9

Ista klammerte sich an Ferdas Ellbogen. Er geleitete sie über die niedergetrampelte Wiese und erzählte aufgeregt von der Schlacht im Morgengrauen, die er ein Stück weiter vorn in der Kolonne erlebt hatte. Sie bekam nicht einmal jeden dritten Satz mit, erkannte allerdings rasch, wie sehr er von der Kriegskunst Arhys dy Lutez’ angetan war. Die Wiese schien vor ihr zu schwanken, in ihrem Kopf hämmerte es, ihre Augen pochten, und ihre Beine …

»Ferda«, unterbrach sie sanft seinen Redefluss.

»Ja, Majestät?«

»Ich möchte … ein Stück Brot und einen Platz, um mich hinzulegen.«

»Dieses unwirtliche Lager ist nicht der geeignete Ort zum Ausruhen für Euch.«

»Irgendein Brot reicht. Irgendein Platz.«

»Vielleicht kann ich einige Frauen finden, die Euch als Zofen dienen können. Doch was Ihr gewohnt seid, werden sie Euch nicht bieten können …«

»Ich wäre auch mit Eurer Lagerstatt zufrieden.«

»Majestät, ich …«

»Wenn Ihr mir nicht sofort ein paar Decken besorgt, werde ich mich hier auf den Boden setzen und losheulen.«

Diese ernst vorgebrachte Drohung schien ihn endlich aufzurütteln. Zumindest hörte er damit auf, sich um all jene Dinge zu sorgen, die sie seiner Meinung nach unbedingt haben musste, die aber nicht zur Verfügung standen. Stattdessen kümmerte er sich um jene Dinge, die sie wollte und auch bekommen konnte. Er führte sie zu den Zelten der Offiziere unter den Bäumen, wählte scheinbar zufällig eins davon aus und steckte den Kopf ins Innere. Dann führte er sie hinein. Es war warm und stickig und roch nach Schimmel, Männern, Leder, Pferden und Öl, wie es für Klingen und Rüstungsteile verwendet wurde. Doch es gab eine Lagerstatt. Ista legte sich darauf nieder — mit ihren Stiefeln und in den blutbefleckten Röcken.

Ein paar Minuten später kam Ferda mit einem Stück braunem Brot zurück. Ista kaute schläfrig. Wenn der Besitzer des Zeltes zurückkehrte … sollte ein anderer sich darum kümmern. Foix hätte gewiss jeden davon überzeugen können, dass dieser offensichtliche Raub in Wahrheit eine Ehre war, die man würdigen musste. Ferda würde das vielleicht ebenso gut schaffen. Sie machte sich Sorgen um Foix und dy Cabon. Waren sie immer noch zu Fuß in der Wildnis unterwegs? Liss war offensichtlich entkommen und hatte Maradi erreicht, doch wohin war sie anschließend geritten? Hatten die drei einander wieder gefunden? Und …


Mühsam öffnete Ista die von Schlaf verklebten Augenlider und starrte zur Decke. Kleine Lichtpunkte stachen durch das grobe Gewebe der Zeltplane und blitzten auf, als eine sanfte Brise die Blätter darüber in Bewegung versetzte. Ista fühlte sich zerschlagen und hatte Kopfweh. Ein halb gegessener Brotkanten lag noch dort, wo er ihr aus der Hand gefallen war. Nachmittags? Ja, dem Licht und ihrer Blase nach zu urteilen.

»Majestät?«, flüsterte eine besorgte Frauenstimme. »Seid Ihr wach?«

Ista stöhnte, drehte sich zur Seite und stellte fest, dass Ferda — oder jemand anders — schließlich doch noch ein paar Bedienstete für sie aufgetrieben hatte: zwei ungehobelt wirkende Marketenderinnen und eine gepflegte Frau, die das Grün der Mutter trug und offenbar eine Akolythin und Heilerin war. Die drei warteten darauf, dass sie erwachte. Die Akolythin war von einem Boten des Grafen aus der nächstgelegenen Stadt herbestellt worden, erfuhr Ista. Und wie sich herausstellte, brachten die drei Frauen mehr nützliche Fertigkeiten mit als die ganze Schar hochwohlgeborener Damen, die Ista früher mit ihren Diensten belästigt hatten.

Fast die Hälfte ihrer Gewänder war unter der Beute der Roknari wieder gefunden worden, vermutlich von Ferda oder einem seiner Männer. Nun lagen die Kleidungsstücke auf der gegenüberliegenden Schlafstätte. Es gab reichlich Waschwasser, Kauhölzchen und eine scharfe Kräuterpaste, Salben und frische Verbände, ein sorgfältiges Bürsten und Neuflechten ihrer zerzausten Haare sowie frische Kleidung. Als Ista im Licht des frühen Abends schließlich aus dem Zelt humpelte, auf den Arm der Akolythin gestützt, fühlte sie sich wenn schon nicht wie eine Königin, so doch zumindest wieder wie eine Frau.

Das Lager war ruhig, aber nicht verlassen. Männer kamen und gingen in kleinen Gruppen, unterwegs zu irgendwelchen geheimnisvollen Besorgungen, wie sie nach einer Schlacht üblicherweise anstanden. Nicht einer von ihnen, so schien es, wollte sie sogleich wieder auf ein Pferd laden, was ihr einen Angstanfall ersparte, für den sie sich ohnehin zu kraftlos fühlte, Sie empfand nur Dankbarkeit.

Sie fand einige Männer ihrer eigenen Truppe wieder. Sie sahen gewaschen aus und halbwegs hergerichtet, wenn auch erschöpft. Inzwischen unterhielten sie ihr eigenes Lagerfeuer in dem Wäldchen und hatten sich auch ein paar Marketenderinnen ausgeborgt. Ista wurde eingeladen, auf einem Holzklotz Platz zu nehmen, der in aller Eile zum Stuhl zurechtgehauen und sorgfältig mit gefalteten Decken ausgepolstert wurde. Von diesem behelfsmäßigen Thron aus verfolgte sie träge, wie für ihre Gesellschaft ein Abendessen zubereitet wurde. Sie schickte ihre Akolythin aus, um denjenigen ihrer Männer Hilfe anzubieten, deren Verletzungen noch unbehandelt waren, und die Frau kehrte erfreulich schnell zurück. Endlich tauchte auch Ferda wieder auf. Er schien ebenfalls ein bisschen Schlaf gefunden zu haben, sehr zu Istas Erleichterung.

