mir beliebt es sehr bald, und das Belieben wird womöglich etwas einseitig sein …«

Die Erinnerung an Ferda und die Hoffnung, etwas Neues von seinem Bruder zu hören, war stärker als Foix’ anfängliches Verlangen, Ista zu verhätscheln. So war es schließlich er, der die Pferde bereitmachte und seine Gefährten zum Aufbruch drängte.

»Rollt diesen Wappenrock zusammen und verstaut ihn in der Satteltasche«, riet Illvin, während er aufsaß. »So der Bastard will, sind die nächsten Kundschafter, auf die wir stoßen, die aus Oby. Und angehender Tempelzauberer oder nicht — ein irrtümlicher Armbrustbolzen wäre Eurer Gesundheit nicht zuträglich.«

»Sicher nicht«, erwiderte Foix und kam der Empfehlung hastig nach.

Illvin musterte seinen roten Hengst, der Ista mit solch außerordentlicher Behutsamkeit trug, dass sie einen Becher Wasser hätte halten können, ohne etwas zu verschütten. Erstaunt schüttelte er den Kopf, als wäre unter allen Wundern, die er in letzter Zeit hatte miterleben können, dies hier das Unerklärlichste. »Könnt Ihr noch durchhalten?«, fragte er. »Es ist nicht mehr sehr weit.«

»Im Vergleich zu der Meile, die ich gelaufen bin, bedeuten ein paar weitere Meilen zu Pferde gar nichts«, versicherte sie ihm. »Ich dachte schon, der Gott hätte mich verlassen. Doch wie es scheint, hat Er sich nur in meinem Innern verborgen.« Und es mir überlassen, Ihn zu tragen. Es war einer der kleinen Scherze des Bastards, befand sie, dass Er ihr zuvor in derart massiger Gestalt erschienen war. Hatte Er alles schon vorher gewusst? Obwohl sie nun schon drei Göttern Auge in Auge gegenübergestanden hatte, konnte sie die Grenzen ihrer Voraussicht nicht abschätzen.

»Ihr habt gar nicht mehr geleuchtet«, warf Foix ein. »Und das macht Sinn: Die jokonischen Zauberer hätten Euch kaum vor Joens Antlitz geschleppt, hättet Ihr ausgesehen wie ein Schiff, das in heiligem Feuer lodert. So dumm waren sie auch nicht. Doch als Ihr plötzlich erstrahlt seid …« Er verstummte. Foix fehlte es selten an Worten, überlegte Ista. Allmählich verstand sie, weshalb Lord dy Cazaril zu dem Schluss gelangt war, dass man die Götter allenfalls in der Sprache der Poesie erfassen konnte. Schließlich brachte Foix hervor: »Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen. Ich bin froh, dass ich es gesehen habe. Aber wenn ich niemals wieder so etwas erblicken müsste, wäre es mir recht.«

»Ich habe gar nichts gesehen«, stellte Illvin bedauernd fest. »Trotzdem habe ich sofort bemerkt, als die Dinge in Bewegung gerieten.«

»Ich bin froh, dass Ihr dort wart«, sagte Ista.

»Ich konnte wenig genug tun«, seufzte er.

»Ihr könnt Zeugnis ablegen. Das bedeutet mir viel. Und dann war da noch dieser Kuss. Der schien mir auch nicht unbedeutend zu sein.«

Er errötete. »Ich bitte um Verzeihung, Majestät. Ich war verzweifelt. Ich dachte, ich könnte Euch von den Toten zurückholen, wie Ihr es einst bei mir gemacht habt.«

»Illvin?«

»Ja, Majestät?«

»Ihr habt mich zurückgeholt.«

»Oh.« Eine Zeit lang ritt er still dahin; dann kroch ein merkwürdiges Lächeln auf sein Gesicht und wollte nicht wieder verschwinden.

Schließlich hob er den Blick und stellte sich in den Steigbügeln auf, fand tatsächlich noch Kraftreserven. »Ha«, flüsterte er. Ista folgte seinem Blick. Sie brauchte eine Weile, um die schwachen, blassen Rauchfahnen wahrzunehmen, die von sorgsam klein gehaltenen Lagerfeuern emporstiegen. Sie zeigten ein Lager an, das im Flusstal unter ihnen verborgen lag. Es waren ziemlich viele Feuer.

Sie folgten dem Kamm, bis er eine leichte Biegung beschrieb und noch mehr von dem Lager in Sicht kam. Ista erblickte Hunderte von Männern und Pferden. Sie konnte die Zahl nicht genau abschätzen, so versteckt lag das Lager.

»Oby«, sagte Illvin zufrieden. »Er ist schnell vorangekommen. Aber ich danke den Göttern, dass er nicht noch schneller war.«

»Gut«, hauchte Ista erleichtert. »Ich bin fertig.«

»Allerdings, und wir danken Euch für Eure Arbeit, denn andernfalls wären wir inzwischen alle tot, auf irgendeine furchtbare und unheimliche Weise. Auf der anderen Seite muss ich immer noch zusehen, wie ich fünfzehnhundert ganz normale Jokoner aus der Gegend von Porifors entferne. Ich weiß nicht, ob Oby bis zur Abenddämmerung warten wollte, doch wenn wir rasch zuschlagen …« Er musterte die Gegend auf die inzwischen schon vertraute Weise mit Blicken, die abwechselnd die Männer unter ihnen abzählten und dann wieder nachdenklich ins Leere gingen. Ista verzichtete darauf, ihn zu unterbrechen.

Eine Patrouille kam ihnen entgegen. »Ser dy Arbanos!«, rief der verwunderte Offizier und winkte Illvin ungestüm zu. »Bei den fünf Göttern, Ihr lebt!« Die Reiter formierten sich um sie herum zu einer aufgeregten Eskorte und rissen sie mit sich in jenen Teil des Lagers, wo große Zelte im Schatten standen; hier hatten die Befehlshaber ihr Hauptquartier eingerichtet.

Zwischen den Bäumen erklang eine Stimme, und eine vertraute Gestalt schoss zwischen den grünen Schatten hervor. »Foix! Foix! Der Tochter sei Dank!« Ferda rannte ihnen entgegen. Foix schwang sich aus dem Sattel und umarmte seinen aufgeregten Bruder.

»Was sind das für Männer?«, fragte Illvin den Offizier aus Oby und nickte in Richtung einer unbekannten Gruppe von Reitern in Schwarz und Grün. Die Reiter öffneten ihre Reihen und gaben den Blick frei auf einige Leute, die zu Fuß herankamen — einige im Laufschritt, andere in einem schwerfälligen Trott; wieder andere schritten noch langsamer und würdevoller dahin. Und sie alle riefen laut nach Ista.

Hin und her gerissen zwischen Freude und Bestürzung blickte Ista ihnen entgegen. »Der Bastard verschone mich! Das ist mein Bruder dy Baocia«, bemerkte sie verblüfft. »Und dy Ferrej, und Lady dy Hueltar, und die Geweihte Tovia und all die anderen aus Valenda …«

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