Ein würziger Duft stieg vom Lagerfeuer auf, als auch Arhys dy Lutez wieder im Lager einritt, begleitet von einem Dutzend Offizieren und Wachen. Er kam zu Ista und grüßte sie mit einer Verbeugung, die ihm auch in Cardegoss nicht zur Schande gereicht hätte. Höflich erkundigte er sich nach ihrem Befinden, und mit zweifelnder Miene hörte er sich die Lobpreisungen seiner Gastfreundschaft hier im Lager an, die Ista vorbrachte.

»Die Damen bei Hofe in Cardegoss unternehmen während des Sommers häufig ein Picknick im Wald und geben vor, an den Freuden des einfachen Lebens Gefallen zu finden«, erklärte Ista ihm. »Es war durchaus in Mode, in Wäldchen wie dem hier Teppiche unter den Bäumen auszubreiten und ein Abendessen einzunehmen, wenn das Wetter so angenehm war wie heute.« Wobei man sich natürlich die Verwundeten und das verstreute Kriegsgerät wegdenken musste.

Er lächelte. »Ich hoffe, wir können Euch bald etwas Besseres anbieten. Ich muss mich hier noch um einige Dinge kümmern und Berichte an meinen Lehnsherrn schreiben, den Herzog von Caribastos. Aber bis morgen früh sollte die Straße gesichert sein und frei von jokonischen Nachzüglern. Es ist eine Ehre für mich, Euch auf Burg Porifors als Gast zu begrüßen, bis Ihr Euch von Euren Verletzungen und der Müdigkeit erholt habt und Eure Männer wieder einsatzbereit sind. Anschließend werde ich Euch eine Eskorte bereitstellen, die Euch überall hin geleiten wird, wohin Ihr zu gehen wünscht.«

Ista schürzte die Lippen und dachte darüber nach. Sie fühlte seinen besorgten Blick auf sich ruhen. »Ist Porifors die nächstgelegene Zuflucht?«

»Es ist die stärkste Festung. Es gibt zwar einige Dörfer und Ortschaften, die näher sind, aber ihre Stadtmauern sind schwach, und die Ansiedlungen selbst sind sehr bescheiden. Porifors wäre nur ein halber Tagesritt mehr für Euch — in leichten, bequemen Etappen, das verspreche ich Euch. Außerdem«, ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Wärme, »außerdem muss ich gestehen, es ist nun einmal mein Zuhause. Ich würde mich freuen und wäre stolz, wenn ich es Euch zeigen könnte.«

Ista versuchte, nicht auf ihr Herz zu hören, das dahinschmolz wie Wachs im Feuer. Wenn sie weiterhin in seiner Gesellschaft blieb, würde das weitere Gespräche mit ihm nach sich ziehen, und das wiederum führte zwangsläufig zu … wozu? Ihr fiel auf, dass Ferda sie mit inbrünstiger Hoffnung betrachtete, und sie hörte ihn zufrieden seufzen, als sie schließlich sagte: »Ich danke Euch, mein Herr. Wir würden die Ruhe und Zuflucht, die Ihr uns anbietet, sehr zu schätzen wissen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht können auch die verlorenen Mitglieder unserer Schar wieder zu uns stoßen, wenn wir eine Weile bleiben. Sobald Ihr Euren Brief an dy Caribastos aufsetzt — würdet Ihr ihn bitte wissen lassen, dass wir sehr besorgt über ihren Verbleib sind? Er soll diese Nachricht verbreiten und dafür sorgen, dass sie rasch hierher gelangen, sobald sie gefunden werden.«

»Gewiss, Majestät.«

Ferda flüsterte ihr zu: »Wenn Ihr erst einmal hinter den Mauern dieser Festung in Sicherheit seid, kann ich mich vielleicht auch auf die Suche nach ihnen machen.«

»Vielleicht«, gab sie leise zurück. »Aber lasst uns diese Festung erst einmal erreichen.«

Auf Ferdas Einladung hin verweilte der Graf an ihrem Lagerfeuer, während die Sonne unterging und die Marketenderinnen, angespornt von Istas königlicher Anwesenheit, ein überraschend aufwendiges Mahl bereiteten. Ista hatte bisher nicht gewusst, dass man Brot in einer Pfanne über dem offenen Feuer backen konnte. Es duftete nach Kräutern, Knoblauch und Zwiebeln. Arhys aß nichts und ließ sie wissen, dass er bereits etwas zu sich genommen hatte. Doch er nahm einen Becher mit verdünntem Wein entgegen — besser gesagt, ein wenig Wasser, das mit einem Spritzer Wein eingefärbt war.

Schon früh entschuldigte er sich. Ista sah Kerzenlicht aus seinem Zelt schimmern, während er an einem Reiseschreibpult, das seine Bediensteten auf derartigen Unternehmungen mitführen mochten, saß und schrieb. Er nahm die Listen der Toten und Verwundeten entgegen, schickte Befehle und Berichte und Briefe ab, die von schnellen Reitern durch die Dunkelheit getragen wurden. Ista beobachtete, wie einer der gefangenen Aufsichtsbeamten aus Jokona zu einer eingehenden Befragung in sein Zelt geführt wurde.

Schließlich zog sie sich in ihr eigenes requiriertes Zelt zurück, wo inzwischen sämtliche Ausrüstungsstücke des ursprünglichen Besitzers fortgeschafft und überall würzige Kräuter verstreut worden waren. Zu diesem Zeitpunkt schimmerte immer noch Licht durch Arhys Zeltplanen, und es strahlte die ganze Nacht hindurch wie eine Laterne.


Ihre Abreise am nächsten Morgen verzögerte sich — zum einen, weil Arhys noch Angelegenheiten seiner Truppe zu klären hatte, zum anderen, weil Abordnungen aus der Stadt zu empfangen waren, wohin er die Gefangenen aus Jokona geschickt hatte. Ista erkannte, wie sehr er sich über die Verspätung ärgerte; schließlich aber wurden die Zelte zusammengepackt. Sie erhielt ein ausgeruhtes Pferd aus den Beständen des Grafen, einen hübschen weißen Wallach, dazu ihren eigenen Sattel und das Zaumzeug. Der junge Soldat, der das Pferd brachte, war ihr früher am Morgen bereits aufgefallen, als er mit dem Tier über die Wiese geritten war. Vermutlich hatte er dafür sorgen sollen, dass es schon ein wenig müde und nicht mehr so übermütig war, wenn Ista es bekam. Vielleicht hatte er auch sicherstellen müssen, dass das Tier für eine Dame überhaupt geeignet war. Für eine müde, ältere Dame. Ista hätte gern eine Trittbank gehabt, um in den Sattel zu steigen; so aber nahm sie mit der schüchternen, ja ängstlichen Unterstützung des Soldaten vorlieb.

»Ich hoffe, Ihr kommt mit ihm zurecht«, sagte der junge Mann und senkte den Kopf. »Hab ihn selbst ausgesucht. Leider fehlt uns unser Rittmeister. Er ist krank geworden, und seither versucht mein Lord dy Lutez, die Arbeit zweier Männer zu tun. Aber es wird alles einfacher, wenn wir erst mal wieder in Porifors sind.«

»Da bin ich mir sicher.«

Es war ein langer Zug, der bald darauf aus dem Flusstal stieg und das trockene Umland durchquerte. Vierzig Reiter in den grauen Wappenröcken von Porifors ritten vorneweg, in Kettenrüstung und gut bewaffnet. Dahinter folgte Ista mit Ferdas geschrumpfter Schar. Dann kam ein langer Tross mit Packtieren und Dienern, und schließlich folgten weitere zwanzig Krieger als Nachhut.

Sie stießen auf einen Weg und dann auf eine größere Straße nach Norden. Ständig ritten Kundschafter aus oder kehrten zurück und machten Meldung bei Arhys’ wachsamen Offizieren; es waren knappe Botschaften, aber anscheinend beruhigend.

Schließlich zog die Kolonne in gemächlichem Schritt durch den warmen Morgen. Irgendwann konnte Arhys sich den ständigen Anforderungen seines Kommandos für eine Weile entziehen. Er ließ sich zurückfallen und ritt ein Stück an Istas Seite.

Nun, da seine kleine Streitmacht endlich in der richtigen Richtung unterwegs war, grüßte er sie gut gelaunt: »Majestät! Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen und findet diesen abschließenden Ritt erträglich?«

»O ja. Obwohl ich glaube, dass ich meutern würde, sollten wir in Trab fallen.«

Er lachte in sich hinein. »Dann wird das auch niemand von Euch verlangen. Wir werden gegen Mittag eine Zeit lang rasten, dann sind wir gerade rechtzeitig zum Abendessen in Porifors — ein noch besseres Abendessen, als ich Euch gestern anbieten konnte.«

»Das muss dann aber ein ganz hervorragendes Mahl sein. Ich freue mich schon darauf.« All diese Höflichkeiten kamen ihr wie von selbst über die Lippen. Doch sie spürte die Anspannung hinter seinem Lächeln und wusste, er wollte mehr als einen Austausch höflicher Floskeln.

»Ich glaube, ich muss mich entschuldigen, dass ich Euch gestern nicht erkannt habe«, fuhr er fort. »Der Kurier aus Tolnoxo, der uns vor dem Heerzug warnte, erzählte uns eine wirre Geschichte darüber, dass auch Ihr unter den Gefangenen wärt.

Aber alle seine Berichte waren arg durcheinander. Als ich dann aber sah, wie die Offiziere aus Jokona eine Frau davonschleppen, dachte ich schon, es könne etwas dran sein. Dann hat Euer Inkognito mich von neuem verwirrt.«

»Ihr schuldet mir keine Entschuldigung. Ich war übertrieben vorsichtig, wie sich herausgestellt hat.«

»Keineswegs! Ich … hätte niemals erwartet, Euch tatsächlich zu begegnen. In Fleisch und Blut.«

»Nun, ich bin sehr glücklich darüber. Sonst wäre ich heute Morgen wohl an irgendeinem unangenehmen Ort in Jokona aufgewacht.«

Er lächelte und warf einen Blick auf Ferda, der auf Istas anderer Seite ritt und zufrieden den freundlichen Worten lauschte, die gewechselt wurden. Neugier und Furcht fochten einen kurzen Kampf in Istas Innerem, und die Neugier trug den Sieg davon. Sie ging auf Arhys Andeutung ein und beorderte Ferda außer Hörweite. »Mein werter Ritter«, sagte sie, »lasst uns doch bitte einen Augenblick allein.« Mit enttäuschtem Blick zog Ferda die Zügel an und ließ sich zurückfallen. Dann waren Ista und Arhys allein, ritten Seite an Seite, ein perlweißes und ein holzkohlengraues Pferd — ein schmucker Anblick und die beste Verbindung von Vertraulichkeit und Anstand, die sie vermutlich erreichen konnten. Ista dachte an Liss und spürte eine plötzliche Anwandlung von Einsamkeit. Besorgt fragte sie sich, wo das Mädchen sein mochte.

Arhys betrachtete sie unter leicht gesenkten Augenlidern, als würde er über Rätseln brüten. »Ich hätte Euch gleich erkennen müssen. Ich habe Eure Gegenwart vom ersten Moment an gespürt, da ich Euch sah. Und trotzdem — Ihr habt nicht so ausgesehen, wie ich mir die strahlende Ista vorgestellt hatte.«

Wenn das der Anfang irgendeiner höflichen Schäkerei sein sollte, war Ista zu müde, um sich darauf einzulassen. Wenn es etwas anderes war … dann war sie erst recht zu müde. Schließlich brachte sie hervor: »Wie habt Ihr Euch mich denn vorgestellt?«

Er macht eine unbestimmte Handbewegung. »Größer. Die Augen von tieferem Blau. Helleres Haar — gülden wie sie Sonne und süß wie Honig, sagen die Poeten bei Hofe.«

»Die Poeten bei Hofe werden für schmeichlerische Lügen bezahlt. Aber es stimmt, mein Haar war heller in meiner Jugend. Die Augen aber sind dieselben geblieben, nur dass sie inzwischen vielleicht mehr sehen.«

»Ich habe mir jedenfalls keine Augen in der Farbe eines Winterregens vorgestellt, und auch kein Haar im Farbton winterlicher Felder. Ich habe mich gefragt, ob Eure lange Trauer Euch in diese trostlose Jahreszeit raten ließ.«

»Nein. Irgendwie war ich schon immer ein fader Tropf«, erwiderte sie. Er lachte nicht. Das hätte einiges leichter gemacht. »Ich versichere Euch, das Alter hat nur meinem Verstand gut getan.« Und selbst der wird von vielen angezweifelt.

»Falls Ihr Euch dem gewachsen fühlt, Majestät, könnt Ihr mir etwas über meinen Vater erzählen?«

O weh, ich fürchte, sein Interesse galt nicht nur meinen regenfarbenen, traurigen Augen.

»Was gibt es zu sagen, das nicht schon jeder weiß? Arvol dy Lutez verstand sich auf den Umgang mit Schwert und Pferd, Musik und Dichtkunst, Kriegführung und Regierungsgeschäften … wenn er unter all seinen Begabungen eine Schwäche hatte, war es die Vielzahl seiner Talente, die ihn allzu oft um den Ertrag einer Anstrengung brachte …« Sie hielt inne, doch der Gedanke lief von allein weiter. Aus der Entfernung betrachtet wurde ihr klar, dass dy Lutez’ viele Dinge schwungvoll begonnen hatte, aber nur Weniges war von Erfolg gekrönt. Duftende Blüten, aus denen unreife oder faulige Früchte geworden waren …

Ja. Das hätte mir auffallen müssen, auch damals schon. Und wenn ich damals zu unreif war in meiner Urteilskraft, wie war es dann um die Urteilskraft der Götter bestellt, die keine solche, Entschuldigung haben?

»Er hat jeden begeistert, der ihn traf.« Nur mich nicht.

Arhys starrte auf den Widerrist seines Pferdes. »Wisst Ihr«, sagte er nach einer Weile, »ich habe schon schönere Frauen gesehen, doch Ihr zieht meine Aufmerksamkeit ganz besonders auf Euch … Ich kann es nicht erklären.«

Ein höflicher Kavalier, sagte sich Ista, hätte nie einen solchen Schnitzer begangen und eingeräumt, dass es schönere Frau gab als seine derzeitige Zuhörerin. Und ein höflicher Kavalier hätte weitergeredet und sich in poetischer Länge erklärt. Eine bloße Schäkerei konnte man mit einem Lächeln abtun, doch Arhys’ Bemerkungen waren ernst gemeint und beunruhigten Ista sehr viel mehr.

»Ich verstehe allmählich«, fuhr er fort, »warum Vater für Eure Liebe sein Leben riskiert hat.«

»Halt!«, sagte Ista.

Erschrocken schaute er zu ihr hinüber; dann erst dämmerte ihm, dass sie nicht sein Pferd meinte. »Majestät?«

»Wie ich sehe, haben die romantischen Gerüchte ihren Weg bis nach Caribastos gefunden. Aber sorgt Euch nicht um den erlesenen Geschmack Eures Vaters, denn Arvol dy Lutez war niemals mein Liebhaber.«

Arhys war vollkommen überrascht und brauchte eine Weile, um ihre Worte zu verdauen. Schließlich brachte er zögernd hervor: »Ich nehme an … inzwischen habt Ihr keinen Grund mehr, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.«

»Darüber habe ich nie etwas anderes als die Wahrheit gesagt. Ich war es nicht, die all diese Verleumdung und üble Nachrede verbreitet hat. Ich habe meist geschwiegen.« Und war sie daher weniger schuldig? Wohl kaum.

Er legte die Stirn in Falten und dachte darüber nach. »Hat König Ias Euren Unschuldsbeteuerungen keinen Glauben geschenkt?«

Ista rieb sich die Stirn. »Ich muss weiter vorn anfangen. Wie habt Ihr Euch die Wahrheit all die Jahre vorgestellt? Was steckte Eurer Meinung nach hinter den verhängnisvollen Begebenheiten?«

Er schaute unbehaglich drein. »Ich glaubte … war zu dem Schluss gekommen … dass mein Vater durch Folter zu einem Geständnis gebracht werden sollte, was seine Liebe zu Euch betrifft. Und als er nicht reden wollte, um Eure Ehre zu schützen oder die seine, gingen die Folterknechte in ihren Bemühungen zu weit, und er starb durch einen tragischen Zufall in den Kerkern des Zangres. Die Anklagen wegen Unterschlagung und geheimen Verhandlungen mit dem König von Brajar wurden nachträglich hinzugedichtet, um Ias’ Schuld zu verbergen. Das wurde von Ias ja auch stillschweigend bestätigt, indem er die Hinterlassenschaft von dy Lutez nicht eingezogen hat, wie es mit den Gütern wirklicher Verräter geschieht. Dy Lutez’ gesamtes Eigentum ging an die Erben über.«

»Das sind kluge Überlegungen«, stellte Ista fest. Und sie sind zu drei Vierteln zutreffend. Nur das eigentliche Geheimnis war ihm verborgen geblieben. »Es ist wahr, dy Lutez war fast so standhaft wie in Eurer Geschichte, die besser ist als die meisten Geschichten, die darüber erzählt werden.«

Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Ich habe Euch beleidigt, Majestät. Ich bitte um Verzeihung.«

Mit Mühe hielt sie ihre Stimme unter Kontrolle. Es war ihr mit einem Mal sehr wichtig, ihm deutlich zu sagen, dass sie nicht die Geliebte seines Vaters gewesen war. Woran lag das? Was machte das nach all den Jahren noch aus? Arhys hegte edle und romantische Vorstellungen über dy Lutez — der ihn jedoch völlig ignoriert hatte, soweit sie feststellen konnte. Warum sollte sie ihm diese einzige Hinterlassenschaft rauben, die er von seinem Vater im Herzen trug?

Aus den Augenwinkeln musterte sie seinen hoch gewachsenen Körper, der lässige Kraft ausstrahlte.

Wenn sie ihn besser kannte, mochte sie es vielleicht wagen, ihm alles zu sagen. Dass sein Vater auf meinen Wunsch hin ertränkt wurde? Wie gut müsste ich ihn dafür wohl kennen?

Sie atmete tief durch. »Euer Vater war kein Verräter, weder im Bett noch außerhalb. Er war so tapfer und edel wie irgendein Mann, der Chalion jemals gedient hat. Um ihn zu zerbrechen bedurfte es einer Aufgabe, die die Kraft eines jeden Mannes überstiegen hätte.« Scheitern war kein Verrat, auch dann nicht, wenn es schreckliche Folgen nach sich zog.

»Majestät, Ihr verwundert mich.«

Ihr Mut verließ sie. Ganz wie bei dy Lutez, ist es nicht so? »Es handelt sich um ein Staatsgeheimnis, und ich habe Stillschweigen geschworen. Ias starb, ehe er mich von diesem Eid entbinden konnte. Ich habe den Schwur abgelegt, niemals einer lebenden Seele davon zu berichten. Mehr kann ich nicht sagen. Ich kann Euch nur versichern, dass Ihr den Namen Eures Vaters ohne Schande tragen könnt.«

Seine Stirn glättete sich. »Ein Staatsgeheimnis … oh.«

O ihr Götter, warum habt ihr mich hergebracht? Bin ich nicht gestraft genug? Treibt ihr Scherze mit mir?

Ista fuhr mit einer Gelassenheit fort, die sie nicht empfand: »Doch nun genug von der toten Vergangenheit. Erzählt mir vom lebenden, atmenden Jetzt. Erzählt mir von Euch.« Das sollte reichen, um den Rest des Weges mit leichter Unterhaltung zu verbringen; Ista musste nur noch gelegentliche, interessierte Lautäußerungen beisteuern, vorausgesetzt, Arhys war wie die meisten Höflinge, die sie kannte.

Er zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich wurde in dieser Gegend geboren, und hier habe ich mein ganzes Leben verbracht. Seit meiner Jugend bin ich ausgeritten, um diesen Landstrich zu verteidigen. Meine Mutter starb, als wir … als ich zwölf Jahre alt war. Ich wurde von ihrem treuen … von anderen Verwandten großgezogen, und die Notwendigkeit machte mich zum Krieger. Porifors habe ich über meine Mutter geerbt, und der Herzog hat die Belehnung bestätigt, als ich alt genug war, um die Burg zu verteidigen. Die Besitztümer meines Vaters gingen zum großen Teil an seine erste Familie, obwohl mir noch einiger Grundbesitz hier in Caribastos zufiel. So war es wohl am zweckmäßigsten. Ich nehme an, die Testamentsvollstrecker hatten das ausgehandelt, aber zu jener Zeit wurde alles über meinen Kopf hinweg entschieden.«

Er verstummte abrupt. Offenbar war er fertig. Sein Vater war ein brillanter Geschichtenerzähler gewesen und hätte eine Tafel einen ganzen Abend lang unterhalten können, ohne ein Stichwort zu benötigen.

Arhys schaute sich um und blinzelte in das grelle Sonnenlicht. Dann setzte er noch einen Nachtrag hinzu: »Ich liebe dieses Land. Ich würde jede Meile davon sogar im Dunkeln wieder erkennen.«

Ista folgte seinem Blick. Die Berge waren gänzlich hinter dem Horizont verschwunden, und um sie her dehnte sich eine weite Landschaft mit sanften Hügeln, die nirgendwo den Blick auf den hellen Himmel verwehrte. Es war warm genug, um Olivenhaine wachsen zu lassen, deren schimmernde, silbergrüne Pracht sich überall auf den ausgedehnten Hängen verteilte. Einige befestigte Weiler kauerten am Rande ihres Sichtfelds, in Licht gebadet wie vergoldete Spielzeuge. Ochsengespanne pflügten an diesem friedlichen Tag in fernen Tälern. Ein großes Rad knarrte an einem Bachlauf und schöpfte Wasser, verteilte es über Gemüsebeete und die Rebstöcke, die sich über den tiefer gelegenen, fruchtbareren Boden hinzogen. Das Geräusch klang weich aus der Entfernung. Auf den Hügelspitzen stachen graue Felszacken durch den Boden und schienen sich zu sonnen wie ältere Leute auf einer Bank am Marktplatz.

Ein Kundschafter kam herangeritten und grüßte seinen Befehlshaber respektvoll. Arhys ritt für einen Augenblick zur Seite und besprach sich mit dem Mann; dann blickte er blinzelnd zur Sonne hinauf und runzelte die Stirn. »Majestät, ich muss mich um einige Dinge kümmern. Ich freue mich darauf, bei anderer Gelegenheit erneut das Vergnügen Eurer Gesellschaft genießen zu dürfen.« Mit ernstem Nicken verabschiedete er sich von Ista.

Ferda kam wieder heran. Er lächelte und schaffte es halbwegs, seine Neugier nicht zu deutlich zu zeigen. Kurze Zeit später wurden einige der Packtiere und Dienstboten vorausgeschickt; begleitet von einem halben Dutzend bewaffneter Flankenreiter fielen sie in Trab. Nach ein paar weiteren Meilen bog die Straße in ein langes, flaches Tal ab, mit Bäumen und Weinreben bestanden. Ein befestigtes Dorf schmiegte sich an den kleinen Wasserlauf. Im Olivenhain unweit des Baches stellten die Diener soeben zwei Zelte auf, bereiteten ein Feuer vor und suchten die Speisen zusammen.

Lord Arhys, Ista, Ferdas Schar und ungefähr ein Dutzend der Wachen bogen zur Seite ab, in Richtung des Wäldchens. Der Rest der Krieger zog weiter, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Ista lächelte dankbar, als Ferda ihr von dem weißen Ross herunterhalf. Der junge Soldat erschien wieder und führte das Pferd davon, zu Futter und Wasser. Ein anderer Soldat geleitete Ista, die sich auf Ferdas Arm stützte, in den Schatten eines alten Olivenbaumes. Dort warteten sie auf das Mittagessen. Aus Sätteln, Teppichen und gefalteten Decken war ein Sitz für Ista vorbereitet worden, der weich genug war, dass sie ihre müden Glieder entspannen konnte. Lord Arhys brachte ihr persönlich verdünnten Wein. Anschließend leerte er selbst einen Becher, der wiederum mehr Wasser als Wein enthielt.

Er wischte sich den Mund ab und reichte den Becher an einen bereitstehenden Diener.

»Majestät«, sagte er zu Ista, »ich muss mich ein wenig ausruhen. Meine Leute werden für alles sorgen, was Ihr wünscht. Das andere Zelt ist für Euch, falls Ihr Euch zurückziehen wollt.«

»Vielen Dank. Doch dieser angenehme Schatten dürfte vorerst ausreichen.« Beides waren schlichte Offizierszelte, rasch aufgebaut und ebenso rasch wieder zusammengefaltet. Das größere Kommandozelt war offensichtlich mit dem Rest des Zuges schon weitergeschickt worden.

Er verneigte sich und ging davon, duckte sich unter der Zeltklappe hindurch und verschwand. Ista hatte den Verdacht, dass er nun schon seit zwei Tagen jede Nacht wach geblieben war. Kein Wunder also, wenn er jetzt die Stunde der Ruhe nutzen wollte. Sein Diener folgte ihm nach drinnen und kam einige Minuten später wieder hervor, um sich mit untergeschlagenen Beinen vor der verschlossenen Klappe niederzusetzen.

Die Akolythin, Istas zeitweilige Zofe, fragte nach ihren Wünschen, von denen es nicht viele gab. Schließlich kam sie zu Ista in den Schatten. Ista ermunterte sie zu einem unbefangenen Gespräch und erfuhr auf diese Weise einiges über das örtliche Leben in den Dörfern. Die Marketenderinnen brachten ihr Speisen und schauten besorgt zu, wie sie aß. Als Ista lächelte und ihnen dankte, wirkten sie erleichtert und erfreut.

Das Dorf war zu klein, um einen Tempel zu unterhalten. Ferda und seine verbliebenen Männer erfuhren allerdings, dass auf dem Marktplatz neben dem Brunnen ein Schrein der Tochter zu finden war. Nach dem Essen machten sie sich auf den Weg dorthin, um für ihre Rettung zu danken. Ista entließ sie mit ihren besten Wünschen, sah selbst allerdings keine Notwendigkeit, einen bestimmten Platz aufzusuchen und dort nach den Göttern Ausschau zu halten. Sie schienen sich ihr an allen Orten und zu jeder Zeit aufzudrängen. Ein Ort allerdings, wo die Götter ganz sicher nicht zu finden waren — das wäre womöglich eine Pilgerreise wert!

Der stille, sonnige Nachmittag machte Ista schläfrig, und sie döste ein. Die Akolythin schlief neben ihr auf den Decken. Ihr Schnarchen war durchaus damenhaft, denn das Geräusch erinnerte an eine laut schnurrende Katze.

Ista erwachte aus dem Schlummer, zupfte eine Decke zurecht und lehnte sich wieder gegen die Baumrinde. Der knorrige Stamm war gewiss 500 Jahre alt. Ob es das Dorf schon so lange gab? Es machte den Anschein. Im Besitz Chalions, Ibras, verschiedener roknarischer Fürstentümer und jetzt wieder Chalions … Die verschiedensten Herren waren gekommen und gegangen, wie die Gezeiten an einem Strand, und der Ort dauerte einfach fort, beständig über die Jahrhunderte hinweg. Zum ersten Mal seit Tagen spürte Ista Entspannung, die der Sicherheit und Friedlichkeit dieser stillen Stunde entsprang. Sie gestattete sich, die Augen zu schließen, nur für eine kleine Weile.

Ihre Gedanken zerfaserten, schwebten an der Grenze zum Traum … Sie ging in der Burg von Valenda umher, oder vielleicht im Zangre, und stritt über Kleidung, die ihr nicht richtig passte … fliegende Vögel … ein Raum in einer Burg, von Kerzen erhellt.

Arhys’ Antlitz, vor Grauen verzerrt, der Mund weit aufgerissen … seine Hände griffen entsetzt nach vorn. Er taumelte und gab einen heiseren Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Schrei begann nahm und sich zu einem kummervollen Klagelaut steigerte …

Mit einem heftigen Atemzug fuhr Ista hoch. Der Schrei klang ihr noch immer in den Ohren. Sie setzte sich auf und blickte umher, mit wild pochendem Herzen. Die Akolythin schlief weiter. Mehrere Männer saßen auf der anderen Seite des Wäldchens bei den angebundenen Pferden und spielten Karten. Andere schliefen. Niemand sonst schien diesen beängstigenden Laut gehört zu haben. Keiner wandte den Kopf zu Arhys’ Zelt. Der Diener hatte seinen Platz vor dem Eingang verlassen.

Es war nur ein Traum … oder nicht?

Doch es war viel zu greifbar, viel zu echt für einen Traum gewesen. Es hob sich von den vorherigen, verschwommenen Eindrücken so deutlich ab wie ein Fels, der aus einem Strom ragt. Ista zwang sich, sich wieder anzulehnen, doch die Anspannung blieb. Sie spürte einen Druck auf dem Brustkorb wie von straff gezogenen Schnüren, die ihr den Atem nahmen.

Behutsam streckte sie eine Hand aus und erhob sich. Niemand beachtete sie. Verstohlen huschte sie die wenigen Meter durchs Sonnenlicht bis zum nächsten Baum und dort wieder in den Schatten. Am Eingang des Zeltes hielt sie inne. Wenn sie ihn jetzt weckte — was für eine Erklärung konnte sie dann vorbringen? Und wenn er wach war? Wenn er sich gerade anzog? Wie konnte sie diese Vertraulichkeit dann erklären?

Ich muss es wissen!

Ista schlug die Zeltplane zurück und trat ein. Rasch gewöhnten ihre Augen sich an das Dämmerlicht. Das helle Tuch der Planen war dünn genug, um die Schatten der Olivenblätter ausmachen zu können, die sich auf dem Zeltdach bewegten. Das Sonnenlicht ließ die Leinenbahnen sanft erglühen, und durch Dutzende nadelfeiner Löcher stachen Sonnenstrahlen ins Innere des Zelts.

»Lord Arhys? Lord Arhys, ich …« Ihr Flüstern erstarb.

Arhys’ Tunika und seine Stiefel lagen eingewickelt auf einer Decke rechts von ihr. Er selbst lag rücklings auf einem Feldbett zu ihrer Linken, mit dem Kopf zum Eingang und nur mit einem dünnen Leintuch bedeckt. Er hatte sich einen schmalen Streifen aus grauem und schwarzem Stoff um den Oberarm gewunden, direkt auf die Haut, als Zeichen eines persönlichen Gebets an den Wintervater.

Seine Augenlider waren geschlossen und grau. Er regte sich nicht, und seine Haut war so blass und durchschimmernd wie Wachs. Und über seiner linken Brust zeichnete sich ein hellroter Fleck ab, wie ein Brandmal, und rot sickerte es durch den Leinenstoff …

Ista stockte der Atem, und ihr Schrei erstickte. Sie ließ sich neben dem Feldbett auf die Knie fallen. Fünf Götter, man hat ihn ermordet! Aber wie? Niemand hatte das Zelt betreten, seit der Diener es verlassen hatte. Hatte er seinen Herrn verraten? War er ein Spion der Roknari? Mit zitternder Hand schlug Ista die Decke zurück.

Die Wunde auf der linken Brustseite sah wie ein kleiner, dunkler Mund aus. Träge sickerte Blut daraus hervor. Möglicherweise ein Dolchstich, aufwärts zum Herzen geführt. Lebt er noch? Sie drückte eine Handfläche gegen die Öffnung und fühlte den klebrigen Kuss dieser Lippen. Verzweifelt suchte sie nach einem Pochen oder Zittern, nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass sein Herz noch schlug. Sie war sich nicht sicher. Wagte sie es, ihr Ohr an seine Brust zu legen?

Die Erinnerung traf sie wie ein Blitz. Plötzlich stand er wieder vor ihrem geistigen Auge, der hoch gewachsene, magere Mann aus ihrem Traum … und der rote Blutstrom, der zwischen ihren Fingern hervorquoll wie eine Flut …

Ista riss die Hand zurück.

Diese Verletzung habe ich schon einmal gesehen.

Sie spürte, wie ihr Puls schneller ging und hörte das Blut in den Ohren rauschen. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft.

Es war dieselbe Wunde, sie hätte es beschwören können, genau dieselbe Wunde, bis in jede Einzelheit. Aber am falschen Mann.

Götter, was ist das für ein Grauen?

Und während sie noch zusah, öffneten sich seine Lippen. Seine entblößte Brust hob sich zu einem tiefen Atemzug. Von beiden Enden her wuchs die Wunde langsam zusammen, der dunkle Schlitz wurde blasser, die Haut straffte sich. Glättete sich. Augenblicke später war nur noch eine blasse rosa Narbe zu sehen, gesäumt von einem rötlich braunen, eintrocknenden Fleck. Er atmete mit einem schwachen Stöhnen aus und bewegte sich.

Ista sprang auf, die Finger der Rechten krampfhaft um das klebrige Blut auf der Handfläche geschlossen. Atemlos schlüpfte sie aus dem Zelt und stand blinzelnd im Freien. Sie hatte das Gefühl, dass ihr alles Blut aus dem Gesicht gewichen war. Der schattige Hain drehte sich vor ihren Augen. Rasch umrundete sie das Zelt und suchte Deckung zwischen seiner Rückseite und dem hohen, dicken Stamm des Olivenbaumes. Dort verweilte sie einen Augenblick, von niemanden zu sehen, und schöpfte Atem. Sie hörte das Feldbett knirschen, spürte Bewegungen auf der anderen Seite der undurchsichtigen Segeltuchwände, und vernahm schließlich ein Seufzen. Sie öffnete die rechte Hand und blickte auf den blutroten Schleier.

Ich verstehe das nicht.

Eine Minute später fühlte sie sich kräftig genug, dass sie gehen konnte, ohne zu straucheln, atmen konnte, ohne zu schreien, und ein ausdrucksloses Gesicht zu wahren, das nichts verriet. Sie gelangte zurück zu ihrem Sitz und ließ sich darauf fallen. Die Akolythin regte sich und richtete sich auf. »Majestät? Oh, ist es schon wieder Zeit zum Aufbruch?«

»Ich nehme es an«, erwiderte Ista und stellte erleichtert fest, dass ihre Stimme nicht zitterte oder schrill. »Lord Arhys hat sich erhoben, wie ich sehe …«

Arhys schlug die Zeltplane beiseite und trat ins Freie. Er musste den Kopf neigen, um durch die Öffnung zu passen.

Seine Stiefel hatte er wieder angelegt, und während er sich aufrichtete, befestigten seine Finger den letzten Verschluss der Tunika — einer Tunika, die keine Flecken oder Löcher aufwies. Er streckte sich, kratzte über seinen Bart und lächelte in die Runde, ganz das Bild eines Mannes, der sich soeben von einem erfrischenden Mittagsschlaf erhoben hat …

Sein Diener eilte wieder herbei und half ihm, den Wappenrock und den Schwertgurt anzulegen. Der klein gewachsene Mann hielt auch einen dünnen Leinenmantel bereit, der kunstvoll mit Goldfäden umsäumt war. Nachdem Arhys den Mantel angelegt hatte, richtete der Diener den Faltenwurf aus, bis das Kleidungsstück mit fürstlicher Eleganz über den Waden schwang. Dann rief Arhys seinen Leuten ein paar Befehle zu — nicht allzu drängend —, und die Männer setzten sich in Bewegung und bereiteten alles zum Aufbruch vor.

Die Akolythin erhob sich, sammelte ihre Sachen zusammen und verstaut sie. Ferda kam vorbei, auf dem Weg zu den Pferden. Ista rief ihn leise zu sich.

Sie blickte in eine andere Richtung. Mit bewusst tonloser Stimme sagte sie zu ihm: »Ferda. Schaut auf meine rechte Hand und sagt mir, was Ihr dort seht.«

Er beugte sich über die Hand und zuckte hoch. »Blut! Majestät, habt Ihr Euch verletzt? Ich werde die Akolythin holen …«

»Nein, nein, ich bin nicht verletzt. Ich wollte nur wissen, ob … Ihr auch seht, was ich sehe. Lasst Euch nicht länger aufhalten.« Sie wischte die Hand an den Decken sauber und hielt ihm den anderen Arm entgegen, damit er ihr aufhelfen konnte. Einen Augenblick später setzte sie leise hinzu: »Erzählt keinem davon.«

Verständnislos schürzte er die Lippen, salutierte und ging weiter.

Der zweite Abschnitt ihres Rittes war sehr viel kürzer, als Ista erwartet hatte. Es ging nur noch ungefähr fünf Meilen über den nächsten Hügelkamm und zu einem Flusslauf hinunter. Die Straße beschrieb mehrere scharfe Kehren und wand sich einen steilen Hang hinab, und dann neben dem kleinen Fluss entlang zu führen. Arhys ritt neben dem Zug vor und zurück, lenkte sein Pferd schließlich aber doch neben Ista und Ferda. »Schaut, dort!« Mit einer überschwänglichen Geste deutete er nach vorn. »Burg Porifors.«

Ein weiteres befestigtes Dorf, viel größer als die vorherige Ansiedlung, schmiegte sich hier am Fuße einer hohen, zerklüfteten Felsnase an den Fluss. Entlang des Scheitels dieser Felsnase ragte eine Ansammlung unregelmäßig großer, viereckiger Mauerstücke, die hier und da mit runden Türmchen durchsetzt waren, drohend über dem Tal auf. Die glatten Wälle — mit Schießscharten und Zinnen gespickt —, bestanden aus sorgfältig gehauenen Steinen, die im einschmeichelnden Licht glänzten wie lauteres Gold. Andere Steine zeigten ein leuchtendes Weiß; sie führten in breiten Streifen rings um die Mauern herum und waren mit kunstvollen Reliefs aus ineinander verschlungenen Rankenmustern verziert — eine erlesene Steinmetzarbeit der Roknari, die erkennen ließ, dass das Bauwerk vor mehreren Generationen errichtet worden war, um Jokona vor Chalion und Ibra zu schützen.

Arhys ließ den Anblick auf sich wirken. Sein aufwärts gewandtes Gesicht zeigte einen seltsamen Ausdruck: Begierde und Anspannung, Sehnsucht und Zögern zur gleichen Zeit. Und für einen winzigen Augenblick wirkte er müde jenseits aller Vorstellungskraft. Dann aber wandte er sich mit einem Lächeln an Ista. »Kommt, Majestät! Wir sind fast da.«

Sie ließen einen weiteren Teil des Trosses und die meisten Soldaten im Dorf zurück. Arhys führte seine verbleibende Truppe sowie Ferdas Männer an den unbedeutenderen Befestigungen des Ortes vorüber und einen schmalen Pfad hinauf. Im Gänsemarsch ging es über Kehren den Steilhang hinauf. Grüne Büsche klammerten sich in Schwindel erregender Weise an den Felsen fest; ihre Wurzeln glichen zupackenden Fingern. Die Pferde mühten sich den letzten, atemlosen Abhang empor. Grüßende Rufe erklangen von oben und hallten zwischen den Felsen wider. Mit derselben Leichtigkeit hätte man aber auch Pfeile und Steine auf sie herabregnen lassen können, wären sie Angreifer gewesen.

Die Kavalkade umrundete die Mauern und hielt auf eine Zugbrücke zu, die einen tiefen, natürlichen Felsspalt überspannte, der unter dem Sockel der Wälle noch etwa zwanzig Fuß weiter abfiel. Arhys ritt inzwischen an der Spitze des Zuges. Vor den Toren winkte er und stieß einen Triumphschrei aus. Er trieb sein Pferd an und galoppierte unter dem Torbogen hindurch, wobei die Hufe seines Pferdes gleichsam einen Trommelwirbel schlugen.

Ista folgte ihm in weniger halsbrecherischem Tempo und fand sich plötzlich in einer Umgebung wieder, die wie eine andere Welt wirkte, wie ein verwilderter Garten. Der rechteckige Vorhof war von riesigen Kübeln gesäumt, in denen blühende Blumen und üppige Sträucher wuchsen. Eine Wand war vollständig mit weiteren Töpfen bedeckt, die an Ringen befestigt waren, die man in die Fugen der Mauer getrieben hatte. Farbkaskaden ergossen sich von dort über die hellen Steine — lila, weiß, rot, blau, rosa — und vermischten sich mit den wuchernden grünen Ranken. Eine andere Mauer bot den Hintergrund für einen Aprikosenbaum, der zu gewaltiger Größe herangewachsen war und seine Zweige mit denen eines ebenso alten Mandelbaumes verflocht. Beide standen in voller Blüte. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes ruhte ein Balkon auf einer Arkade aus eleganten Steinsäulen. Ein Treppenaufgang mit zierlichen Schnitzereien senkte sich von dort wie ein Wasserfall aus weißem Alabaster in den Hof hinab.

Eine hoch gewachsene junge Frau flog förmlich diese Stufen hinunter. Ihr Antlitz strahlte vor Freude, und ihre Züge waren wie Elfenbein, mit einem Hauch von Rosa, umrahmt von schwarzem Haar, das auf dem Scheitel geflochten, hinten jedoch offen war; sanft gewellt wie fließende Seide lag es über ihren Schultern. Leichte Leinengewänder betonten die Anmut ihres schlanken Körpers, und eine blassgrüne Seidenrobe mit goldgesäumten Ärmeln umwehte sie und bauschte sich wie ein Segel, als sie zu den Ankömmlingen eilte. Arhys schwang sich von seinem gescheckten Pferd und warf einem Stallburschen die Zügel zu — gerade noch rechtzeitig, um den heftigen Ansturm der Frau mit offenen Armen aufzufangen und ihre Umarmung zu erwidern.

»Arhys! Arhys! Die fünf Götter seien gelobt, du bist unversehrt zurück!«

Der junge Soldat war wieder vor Istas Pferd aufgetaucht und stand bereit, ihr beim Absteigen zu helfen. Nun aber wandte er den Kopf und verfolgte das Schauspiel mit unverhohlenem, wenn auch wohl wollendem Neid in den Augen.

»Eine erstaunlich liebreizende junge Dame«, stellte Ista fest. »Ich wusste gar nicht, dass Lord Arhys eine Tochter hat.«

Der Soldat löste sich von dem Anblick und schaute wieder zu Ista; dann kam er rasch herbei und hielt ihr die Steigbügel. »Oh, die Tochter meines Herrn lebt gar nicht hier, Majestät …«

Sie war gerade abgestiegen und stand kaum auf den Füßen, als Arhys auch schon herankam, die junge Frau am Arm.

»Königin Ista«, sagte er, atemlos vor Stolz und nach einem langen Kuss. »Gewährt mir die Ehre und das Vergnügen, Euch meine Gemahlin vorzustellen, Cattilara dy Lutez, Gräfin von Porifors.«

Die schwarzhaarige junge Frau machte einen Hofknicks von vollendeter Anmut. »Majestät, mein Heim ist über alle Maßen geehrt durch Eure Anwesenheit. Ich hoffe, ich kann Euren Aufenthalt bei meinem Herrn Gemahl und mir zu einem unvergesslichen Vergnügen werden lassen.«

»Davon bin ich überzeugt. Die fünf Götter mögen Euch segnen, Lady dy Porifors«, brachte Ista erstickt hervor.

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